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Wenn das Herz groß genug ist, dachte Memor, und wenn es genug Platz hat, um die Widersacher aufzunehmen, dann kann Weisheit ins Spiel kommen. Dann kann man ihre Transparenz sehen, ihre Angriffe verhindern oder ihnen ausweichen. Und wenn man sie ins Herz aufnimmt, ist man in der Lage, sie auf dem Weg zu führen, den einem die eigene Weisheit gezeigt hat.
Er schüttelte sich. Diese Erkenntnis stammte aus einem neuen Teil von ihm, dem ruhelosen Teil seines Bewusstseins, das bald ihr Bewusstsein sein würde. Denn für Memor hatte die fiebrige Phase der Veränderung begonnen.
Nicht unbedingt die beste Zeit für die Konfrontation mit einer Krise, wie es sie seit acht hoch zwei Generationen nicht mehr gegeben hatte. Lebensformung sollte in Zeiten des Friedens vollbracht werden, aber Memors Schicksal sah etwas anderes vor. In einigen wenigen Zyklen würde er weiblich sein, doch er hatte noch nicht den männlichen Sinn für Weite und Freude verloren, den Tanz. Er konnte sogar das Schäumen des Früchte tragenden Wandels in sich riechen. Hormone tobten; Moleküle kämpften in seinem Blutkreislauf um Vorherrschaft. Fieberschübe kamen wie chemische Meldungen von einem Schlachtfeld. Diese Veränderungen waren von den Gründern und den nachfolgenden Generationen geplant worden und inzwischen Äonen alt. Memor erkannte seine heftigen Stimmungsschwankungen und das Zittern als notwendigen Preis für den Erwerb größerer Weisheit. Trotzdem blieb es eine schwere Last gerade in Krisenzeiten.
»Ordnung senkt sich herab!«, rief der Präfekt im uralten Ton für die Versammlung der Astronomen.
»Ordnung obsiegt«, kam die Antwort, als sie ihre Ruheplätze unter der großen Kuppel einnahmen.
Memor ließ die Details der nachfolgenden Diskussionen über sich hinwegstreichen. Sein Körper blieb unbewegt, während sein innerer Geist voller Sorge über die vagabundierenden Impulse in seinem sich verändernden Selbst nachdachte. Selbst der normalerweise gelassene und abgeklärte Untergeist zeigte nun eine von Winden des Ärgers und der Gereiztheit gekräuselte Oberfläche. Wellen des Unbehagens durchzogen ihn.
Die technischen Zusammenfassungen, die er hörte, kannte er bereits. Ein Raumschiff von geradezu verwegen simpler Konstruktion hatte sich von hinten genähert. Die rückwärtigen Beobachtungselemente hatten gesehen, wie es sich drehte und herankam, obwohl die Schale nicht sein ursprüngliches Ziel gewesen war. Wollte es vielleicht zu dem Stern voraus, zu dem Sonnensystem, aus dem die Gravitationswellen kamen?
Das aus Astronomen bestehende Publikum murmelte. Spekulationen führten zu aufgeregtem Geschnatter. Bei der Überwachung des Schiffes waren mehrere Signalfolgen in die Richtung festgestellt worden, aus der das fremde Schiff kam. Satelliten, die der Schale folgten, hatten sie aufgefangen, doch bei den gründlichen Analysen der Linguisten ergaben sich nur einige Hinweise auf Grammatik und kontextbezogene Konstruktionen. Die Sprache deutete auf einen nicht sonderlich bemerkenswerten Geist hin. Lineare Logik und nur wenige Bedeutungsschichten. Die Fremden schienen wie ihr Schiff zu sein: primitiv, ja, aber auch ambitioniert genug, um sich mit einem so fragilen Gefährt auf eine interstellare Reise zu begeben. Die beratenden Techniker – kleine Wesen, schüchtern in der Nähe der großen Astronomen – wiesen auf sonderbare Merkmale der magnetischen Konfiguration hin und gaben zu verstehen, dass sie das lange, schlanke Schiff gern untersuchen würden. Darauf folgten weitere angeregte Diskussionen.
Das überlieferte Wissen unterstützt die Tänzer, dachte Memor. Was nicht sonderlich überraschte: Geschichten der Veränderung waren immer interessanter als Geschichten des Stillstands. Der Wandel war die Essenz der Geschichte, von den strikten Diktaten der Evolution dem Geist einprogrammiert.
Frühere Astronomen hatten auf viele fremde Schiffe gefeuert, für gewöhnlich mit der Gammalanze. Sie waren an vielen Planeten vorbeigekommen, hatten sie erforscht und dann ignoriert. Was diese Fälle betraf, gab es nicht viele Geschichten. Die Wächter bezogen sich immer wieder auf sie.
Memor streckte sich und versuchte, aufmerksam zu wirken. Wächter waren langweilig und behäbig. Andererseits, Memor war noch immer männlich, und wie alle Tänzer bevorzugte er Vielfalt und Engagement. Weisheit kam später. Die Wächter waren fast alle weiblich.
Memor steckte hier also in der Mitte. Deutlich fühlte er die kommenden Veränderungen, doch er hatte noch nicht die nach außen gerichtete Haltung des männlichen Geschlechts verloren.
Die Versammlung nahm sich viel Zeit, um die gewaltige Bibliothek der Vergangenheit durchzugehen. Memor glitt so durch die alten Aufzeichnungen, als wären sie seine eigenen Abenteuer. Bunt und faszinierend, voller Großtaten – er war davon begeistert.
Die Himmelsschale hielt sich von Sonnen fern. Ihre Masse war zu groß für eine stellare Annäherung und hätte die Bahnen Leben tragender Planeten stören können. Natürlich schickte sie Schiffe. Doch die Astronomen hatten mit ihren Teleskopen immer hervorragende Arbeit geleistet und Einzelheiten über einen Planeten oder Mond herausgefunden, bevor Schiffe vom Rand der Schale starteten und sich auf den Weg ins betreffende Sonnensystem machten. Reisen zu interessanten Planeten dauerten immer Hunderte von Langzyklen, und dafür wurden einer oder mehrere der großen Kreuzer verwendet, ausgestattet mit Landeschiffen und manchmal mit Orbitalleinen.
Memor setzte sich auf, schnaubte und konzentrierte sich auf das, was bisher heruntergeleierte Geschichte gewesen war. Bei einer aufregenden Begebenheit hatte sich die Schale einer schweren Welt genähert, zu massiv für Erkunder und Abenteurer. Das Mutterschiff hatte an einem quasistabilen Punkt unter dem größten Mond geschwebt. Seltsame kantige Schiffe waren wie Funken von der Oberfläche der schweren Welt aufgestiegen, angetrieben von Raketen. Einfache Technik. Hier gab es keine Orbitalleinen. Auf diese Weise hatten die Fingerschlangen sie erreicht – eine sehr schlaue Spezies.
Es folgten Hunderte von Langzyklen der Verhandlungen und gegenseitigen Beobachtung. Die kleinen Fingerschlangen nutzten den Dialog für geringfügige Verbesserungen ihrer Technologie, nichts, das eine Gefahr für die Schale darstellen könnte. Und natürlich gab es kaum etwas, das die Schale von ihnen lernen konnte.
Dann gelangten 256 Fingerschlangen an Bord des Mutterschiffs zur Schale. Die kleine Kolonie brauchte keine Hilfe bei der Integration. Die Geschöpfe waren geschickter als die meisten Angehörigen des Vogel-Volks, gute Werkzeugbenutzer und gewiefte Reparatur-Handwerker. Man sah sie kaum, denn sie lebten im Boden. Sie liebten ihre unterirdischen Nester, und es beeindruckte Memor, dass solche Geschöpfe Raumfahrt entwickelt hatten.
Die vergangenen Zeitalter waren voll von Lektionen und nützlichen Lehren. Die Vergangenheit scrollte weiterhin durch Memors Bewusstsein. Um ihn herum schnauften und brummten die Astronomen, als auch sie die tiefen Sphären kennenlernten. Eine Ältere schnarchte, und aus Respekt ließ man sie schlafen.
Hier hatte eine räuberische Spezies die Forschungsschiffe der Astronomen angegriffen, woraufhin sich die Astronomen zurückzogen. Die Verteidigungseinrichtungen der Schale erwiesen sich als adäquat, und sie setzten die Reise fort, außerhalb der Reichweite der Angreifer. Einigen von ihnen gelang die Landung; sie wurden gefangen genommen und so verändert, dass sie fügsam wurden. Es handelte sich um viergliedrige Zweifüßer, und sie waren gute Bauern.
Sil hatten sich jene Fremden genannt, und als Plünderer waren sie gekommen. Sie hatten die Schale als Hightech-Zivilisation erkannt und wollten ihre Geheimnisse stehlen. Die erste Zeit der Gefangenschaft war sehr turbulent gewesen, doch nach und nach erzielte die Umerziehung Wirkung. Die Sil waren sehr agile Geschöpfe und inzwischen unentbehrlich. Raumanzüge gestatteten es ihnen, an der Unterseite der Schale zu arbeiten. Aber selbst jetzt, nach zwölf Millionen Langzyklen, war ihre Fügsamkeit noch nicht absolut zuverlässig.
Memor setzte seinen gedanklichen Weg durch die Geschichten fort. Bilder umgaben ihn. Die Stimmen seit Langem toter Individuen erzählten von alten Triumphen.
Hier war ein Gasplanet die Heimat lebender Luftschiffe. Sonden sammelten genug Jungballons für eine stabile Population ein. Sie vermehrten sich im Flug, berührten nur selten den Boden. Die tiefe Atmosphäre der Schale gab ihnen reichlich Lebensraum. Die Bioingenieure veränderten ihre Gene, sodass sie fügsamer und kräftiger wurden. Eine Million Langzyklen später waren sie integraler, unverzichtbarer Bestandteil der Schalenzivilisation. Zu fliegen, ohne dass Treibstoff dafür benötigt wurde … Es war ein großes Vergnügen, und alle Angehörigen des Meistervolks konnten sich daran erfreuen.
Memor wandelte durch die Annalen der Geschichte und kämpfte dabei die ganze Zeit gegen sein Zittern und das Fieber. Ist es dies alles wert, weiblich zu werden? Er wusste: In dieser Phase der Unruhe war sein Urteilsvermögen beeinträchtigt. Er konzentrierte sich und trennte den Geist vom Körper. Sein entblößter Untergeist kümmerte sich um die Schmerzen und das Fieber, unterhalb des Bewusstseins, das auf die Geschichten fokussiert blieb.
Hier hatten es fremde Besucher nicht geschafft, sich an die neue Station in ihrem Leben anzupassen. Auch genetische Manipulationen hatten nicht weitergeholfen. Doch eine andere Spezies von ihrem Heimatplaneten war zu den Skreekors geworden, einer ebenso nützlichen wie schmackhaften Beute-Lebensform, die Genießer roh schätzten. Memor hatte plötzlich großen Appetit auf einen – sein Magen grollte, als er beobachtete, wie Skreekors gejagt, erlegt und verspeist wurden.
Es folgten weitere Geschichten über erfolgreiche Veränderungen bis hin zur gegenwärtigen ökologischen und politischen Balance. Die Schale war ein lebendes Etwas, kein statisches Werkzeug. Und zum ersten Mal seit einer Million Langzyklen erhielt sie nun erneut Besuch. Das fremde Schiff mit der Gammalanze zu vernichten war zwar möglich, aber nicht leicht; es erforderte den geschickten Umgang mit gewaltigen Energien. Doch es gab Präzedenzfälle; die Lanze war schon mehrmals eingesetzt worden.
»Die Gammalanze ist vorbereitet«, sagte eine ranghohe Weibliche und deutete zu den Bildern. Das fremde Raumschiff schien in den Jet fliegen zu wollen. Dumm!, kommentierte die Weibliche.
Memor erhob sich auf zitternden Beinen und erhob Einwände. Würden wir nicht alle einen großen Verlust erleiden? Ein interstellares Schiff mit ungewöhnlichem Konstruktionsmuster, das Kühnheit verriet. Es versprach neue Gedankenmuster. Überraschungen. Abenteuer! Memor setzte sich, und andere sangen ihre wetteifernden Lieder. Weitere Diskussionen folgten.
Memor versuchte, ihnen zu folgen, ohne zu erkennen zu geben, wie sehr er mit seinem inneren Selbst rang. Sonderbare Emotionen zogen durch sein Bewusstsein, vermischten sich mit den alten Aufzeichnungen und schufen seltsame Gedankensymphonien. Veränderung bedeutete Aktion, und Aktion bedeutete Elan, Begeisterung. Wächter wachten über die Balance der Schale, doch Tänzer kannten die besten Lieder. Natürlich hatte es Zeiten gegeben, zu denen fremde Besucher einfach vernichtet worden waren, aber wo lag darin das Interessante und Aufregende?
Vielleicht maßen Memor und seinesgleichen den Geschichten der Veränderung und des Fortschritts zu viel Bedeutung bei.
Die Zeit würde es lehren. Aber einstweilen war Memor ein Tänzer; daran ließ sich nichts ändern.
Der innere Kampf und das Fieber lenkten ihn so sehr ab, dass er es fast nicht bemerkt hätte – die Tänzer übernahmen die Führung bei der Diskussion. Erst als ein Freund ihn anstieß und herzlich gratulierte, begriff Memor, dass man ihn zum Meister der Aufgabe ernannt hatte – er sollte sich um die fremden Besucher kümmern, wenn sie eine Landung wagten.
»Warum?«, fragte er einen Wächter, mit dem er befreundet war.
»Weil du einfallsreich bist. Und außerdem hast du auch Feinde.«
»Meine Feinde würden …«
»Sie hoffen, dass du deiner Aufgabe nicht gerecht wirst, ja.«
Memor zögerte, beschloss dann aber, Aufgabe und Verantwortung zu akzeptieren. Er richtete sich ganz auf und brüllte einen herzhaften männlichen Dank an alle. Lasst sie kommen!