Die A94 führt von München aus Richtung Osten und endet kurz nach Forstinning. Als B12 führt ihre Verlängerung durch eine malerische Gegend aus Hügeln, Wiesen, Maisfeldern, ein paar Wäldern und kleineren und größeren Orten.
Von Haag aus fährt man über Ampfing eine gute halbe Stunde nach Mühldorf, das sich über eine Innschleife zieht. Folgt man der Staatsstraße 2092 von Mühldorf aus Richtung Süden und biegt nach etwa 15 Minuten Fahrzeit wieder nach Osten ab, dann befindet man sich richtig auf dem Land.
Und zwar in Weil.
Weil ist klein und überschaubar.
Jeder kennt jeden, man duzt sich, egal, ob beim Metzger Harlander, beim Bäcker Pallinger oder beim Doktor Lechner. Sogar bei der Polizei. Obwohl manche Junge eine Ausnahme machen beim Ersten Polizeihauptkommissar Josef Brunner. Aber der EPHK Brunner natürlich nicht bei den Jungen. Der Brunner ist ja eigentlich ein ganz ein umgänglicher Kerl, aber wenn das Wetter umschlägt, dann schlägt auch dem Brunner seine Laune um. Wegen seiner Migräne. Und dann genießt man ihn besser mit Vorsicht.
Die Katharina macht an ihrem ersten Tag bei der Polizei in Weil natürlich gleich die Bekanntschaft mit dem Brunner seiner Migränelaune.
Nicht, dass sie seine Launen nicht schon seit ihren Kindertagen kennen würde. Ihr Vater ist sein bester Freund gewesen, schon in der Dorfschule in Weil, die jetzt Grundschule heißt, und in der Polizeischule und all die Jahre im Polizeidienst. Als der Berger seinen Herzinfarkt erlitten hat, da hat der Brunner ihn eigenhändig mit dem Einsatzwagen nach Mühldorf ins Krankenhaus gefahren. Und als der Berger dann dort nicht mehr herausgekommen ist, hat der Brunner sich um die ganzen Formalitäten gekümmert. Zwanzig Jahre ist das her. Die Katharina war noch keine achtzehn damals, und der Brunner hat für ihre letzten minderjährigen Monate die Vormundschaft übernommen. Eine Verwandtschaft hat die Katharina nämlich nicht mehr gehabt.
Da könnte man jetzt also erwarten, dass der Brunner sich ein bisschen zusammenreißt an der Berger Kathi ihrem ersten Arbeitstag.
Aber als die Katharina um acht Uhr zur Arbeit in der Polizeidienststelle eintrifft, sieht sie nur, wie er mit hochrotem Kopf aus dem Büro rausrennt und noch zurückschreit: »Ihr kennts mi gernham, machts eiern Scheißdreck doch alloa!« Und zu seinen Schuhen sagt er noch: »Was glaubts ihr eigentlich, wer i bin?!«
Da hat sich die Katharina auch nicht mehr getraut, dem Brunner einen guten Morgen zu wünschen, weil ein guter Morgen sieht anders aus.
Außerdem war der Brunner auch schon weiter.
Ihr ist also nichts anderes übrig geblieben, als an die halb offene Bürotüre zu klopfen und diejenigen zu begrüßen, von denen sich der Brunner gerade mit seiner Migränelaune verabschiedet hat.
»Guten Morgen. Ich bin die Katharina Berger, ich fang heut bei euch an.«
»Griaß di, i bin der Hansi.« Ein Polizist, der ausgesehen hat, als wäre er in seiner Uniform geboren worden, so perfekt haben ihm die Beige- und Sandtöne gestanden. Das war der Oettl Hansi.
»Servus, i bin die Anni.« Die Anni hat ein halbes Lächeln zustande gebracht, obwohl sie doch gerade von ihrem Vorgesetzten so niedergebügelt worden ist.
Die Fischhaber Anni, das war eine ganz eine Hübsche. Noch recht jung, Mitte zwanzig etwa, und einen Kurzhaarschnitt hat sie gehabt. Braune Haare. Und wie sie so dasteht, erinnert sie die Katharina an jemanden. Aber die Katharina kommt nicht drauf, an wen.
Das war meistens so bei ihr, das war so was wie ihr Bauchgefühl. Und erst, wenn sie sich wieder mit etwas vollkommen anderem beschäftigt hat, Stunden oder Tage oder Wochen später, ist es ihr dann wie Schuppen von den Augen gefallen und ihr eingefallen.
»Stimmt, der Brunner hat ja gsagt, dass du heit zum erstn Moi kimmst«, hat die Anni jetzt gesagt, während sie nebenbei ein paar Schriftstücke aufeinandergelegt und so hin und her geschoben hat.
Der Hansi hat der Katharina dann doch noch die Hand geschüttelt, wie es sich gehört. »Willkommen im Club, wia ma so sagt.«
Und dann war erst einmal Schweigen.
Der Brunner war ja nicht da. Der wäre derjenige gewesen, der jetzt hätte sagen können, was zu tun ist. Hat also die Katharina die Initiative ergriffen.
»Warum war denn der Brunner so zwider eben grad?«, hat sie die beiden jungen Polizisten gefragt.
»Ja mei …«, hat der Hansi angefangen, aber weitergegangen ist sein Satz nicht. Er hat sich seine Haarfransen aus dem Gesicht gestrichen mit so einer Geste, wie das sonst nur die Jugendlichen tun.
Auf Mitte zwanzig hat die Katharina ihn aber doch geschätzt, so wie die Anni. Ein nettes Paar wären die zwei schon gewesen.
Eine Jugendfrisur hat der Hansi also gehabt, einen Haarschnitt, der seit vorletztem Jahr nur noch so vor sich hin gewachsen sein dürfte. Aber bis auf den Haarschnitt, der fast etwas Rebellisches gehabt hat, durch und durch Polizist.
Der Anni ihre Haare waren nur ein kleines bisschen länger, aber eine topmodische Frisur, da kannst du nicht maulen.
Die Katharina hat da nicht mithalten können. Seit Jahren hat sie schon die gleiche Frisur gehabt, nämlich lange blonde Haare. Da gehst du zum Friseur und sagst: Spitzen schneiden. Der Friseur schneidet dir also 15 cm ab. Das macht jeder Friseur so. Spitze heißt in Friseur-Fachsprache nämlich 15 cm. Weniger geht nicht, sonst kann der Friseur die 50 Euro schlecht rechtfertigen. Dafür hält die Frisur dann auch ein ganzes Jahr, also ein recht ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Da hat die Katharina dann immer so ausgesehen wie die Joni Mitchell. Nur ein bisschen brauner. Das ist das Erbe von ihrer Mutter gewesen. Der Katharina ihr Vater: ein ganz ein heller Typ, Haare blond, später grau, aber das merkst du ja bei Blonden nicht gleich, die werden eher so schleichend grau. Und blaue Augen. Ihre Mutter war eine Italienerin, aber nicht so eine Mamma, wie man sich das vorstellt, mehr rein optisch italienisch, also dunkler Typ, und eine ganz eine Hübsche. Deswegen ist sie auch nicht beim Berger geblieben. Da sind halt immer noch ein paar andere Männer im Spiel gewesen. Aber den Hang zum Italienischen hat die Katharina dann doch geerbt, so wie die Haut und die Augen. Und in Italien hat sie auch ihren neuen Freund gefunden, nachdem sie acht Jahre mit einem Kollegen verbracht gehabt hat. Dem Schuster Georg aus München, ein echter Giesinger ist das gewesen. Das heißt, der ist das schon immer noch. Aber die Beziehung: gescheitert. Keine Kinder, kein Gedanke ans Heiraten. Der Georg hat da keine Probleme gehabt. Hast du als Mann um die vierzig ja auch nicht. Aber die Katharina mit Ende dreißig, da denkst du als Frau schon auch einmal an eine eigene Familie.
Und als sie gar nicht mehr drüber nachdenkt, lernt sie in Italien einen Commissario kennen, den Matteo Lucarelli, da vergisst sie recht schnell ihre gescheiterte Beziehung. Das ist schon eine echte Liebe, aber was will man machen? Er lebt in der Toskana und sie in der oberbayerischen Provinz.
Und dann hat sie einen Unfall. Bei einem Einsatz in Italien. Eine Kugel, und zwar leider auch noch eine aus dem Lucarelli seiner Pistole, erwischt sie im Unterbauch. Und das war’s dann mit Familie. Und ihr Gefühl sagt ihr, dass der Matteo sie vielleicht bloß aus Mitleid und schlechtem Gewissen liebt.
Jetzt war sie also achtunddreißig und wieder daheim in der Provinz, und der Matteo 800 km entfernt, und da kannst du telefonieren und mailen, was das Zeug hält. Die Liebe leidet trotzdem.
Er hat ihr noch versprochen, an Weihnachten für eine Woche zu kommen. Aber jetzt war erst Mitte August, und da ist Weihnachten noch weit.
Und dann siehst du so ein hübsches junges Paar wie den Hansi und die Anni und denkst dir, neidisch könnte man werden.
»Migräne hat der Brunner«, ist es dann aus der Anni herausgekommen. »Und außerdem hat der Präside vo Mujdorf ogruafa, des is immer a ganz a schlechts Zeichen.«
»Und um was is’s ganga?«, hat die Katharina im saubersten Oberbairisch nachgehakt.
»Was woaß i?« Die war schon ein bisschen gschnappig, die Anni. Aber im Grunde eine Seele.
Deswegen, und auch, weil sie eigentlich recht gerne geredet hat, hat sie dann doch noch erzählt, was sie so rausgehört hat aus dem Telefonat.
»Es is um a Auto ganga. Oiso eigentlich um mehrere. Es gibt da in Halling so an Autotandler, des glaubst ned, scheißreich is der. ’s Arbeiten hätt der gar ned notwendig. An scheena Hof, hektarweise Grund, a riesen Werkstatt. Ojs g’erbt. Weil, entweder erbst was, oder du bscheißt, anderst werst ned reich. Mei Meinung. Oder du machst hoit ojs zwoa. Aber i hab nix gsagt …«
Aber dann hat die Anni doch noch jede Menge gesagt.
Dass der Autotandler einen Kunden hat, der seine Jaguars immer zu ihm bringt, weil der Tandler ein Spezialist für diese englischen Karren ist. Für die braucht man nämlich ein ganz ein anderes Werkzeug als für die gewöhnlichen Wagen, wegen Zoll und Inch und Zentimeter. Seit vier Wochen hat der Tandler nichts mehr gehört von seinem finanzstärksten Kunden, so was macht natürlich nervös. Und wie der Präside von Mühldorf seinen alten BMW zum Tandler rausbringt, da erzählt der Tandler ihm von den drei Jaguars, die seit Wochen bei ihm am Hof stehen, und von dem Kunden, den er einfach nicht mehr daglangt. Und weil Halling zum Inspektionsbereich Weil gehört, ruft der Präside den Brunner heute an, er soll die Angelegenheit mit der chronisch unterbeschäftigten Weiler Polizeidienststelle klären, aber der Brunner mag den Tandler nicht, der hat ihn seiner Ansicht nach einmal beschissen, irgendwas mit einem Auto. Den Präside mag er auch nicht, weil der sich immer so aufmandelt. Deswegen delegiert der Brunner den Auftrag gleich: Die Anni und der Hansi sollen rauffahren zum Tandler. Der Hansi mag den Tandler aber auch nicht, weil seine Mama den nicht mag, und deshalb weigert er sich. Und weil das für den Brunner schwer nach Faulheit und Ausrede klingt, wird er so zwider.
Ungefähr das hat die Anni erzählt, ohne Punkt und Komma.
Jetzt hat die Katharina ein bisschen nachvollziehen können, warum der Brunner so ausgeflippt ist, aber verstanden hat sie es trotzdem nicht, weil nachvollziehen und verstehen sind zweierlei. Eine Idee hat sie trotzdem gehabt.
»Wißts was? I fahr nauf zu dem Tandler«, hat sie vorgeschlagen.
Da waren der Hansi und die Anni richtig sprachlos. Auf die einfachste Lösung kommst du ja oft gar nicht. Und die Katharina war froh, dass sie sich gleich ihren ersten Einsatz geangelt hat, weil nichts ist so fad, wie den ganzen Tag in der Polizeidienststelle herumzusitzen. Dauernd kommt jemand, der sich über einen Strafzettel, also eigentlich: eine Verwarnung beklagt oder über angeblich kriminelle Machenschaften seiner Nachbarn, oder jemand ruft an und beschwert sich, dass der im Garten nebenan zwischen zwölf und drei seinen Rasen mäht.
So ist das auf dem Land.
Gar nicht so anders wie in der Stadt, wo die Katharina vorher jahrelang bei der Kripo gewesen ist. Bei der Kripo war’s natürlich anders. Aber bei der Stadtpolizei: Strafzettelbeschwerden, Nachbarschaftsbeschwerden, und wo es keine Rasenmäher gibt, Kneipenbeschwerden.
»Du, Kathi, des Problem is, der Brunner hat den Einsatzwagen oans gnumma. Und der Zwoarer, der is in der Werkstatt. Oiso, wemmas genau nimmt: beim Tandler«, ist der Anni noch eingefallen.
»Dann fahr i hoit privat«, hat die Katharina auch dieses Problem gelöst. »Und dann kannt i aa glei schaung, ob der Wagen scho fertig is.«
»Echt? Daadst du des für uns?«, hat sich der Hansi begeistert. Ganz ungläubig hat er geschaut dabei.
»Freilich. I mach a bisse an Druck.« Und dann hat die Katharina sich erklären lassen, wie sie zu dem Tandler hinkommt. In ihrem alten Golf hat sie nämlich kein Navi gehabt, kein GPS und gar nichts.
Eine Heizung hat sie aber drin gehabt, und die hat sie um halb neun in der Früh auch noch gut brauchen können. Im bayerischen Hochsommer Mitte August ist es in der Früh ja noch recht frisch. Man merkt schon, das wird ein ganz ein heißer Tag heut, aber draußen auf dem Land sind in der Früh die Wiesen und Felder noch ganz nass, gerade wenn es sternenklar war über Nacht. Und im August hat es gerne mal eine stabile Hochdrucklage, da ist es tagelang sternenklar und morgens alles nass vom Tau. Ein bisschen herbsteln tut’s da fast schon, und tagsüber ist es dermaßen heiß, dass du dir wünschst, die Polizei hätte auch kurze Hosen in ihrem Uniformprogramm.
Also ist die Katharina losgefahren, nachdem sie den Golf ewig hat vorglühen lassen, weil der Probleme mit dem Starter gehabt hat.
Die Pistole, eine Heckler & Koch P7, hat sie auf den Beifahrersitz gelegt. Normalerweise hat sie die in ihrer hinteren Hosentasche getragen, eine ganz eine blöde Marotte und beim Sitzen ungemütlich, wenn nicht sogar ein bisschen gefährlich. Nicht, dass sich da ein Schuss löst.
Eine Pistole gehört natürlich auch nicht auf den Beifahrersitz, wenn man im Einsatz ist – da gehört sie an den Mann oder in ihrem Fall an die Frau.
Aber die Berger Kathi war halt ein bisschen eigen.
Hochkompliziert ist sie jetzt die 12 km über Land nach Halling gefahren und hat sich gefreut, wie schön und friedlich die oberbayerische Provinz aussieht, fast schon ein bisschen niederbayerisch, die Grenze merkst du ja nicht.
Der Mais ist schon ganz hoch gestanden, die Bauern haben ihr Heu gewendet, das muss sein, über Nacht wird das ja immer ganz feucht. Ein paar Biokühe sind bewegungslos auf einer Wiese herumgestanden und haben wiedergekäut. Die konventionellen Kühe sind im Stall gestanden, wegen den Biogasanlagen, das Biogas kriegst du ja nicht von der Weide.
Berufsverkehr war auch, also hat die Katharina schon so ihre 20 Minuten nach Halling gebraucht. Die Werkstatt vom Autotandler hat sie aber auf Anhieb gefunden, war auch nicht schwer.
Direkt am Ortseingang geht zwischen hohen Wiesen eine lange Auffahrt den Hügel hinauf, eine Allee aus lauter alten Obst- und Nussbäumen, als tät da ein Herrenhaus stehen und nicht ein alter Hof. Von der Straße aus siehst du zwar noch nicht, dass auf dem Hof überall Autos in den verschiedensten Aggregatszuständen parken, aber nach Öl riecht es schon, also war die Katharina hier richtig.
Ihren Golf hat sie dann mitten auf dem Hof stehen lassen, damit jeder gleich sieht, da kommt eine, die will was Besonderes.
Wenn du was Besonderes willst, parkst du also mitten auf dem Hof, so saudumm, dass praktisch keiner an dir vorbeifahren kann. Dann steigst du aus und sperrst natürlich nicht ab, weil erstens braucht es das nicht am Land und zweitens stehen da so viele andere, teils viel bessere schönere und teurere Autos rum, da lohnt es sich für einen Autodieb gar nicht, sich mit deinem alten Golf zu beschäftigen.
Obwohl, für einen Autodieb wär der Golf schon einen zweiten Blick wert gewesen. Allein schon wegen der Handfeuerwaffe auf dem Beifahrersitz. Die hat die Katharina natürlich vergessen, als sie ausgestiegen und in die Werkstatt reingegangen ist, um nach dem Chef zu fragen.