NEINZEHN

Manchmal versteht man alles, selbst wenn man kein Wort versteht. Es reicht, die Melodien der Stimmen zu hören und dem Spiel auf der Bühne zuzusehen.

Und genau das hatte der Matteo getan.

Er ist um das Haus herumgeschlichen, an wilden Hecken und hohen Bäumen vorbei, weil von hinten, von der Gartenseite her, ein schwaches Licht zu sehen war und weil ja die Tierärztin feierabendlich auf der Terrasse zu sitzen pflegte. Aber dieses Mal ist sie nicht allein dagesessen. Die Katharina hat er gesehen, sie ist im Licht gesessen, und den Schatten von der Tierärztin. Wen er nicht gesehen, sondern nur gehört hat, das war der Dr. Lechner. Diesen melodischen vertrauenerweckenden Tonfall, den hätte er noch unter Tausenden von Stimmen wiedererkannt. Bedrohlich ruhig hat er geklungen, ein ganz ein langer Monolog, den er da gehalten hat, von dem der Matteo nicht das Geringste verstanden hat.

Er hat die Katharina betrachtet und gewusst, dass da irgendetwas nicht stimmt. Sie hat nicht geantwortet, wenn der Arzt was gefragt hat, und der Matteo hat ja gewusst, dass sie, wenn sie kann, grundsätzlich auch auf rhetorische Fragen antwortet. Aber sie hat überhaupt nichts getan. Das war so gar nicht seine Katharina. Sie hat einfach nicht reagiert, und er hat begriffen, dass sie irgendetwas mit ihr gemacht haben müssen. Ihr vermutlich irgendetwas verabreicht hatten. Zwei Ärzte. Nicht abwegig, der Gedanke. Und schließlich hat der Dr. Lechner der Katharina aus dem Stuhl geholfen, und er hat sie gestützt, und dann sind die beiden im Haus verschwunden.

Seltsam. Und in höchstem Maße beunruhigend.

Die Tierärztin ist fast reglos dagesessen und hat eine nach der anderen weggeraucht.

Die Szene war von vorne bis hinten nicht stimmig. Und von hinten ums Terrasseneck ist der Matteo schließlich durch den Schatten geglitten, hat einen flüchtigen Blick durch die Glasfront in den Wohnraum geworfen, in dem nur ein paar teure Möbel gestanden sind, Le Corbusier, und zwei schöne Designerstandleuchten, deren warmes Licht bis auf die Terrasse herausgefallen ist.

Er hat es eigentlich gehasst, den Revolverhelden zu spielen, aber er hat jetzt erstens irgendwie diese Tierärztin befragen und zweitens gleichzeitig verhindern müssen, dass sie auf sich und ihn aufmerksam macht, drittens sie überwältigen, obwohl sie Taekwondo beherrscht, und viertens so wenig Schaden wie möglich anrichten.

Der Teich hat vor sich hin geplätschert und die kleinen Geräusche der Nacht übertönt. So leise wie möglich hat der Lucarelli jetzt die P7 entladen und die Munition in die Hosentasche gesteckt. Schieße nie auf einen Menschen, wenn du es vermeiden kannst.

Er hat noch einen winzigen Moment gezögert, hat auf die Verstärkung gehofft, und dann hat er der Hohenstein von hinten die rechte Hand auf den Mund gelegt und ihr mit der linken den Lauf von der Katharina ihrer Heckler & Koch gegen die Schläfe gedrückt. »Neanche una parola

Die Tierärztin war dermaßen überrascht, die hätte sich schon deswegen nicht gewehrt. Sie hat nur widerstandslos genickt. Das Überraschungsmoment immerhin hat er schon mal hinbekommen.

»Mi capisce

Sie hat wieder genickt.

»Allora capisce l’italiano

Und noch ein Nicken.

Entweder ein Angstreflex, oder sie hat tatsächlich Italienisch verstanden.

Dann hat der Matteo gefragt, ob die Katharina im Haus ist, sì o no, und die Tierärztin hat genickt. Ob sie in Gefahr ist, sì o no, und sie hat genickt. Und dann hat der Matteo gesagt, dass sie beide jetzt ganz langsam ins Haus gehen, und sie geht voran und er mit der Pistole direkt hinter ihr, und wenn sie sich bewegt, muss er schießen, ob sie verstanden hat, sì o no? Sie hat genickt.

Sie soll ihn jetzt dorthin führen, wo der Dr. Lechner mit der Katharina hingegangen ist, und keine Spielchen, aber das hat die Tierärztin irgendwie nicht mehr verstanden, genickt hat sie auch nicht mehr, und kurz vor der Hauseingangstüre hat sie sich schlagartig umgedreht, und zwar wirklich schlagartig, und ihm einen Schlag gegen den Hals versetzt, und irgendwie gleichzeitig einen Tritt gegen die Knie. Eine Taekwondo-Grundübung, und der Matteo war das imaginäre Holzbrett. Und genau so ist er eingeknickt, zu Boden gesunken, hat nach Luft gerungen, und sie ist zur Haustüre hinausgehechtet, und das alles ist so schnell gegangen, dass der Matteo überhaupt nicht reagieren hat können.

Als er wieder genug Luft gehabt hat, um sich aufzurichten, hat er gehört, wie Schritte eine Treppe heraufkommen.

Er hat sich gegen die Wand im Flur gepresst und versucht, tief, aber unhörbar durchzuatmen, hat mit zitternden Fingern praktisch lautlos die Pistole wieder geladen und sie im Anschlag gehalten.

Und dann hat er die Schritte nicht mehr gehört.

Und er hat die Luft angehalten. Dem, der da kommt, würde er keine Chance lassen.

Komm rauf, dreh ja nicht um, tu ihr ja nichts an, steig diese verdammten letzten paar Stufen hoch!

Derjenige kann ihn doch nicht gehört haben. Unmöglich. Kann die Szene von eben nicht mitbekommen haben, sonst wäre er in einem ganz anderen Tempo heraufgekommen.

Und mit einem Mal hat es den Matteo gefroren. Weil er die Situation einfach nicht beherrscht hat, die Situation hat ihn beherrscht, so eine Scheiße. Eine Pistole, die nicht seine war, in der zitternden Hand, keinerlei Fessel, um jemanden zu fixieren, keine Handschellen, keine Verstärkung, und wieder in dieser Situation wie im Sommer in diesem abgelegenen Hof in der Toskana.

Was, wenn sie es ist? Du kannst nicht schießen, wenn sie ums Eck kommt. Vielleicht steht sie auf der Treppe und hat einfach nur … Angst? Und du, Lucarelli? Du hast einfach nur Angst. Angst um sie. Reiß dich zusammen.

Und dann hat er bemerkt, was ihn frieren hat lassen.

Ein Luftzug.

Die Eingangstür, durch die die Hohenstein geflüchtet war, ist immer noch offen gestanden. Und genau das hat die Person auf der Treppe auch bemerkt gehabt. Das hat sie zögern lassen. Eine halbe Ewigkeit lang.

Aber jetzt hat sie sich ganz leise wieder in Bewegung gesetzt. Und das Licht gelöscht. Und der Flur ist jetzt vollkommen dunkel gewesen, nur ein schwacher Schein vom Wohnraum her und das milchige Straßenlampenlicht von draußen.

Der Matteo hat im Dunkeln wahnsinns schlecht gesehen, es hat immer eine Ewigkeit gebraucht, bis seine Augen sich daran gewöhnt haben, ein echtes Handicap, und jeden Moment würde die Person erscheinen, und was würde ihm anderes überbleiben als zu schießen, und was war, wenn sie es war?

Katharina.

 

Ti richiamo dopo, Matteo, du bist süß, würdest du deinen letzten Satz wiederholen, fahr vorsichtig, Lucarelli, a dopo Lucarelli, wie sie auf der Türschwelle gewartet hat, auf ihn … das ist doch nicht nötig, also weißt du … und jetzt hörst du auf? Ja dann  und ein Kuss, einfach so, Matteo, frag nicht immer, Matteo, später, Katharina in der Küche, Katharina in ihrer Uniform, Katharina mit dem kleinen Zeugen, mio caro testimone, was soll ich fragen? Ob du mich küsst zum Abschied, falls ich hier nicht wieder heil herauskomme?

Katharina, wir kommen nie irgendwo heil heraus, wir werden immer Narben davontragen.

Katharina. Es tut mir leid.

 

Es gibt nur eine Möglichkeit. Schießen. Sobald die Person in den Flur tritt. Am effektvollsten in die gegenüberliegende Trennwand aus Glas, die den Flur von der Küche trennt. Und das Überraschungsmoment nutzen, um sie zu überwältigen. Und wenn sie angreift? Ein Schuss in die Oberschenkelmuskulatur. Blutet wie Hölle, brennt fürchterlich, setzt dich außer Kraft, aber du überlebst es.

Durch die offene Haustür ist der fahle Schein der Straßenlaternen gekrochen und ein fast unmerkliches blaues Flackern. Die Person ist zwischen die offene Tür und ihn getreten, und er hat, ohne zu zögern und ohne zu zittern, auf die Glaswand geschossen, und die ist mit einem explosionsartigen Knall zwischen ihnen beiden in tausend Scherben zersplittert.

»Ferma!«

In Extremsituationen benutzt du deine Muttersprache. Und wirst nicht immer verstanden.

Die Person hat jetzt für den Bruchteil einer Sekunde lang innegehalten und die Hand gehoben, als würde sie sich ergeben. Aber der Matteo hat im schwachen Widerschein der Straßenlaterne eine aufgezogene Spritze erkannt. Die Silhouette hat er sowieso schon richtig eingeordnet gehabt. Schon bevor er wieder diese melodische Stimme gehört hat.

»Ah, der italienische Held«, hat der Dr. Lechner bissig auf Englisch gesagt. »Wir haben Sie schon vermisst.« Er ist einen kleinen Schritt nach vorne getreten, auf den Matteo zu.

»Fermati!« Lucarellis Finger am Abzug der P7.

Lass mich nicht mit der Waffe einer deutschen Polizistin auf dich schießen, du Idiot.

»Ihrer Kommissarin geht es nicht besonders gut, aber keine Angst, sie hat Gesellschaft. Sie verbringt ihre letzten Stunden nicht allein. Vielleicht sollten wir ihr noch etwas mehr Gesellschaft verschaffen, was meinen Sie?« Wieder ein Schritt in Lucarellis Richtung.

»Fermati!« Verdammt, was hat er mit ihr gemacht?

»Ihre liebe Frau war zu neugierig, und ich finde, Sie sind auch neugierig, viel zu neugierig für meinen Geschmack. Ich denke, ich habe hier etwas gegen Ihre Neugier.«

Der Dr. Lechner ist über die Scherben hinweg langsam auf den Matteo zugegangen. Bevor er sich mit einem Mal auf ihn gestürzt hat. Mit der Spritze voran.

Aber der Matteo hat geistesgegenwärtig auf knapp unter Hüfthöhe gezielt und abgedrückt. Weil er in Extremsituationen nicht nur seine Muttersprache benutzt, sondern auch ein Höchstmaß an Konzentration aufbringt. Ein kurzer Knall, und der Dr. Lechner vor ihm hat aufgeschrien, ist eingeknickt und auf ihn zugestolpert und hat ihn nur um wenige Millimeter verfehlt. Die scharfe Nadel der Spritze hat einen haarfeinen Spalt in Lucarellis Hosenbein gerissen. Was er gehört und gespürt hat, aber vollkommen egal, weil von unten, irgendwo vom Keller her, war ein hoher, spitzer, durchdringender Schrei zu hören, der nicht mehr aufgehört hat. Der viel mehr geschmerzt hat als der Kratzer einer Nadelspitze.

Katharina.

Und der Matteo ist vorbeigehastet am Dr. Lechner, der sich auf dem Boden in den Scherben gewunden hat, aber recht reaktionsschnell im selben Moment nach dem Lucarelli seinem Bein gegriffen und ihn am Knöchel erwischt hat. Er ist gestolpert, hat sich losgerissen, ist mit dem Kopf gegen den Rahmen von der Kellertür gestoßen, aber egal, keine Zeit, sich benommen zu fühlen, keine Zeit für gar nichts, nur hinunter, was immer sie mit der Katharina gemacht haben, sie war in Panik, wann hat er das letzte Mal jemanden derart schreien hören? Nur keine Zeit verlieren, und er hat den Lichtschalter gefunden und ist die Treppen hinuntergestürzt, und er hat nicht mehr mitbekommen, wie zwei Einsatzwagen und ein Bus der Weiler und Mühldorfer Polizei vor dem Haus gehalten haben und der Brunner Josef und sein Team mit schußsicheren Westen, Waffen und genug Werkzeug, um den halben Ort zu fixieren, das Haus gestürmt haben.

Und den Kellerflur entlang, immer der Katharina ihrem Schrei hinterher, bis vor eine verdammte verschlossene Tür, gegen die er geschlagen und getreten hat wie ein Irrer, Katharina, ich bin da, Katharina, ich bin’s, aber er hat keinen Schlüssel, und jetzt?

Und ihr ununterbrochenes Schreien.

Er hat den Lauf der P7 schräg gegen das Einsteckschloss der Eisentür gehalten und abgedrückt. Und noch einmal und noch einmal und noch einmal. Und sich gegen die Tür geworfen, so lange, bis sie endlich, endlich nachgegeben hat.

 

Wie von fern war das Teichplätschern zu hören, und von fern war auch das Martinshorn vom Einsatzwagen 2 zu hören, das war irgendwie verstimmt, das war der Katharina gleich aufgefallen, nachdem sie den Wagen aus der Werkstatt zurückbekommen hatten. Durch den winzigen Schlitz zwischen Wand und Decke des Kellerraums waren ein paar Sterne zu sehen, und ein schwaches blaues Flackern, und noch mehr Schritte und Rufe und Matteo, der sie aufgehoben hat und hochgetragen, er hat gesagt, ich werde sterben, und der Sternenhimmel über ihr, Hunderte, Tausende glitzernder Lichtpunkte, wie verrückt gewordene Tüpferl, durcheinander, ineinander verschwimmend, die Stimmen vom Brunner, vom Hansi und noch ganz viele andere, der Geruch vom Leder der Autositze und ein rasender Kopfschmerz. Und entsetzliche Übelkeit. Und die Katharina hat um jeden Preis verhindern wollen, sich in dem teuren Auto neben ihrem tollen Mann zu erbrechen, aber ihre Gedanken waren zu langsam.

 

Er ist auf dem kalten Estrich vor der Katharina in die Knie gegangen, und die magere Gestalt neben ihr hat ihn mit angsterfüllten Augen angestarrt und die Katharina im selben Augenblick losgelassen. Der Matteo hat schon gewusst, wer das war, er hat ja sein Bild gesehen gehabt und seinen Jungen und einen Blick in sein Leben geworfen, und um wenigstens ansatzweise Trost zu spenden, den er vielleicht selbst auch nötig gehabt hätte, hat er gesagt: »Hilfe kommt, die Verstärkung kommt jeden Moment, keine Angst.« Aber der ausgemergelte Mann hat ihn nicht verstanden, und die Katharina war unter Schock. Der Matteo hat ihren rechten Arm um seine Schulter gelegt, sie auf seinen Schoß gezogen und sie festgehalten. Ihr Schreien ist zu einem Weinen und Schluchzen geworden, bis sie still war. Und nur noch gezittert hat.

»Ich bin da, Katharina.« Er hat sie gewiegt und einen kurzen Gedanken an den Dr. Lechner im Hausflur über ihnen verschwendet. Und Schritte gehört. Wie grausam hat es für den Altmann sein müssen, wochenlang hier unten eingesperrt zu sein und jeden Schritt zu hören.

»Ich sterbe.«

»Ich bringe dich nach Hause, was meinst du?«

»Ich sterbe.«

»Kannst du aufstehen? Nein? Komm, ich trag dich, ich bring dich hier raus.«

»Ich sterbe.«

Und als er die Katharina aufgehoben und sich aufgerichtet hat, sind vier uniformierte Polizisten und der Brunner den Kellergang entlanggekommen, und ihr Anblick, mit diesen schußsicheren Westen und Handschellen am Gürtel und ihren Waffen im Anschlag, der war unglaublich erlösend für ihn.

»Kathi, was is passiert?«, hat der Brunner ganz besorgt gefragt, und sie hat ganz schwach gesagt: »Der Altmann«, und da hat der Brunner es verstanden. Die Kollegen haben sich um den Altmann gekümmert, und der Brunner hat den Matteo auf Englisch gefragt: »Sollen wir einen Krankenwagen rufen?«

»Nein, kein Problem, ich fahre sie, mit meinem Auto geht es schneller.«

»Kümmer dich um die Kathi, fahr mit ihr in die Klinik, die sollen schauen, ob sie in Ordnung ist, vielleicht ist es ja nur der Schock.«

Und der Matteo nur: »Ja, ja natürlich.«

Und der Brunner: »Den Dr. Lechner haben wir, und die Hohenstein werden wir auch noch finden, zu Fuß kommt sie nicht weit.«

Der Matteo hat die Katharina zu seinem Auto getragen, und sie hat den Kopf nach hinten gelegt und in den Sternenhimmel über sich geschaut und gesagt mi ha detto che morirò, und sie hat es so ohne jegliche Emotion gesagt, dass er Angst bekommen hat.