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Selbst Tananareve hielt Schritt und setzte mit grimmiger Entschlossenheit einen Fuß vor den anderen. Nicht so Mayra. Seit der letzten Schlafpause kam sie immer langsamer voran, tiefe Linien durchzogen ihre Stirn, und oft deuteten Bewegungen ihrer Lippen auf einen inneren Dialog hin. Der Verlust ihres Mannes bereitete ihr tiefen Schmerz und beeinträchtigte ihre Moral, vermutete Beth.

Daran musste sie in erster Linie denken, an die Moral der Gruppe, ihren Durchhaltewillen. Es kam darauf an, dass sie nicht den Mut verloren. »Führung« hatte man diese Denkweise während der Ausbildung genant. Jedes Besatzungsmitglied der SunSeeker musste in der Lage sein, die Führung zu übernehmen, wenn die Umstände es verlangten. Mit anderen Worten: Jeder von ihnen musste imstande sein, den aktuellen Anführer zu ersetzen, wenn der getötet oder schwer verletzt wurde.

Beth ging langsamer und beobachtete, wie Lau Pin plötzlich mit energischen Schritten im Dickicht verschwand. Sie biss sich auf die Lippe und widerstand der Versuchung, nach ihm zu rufen – sie waren auf der Flucht und mussten leise sein.

Plötzlich wimmerte Mayra und sank inmitten der dichten Vegetation zu Boden.

Beth sah Lau Pin hinterher und berührte die junge Frau dann an der Schulter. »Mayra …«

»Er ist tot, und wofür? Wir laufen einfach nur weg. In dieser niedrigen Schwerkraft droht uns ohnehin allen der Tod wegen Knochenschwund!« Sie spuckte die Worte regelrecht aus.

»Ach, Mayra, es tut mir so leid.« Beth wusste, dass Mayra Gelegenheit brauchte, die Gefühle aus sich herauszulassen. Darum ging es hier vor allem, um Emotionen, nicht um Fragen der Gesundheit. Was die Schwerkraft betraf … In diesem Gebiet betrug sie etwa 0,3 g, und das war nicht zu schlimm, solange sie hier nicht Monate verbrachten.

»Was ist dies alles wert?«, brachte Mayra hervor. »Welches Ziel haben wir?«

»Wir mussten fliehen«, erwiderte Beth sanft. »Darin waren wir uns einig. Abduss war ein tapferer Mann. Er hat sich für uns geopfert, und sein Opfer wäre sinnlos, wenn wir nicht versuchen, das Beste daraus zu machen.« Beth klopfte ihr auf den Arm und fühlte sich solchem Kummer gegenüber hilflos.

Mayra nickte, während ihr Tränen über die Wangen strömten. »Er war so …«

»Ich weiß.« Eigentlich gab es nicht mehr zu sagen. Anteilnahme schien sinnlos zu sein, aber gleichzeitig kam ihr große Bedeutung zu, denn wenn sich die trauernde Person allein fühlte, wurde alles noch schlimmer. »Es tut mir leid.«

Sie erinnerte sich an ihre eigenen Empfindungen, als sie auf den vom Arachno zerquetschten und zerfetzten Leichnam hinabgesehen hatte, auf die Reste eines Mannes, der gar nicht mehr als Abduss zu erkennen gewesen war. Beth hatte geschluckt und es irgendwie geschafft, nicht zu erbrechen. Jede Begegnung mit dem Tod setzte sich irgendwie in ihrem Gedächtnis fest, aber diese würde sie bestimmt nicht vergessen.

Bei der Erinnerung an Abduss’ schreckliches Ende fragte sie sich, ob Cliff bisher überlebt hatte. Sie schob diesen Gedanken beiseite, nahm neben Mayra Platz und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Mir tut es ebenfalls leid, Mayra.« Fred sprach langsam und ruhig. Nach einer kurzen Pause deutete er zum Horizont. »Wohin wir auch gehen, wir sollten bei dem Höhenzug dort bleiben.«

Das überraschte Beth. Manchmal gab Fred einen ganzen Tag keinen Ton von sich. Wenn er einmal sprach, hörten ihm die anderen aufmerksam zu, weil es so selten geschah.

Lau Pin kehrte zurück und hörte Freds Worte. »Davon rate ich ab«, sagte er. »Auf dem Höhenzug könnte man uns schon von Weitem sehen.«

»Ich meine nicht auf ihm«, erwiderte Fred. »Wir sollten in seiner Nähe bleiben. Mit seiner Hilfe können wir uns besser orientieren.« Er gestikulierte. »Als uns die Vogel-Leute hierherbrachten … Wisst ihr noch, dass wir einige blasenförmige Gebäude gesehen haben? Dann kam der Höhenzug, über dreißig oder vierzig Kilometer hinweg. Denkt daran, dass der Boden – Erde und Gestein – nur wenige Meter dick ist. Darunter befinden sich die Strukturelemente der Schale, und der Höhenzug könnte ein wichtiges Element darstellen. Wenn man hier etwas baut, so verankert man die wichtigen Dinge an tragenden Teilen …« Er unterstrich seine Worte mit einer weiteren Geste.

Beth nickte und hoffte, dass sie dies von Mayras Kummer ablenken würde. Gegen ihre Trauer half nur Zeit. »Wir folgen dem Verlauf des Höhenzugs, einverstanden. Wir bleiben auf der einen Seite und halten uns von Arachnos fern.«

Fred nickte ebenfalls, und Beth fuhr fort: »Wir wissen bereits, was wir essen können und was nicht. Das Fleisch braten wir mit den Lasern, damit uns kein Feuer verrät. Leute, wir müssen in erster Linie daran denken, nicht erwischt zu werden. Hören wir auf damit, einfach durchs Dickicht zu trampeln, ohne auf die Spuren zu achten, die wir dabei hinterlassen. Was haltet ihr davon, wenn wir den Weg von Baumwipfel zu Baumwipfel fortsetzen? Das ist zwar schwerer, aber nicht unmöglich.«

Lau Pin runzelte die Stirn. »Eine gefährliche Sache. Und wir kämen langsamer voran.«

»Aber wir hinterlassen keine Spuren«, sagte Mayra, die ihren Kummer zumindest vorübergehend zu vergessen schien. »Wie viel Arachno-Seil haben wir noch? Lau Pin?«

»Ich habe Abduss’ Seil genommen«, sagte Lau Pin und deutete auf die Stricke, die er sich um den Leib geschlungen hatte.

Beth begriff: Sie half Mayra am besten, indem sie sie mit der Notwendigkeit konfrontierte, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Das brachte sie zurück in die Gruppe.

»Ich glaube, Beth hat recht«, ließ sich Tananareve vernehmen. »Außerdem ist es nicht weit bis zum Höhenzug. Und wenn wir dort sind, Fred … Welches Ziel setzen wir uns dann?«

»Bei den blasenförmigen Gebäuden befand sich eine Art Raumhafen«, warf Lau Pin ein. »Ich habe es nicht genau erkennen können, dazu war ich zu benommen. Aber es muss ein Raumhafen gewesen sein, nicht wahr? Und ich erinnere mich an Lagergebäude und so weiter.«

»Vielleicht hast du recht.« Mayra atmete tief durch und schien zu emotionaler Stabilität zurückzufinden. »Aber vielleicht wird man genau dort nach uns suchen.«

»Ja, ja«, sagte Fred. »Aber wenn wir dem Höhenzug in die andere Richtung folgen, finden wir etwas Wichtiges.«

»Was denn?«, fragte Tananareve.

»Sagen wir: etwas, das einen stabilen Anker erfordert.«

»Na schön. Und wo befindet sich der Höhenzug?«

Sie sahen sich an. Beth dachte nach, holte tief Luft und sagte: »Wir müssen hochklettern.«

Vom Wipfel eines Flechtenbaums sahen sie den Höhenzug einige Kilometer entfernt – sie befanden sich am Rand seines langen Hangs. Der Weg von Wipfel zu Wipfel war mehr ein Schwimmen als ein Klettern. Die niedrige Schwerkraft half und verlieh ihren Bewegungen eine zeitlupenartige Eleganz, als sie von Ast zu Ast sprangen.

Beth konnte über gewaltige Entfernungen hinweg sehen – im Gegensatz zur Erde war die Landschaft konkav. Ferne Dinge ragten empor und wurden sichtbar. Der Höhenrücken war recht auffällig: eine Ansammlung von Felsen, vier oder fünf Kilometer entfernt. Darüber leuchtete wie immer die rote Sonne, von der ein gleißender Jet ausging, erst weiß, dort, wo seine Temperaturen am höchsten waren, dann rot, als er zur Schale hin abkühlte. Beth beobachtete, wie sich einzelne Plasmastränge bewegten, wie Schlangen aus Feuer, die zu langsamer Musik tanzten.

Kurz vor dem Höhenzug verharrten sie, um noch einmal alles zu besprechen.

»Der Raumhafen«, sagte Beth. »Wir müssen in eine Zone mit normaler Gravitation zurückkehren. Wie steht es mit unserer Orientierung? Fred, wo befinden sich die blasenförmigen Gebäude?«

Fred sah sich um und deutete nach links.

»Das müsste die richtige Richtung sein«, sagte er.

Tananareve sah durch ihren Feldstecher. »Seht ihr das, Leute? Wie schwarzer Schaum. Auf der linken Seite, wie Lau Pin gesagt hat.«

Sie hielten Ausschau. Der Höhenzug wurde immer kleiner und kleiner, und dann kam eine ganze Weile nichts …

»Der Raumhafen«, entschied Beth mit fester Stimme. »Wenn wir doch nur weniger auffallen würden. Hier sind wir alles andere als verborgen.« Sie duckte sich plötzlich, als ein großer, entenartiger Vogel dicht über sie hinwegflog und mit einem lauten, furchtlosen Krächzen zurückkehrte.

»Könnte eine Mahlzeit für uns sein«, sagte Fred.

Lau Pin lachte. »Solche Vögel können uns auch in anderer Hinsicht nützlich sein. Wenn genug von ihnen fliegen, täuschen ihre infraroten Signaturen über unsere hinweg. Und wenn wir einige von ihnen erlegen, können wir uns mit ihren Federn tarnen.«

Der Raumhafen bedeutete vermutlich die Präsenz von Vehikeln, die es ermöglichten, eine Region mit höherer Schwerkraft zu erreichen. Was bedeutete: Der Raumhafen war ein geeignetes Ziel.

Das Fleisch der Entenvögel schmeckte ein wenig wie Löwe, fand Beth. Sie hatte einmal Löwenfleisch in einem Themenrestaurant gegessen, vor gar nicht allzu langer Zeit nach ihrer eigenen, subjektiven Wahrnehmung. In Wirklichkeit jedoch waren Jahrhunderte vergangen, und all die Menschen, die sie gekannt hatte, Verwandte und Freunde, waren lange tot.

Beth versuchte, nicht daran zu denken und sich auf das Essen zu konzentrieren. Von den getöteten Tieren aßen sie immer so viel wie möglich und brachen sogar die Knochen auf, um das Mark herauszusaugen – sie wussten nie, wie lange es bis zur nächsten Mahlzeit dauerte. Es gelang ihnen, vier der Entenvögel zu fangen, bevor die anderen Verdacht schöpften und sicheren Abstand wahrten. Anschließend mussten sie immer wieder in den Wald zurückkehren, um Früchte zu sammeln und Wild zu erlegen. Wasser fanden sie in den Mulden großer Blätter. Es stellte sich als überraschend leicht heraus, von den Bäumen aus auf Tiere zu schießen – offenbar rechneten sie nicht mit Gefahren von oben.

Beth und die anderen schmückten sich mit den dunklen Federn der Entenvögel und schmunzelten wie bei einer Maskerade. Weite Sprünge brachten sie von einem Baumwipfel zum nächsten, und dabei kamen sie sich vor wie Eichhörnchen. Mit den Arachno-Seilen sicherten sie sich ab für den Fall, dass jemand von ihnen den Halt verlor und fiel.

Links von ihnen knackte es plötzlich, und Zweige gerieten in Bewegung, ohne dass Wind wehte. Lau Pin verharrte und winkte die anderen zurück. Fred griff nicht nach seiner Waffe, sondern nach dem Kommunikator, der auch als Kamera fungieren konnte. Einige lange Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Dann schickte Tananareve einen Laserstrahl von geringer Energiestärke dorthin, wo die Blätter raschelten.

Zweige fielen und zappelten auf dem langen Weg nach unten. Zweige? »Baumkraken«, sagte Lau Pin. »So sehen die Biester aus.«

»Wie zwei kopulierende Schlangen«, kommentierte Mayra.

»Nicht nur zwei, sondern ein ganzer Haufen«, fügte Beth hinzu.

Fred sah sich die aufgezeichneten Bilder an. »Schlangen mit zwei oder drei Schwänzen«, sagte er. »Sehr seltsam.« Er zeigte seinen Kommunikator den anderen. »Seht ihr? Schwänze mit … Fingernägeln oder … Rasseln wie bei Klapperschlangen. Jetzt halten sie sich dort unten an niedrigen Zweigen fest.«

Sie blickten in die Tiefe.

»Sollen wir nach unten klettern und uns die Geschöpfe aus der Nähe ansehen?«, fragte Lau Pin.

Fred setzte sich in Bewegung, ohne eine Entscheidung der Gruppe abzuwarten.

»Fred!«, rief Beth. »Wir müssen weiter!«

»Ich sehe etwas.«

»Die Tiere könnten gefährlich sein!«

Fred antwortete nicht. Mayra filmte ihn, bis er außer Sicht geriet.

Wenige Momente später kletterte er wieder nach oben, mit etwas in der Größe eines Kissens und in der Form einer Wurst.

»Das haben sie fallen lassen«, sagte Fred, als er die anderen erreichte. »Seht nur, es ist etwa so breit wie sie, dreißig Zentimeter lang und schlangenförmig. An der einen Seite weist es Streifen auf und …«

»Zieh nicht daran!«, warnte Lau Pin.

Ratsch. »Ein Klettverschluss.«

Beth sah sich das Innere des Objekts an. Es enthielt: ein Stück rotes Fleisch in Tuch gewickelt, ein Messer mit einem sonderbaren Griff und ein Werkzeug mit einer Taste – vielleicht eine Lampe oder eine Art Kommunikator? Durften sie wagen, das Gerät einzuschalten?

»Wir sollten den Weg fortsetzen, Leute«, drängte Tananareve. Beth stimmte ihr zu. Sie stießen sich von den Ästen ab und flogen wieder von Wipfel zu Wipfel. Das Objekt hing an Freds Hüfte.