ACHTZEHN

»Frau von Hohenstein, entschuldigen Sie bitte mein unangekündigtes Erscheinen – und die späte Störung – aber ich war eben in der Gegend …«

»Ja?« Die Hohenstein ist in der Haustür gestanden und hat die Katharina ziemlich ausdruckslos angesehen. Dreimal hat die Katharina geklingelt gehabt, und mindestens drei, vier Minuten gewartet.

»Ja, und da ich weiß, dass Sie ohnehin lieber im privaten Umfeld reden als in einer Polizeidienststelle … Sie haben sicher die heutigen Tageszeitungen gelesen.«

»Ja. Weshalb?«

»Man hat die Identität des E-Type-Fahrers aus dem Weiher bestätigt.«

»Hab ich gelesen, irgend so ein Pole, ja.«

Und jetzt hat die Hohenstein versucht, irgendeine Reaktion auf der Katharina ihrem Gesicht abzulesen, aber nichts. Die Katharina ist ganz ungerührt geblieben, aber im Stillen hat sie sich gedacht, irgend so ein Pole ist eine interessante Bezeichnung für jemanden, den man einigermaßen gekannt haben dürfte, wenn man neulich am gleichen Pizza-Abendessenstisch zusammengesessen ist, beim Freund daheim, der ein enger Geschäftspartner von dem Polen gewesen ist.

 

»Darf ich reinkommen? Oder störe ich?«, hat die Katharina dann gefragt.

Die Tierärztin hat halb gelächelt. »Aber nein, wo denken Sie hin? Treten Sie ein.« Und hat Platz gemacht, und die Katharina ist in den Flur getreten, und sie ist der Tierärztin zuerst in die Küche hinein und dann auf die Terrasse hinaus gefolgt. Die Hohenstein hat der Katharina ein Glas aus der Küche mitgenommen. Jetzt hat die Katharina erwartet, dass da der Dr. Lechner auf der Terrasse sitzt, aber Fehlanzeige.

Trotzdem sind ein paar Gläser herumgestanden, mehr, als man alleine braucht, aber vielleicht hat die Tierärztin einfach nicht aufgeräumt gehabt. Passiert, wenn man unverhofft Besuch bekommt.

Die Hohenstein hat der Katharina einen Prosecco eingeschenkt und ihr eigenes Glas neu gefüllt, der Katharina einen Platz angeboten, sich gesetzt und sich eine Zigarette angesteckt. Die Katharina hat alles mit geschärften Sinnen beobachtet und sich eingebildet, dass die Hände von der Tierärztin ein wenig zittern. Aber man sieht viel, wenn man jemanden ernsthaft verdächtigt.

»Ich nehme an, Sie haben wieder ein paar Ihrer interessanten Fragen parat?«, hat die Hauptverdächtige jetzt mit einer rhetorischen Frage angefangen.

»Möglich«, hat die Katharina geantwortet und ohne Pause hinzugesetzt: »Jetzt hab ich schon gedacht, Sie hätten Besuch, weil da ein zweiter Volvo vor Ihrem Haus steht.« Gleich richtig loslegen. Ohne den Anflug von Unsicherheit oder Angst. Der Guten zeigen, wer hier die Zügel in der Hand hat. Wer hier den Ton angibt. Seit irgend so ein Pole hat die Katharina gewusst, dass heute Lügenmärchenstunde angesagt ist bei der Hohenstein.

Aber im Moment war ihr anscheinend nicht richtig nach lügen zumute, mehr so nach ignorieren.

»Was möchten Sie denn noch so wissen, Dienstagabend um zehn?«

»Also, Frau von Hohenstein …« Sie haben beide über den Teich hinweg und über die weitläufige Wiese und die Baumwipfel in den Sternenhimmel geschaut. Ein wirklich wunderschöner klarer Herbsthimmel und noch immer spätsommerlich lau. »Ich hab mir vom Andreas Hafner die Geschichte Ihrer Beziehung erzählen lassen.«

»Ach?«

»Ja, und er hat sie ein klein wenig anders erzählt als Sie.«

Die Tierärztin hat ein bisschen gezögert und dann mit so einem verbissenen und gleichzeitig arroganten Ausdruck boshaft gesagt: »Typisch Andi.«

Und dann hat sie vor sich hin gelächelt, als würde sie in alten Erinnerungen schwelgen. Die Katharina hat immer wieder Seitenblicke auf die Hohenstein geworfen, die zwei Stühle entfernt gesessen ist, und zwischendurch ihren Prosecco getrunken. Es ist dunkel gewesen auf der Terrasse und im Garten noch dunkler, nur die Beleuchtung vom Wohnzimmer hat durch die raumhohe Verglasung geschienen. Eigentlich ein schönes Licht, ganz lange Schatten haben die Möbel und die Pflanzen auf der Terrasse geworfen, den leichten Abhang vor der Terrasse hinunter, bis die Schatten vom Dunkel der Nacht verschluckt worden sind, irgendwo jenseits der Bäume am Ende vom Grundstück, wo längst der Wald angefangen hat.

»Also um genau zu sein, er hat gesagt, es habe gar keine Beziehung gegeben. Sie hätten sich das mehr oder weniger eingebildet und ihn über Jahre hin verfolgt, obwohl er Ihnen unmissverständlich gesagt habe, er sei nicht interessiert.«

»Der Mann hat keine Ahnung!«, hat die Hohenstein sich jetzt ein bisschen aufgeregt. »Ich meine, während unserer ganzen Beziehung hat er, hat er – er ist einfach nicht beziehungsfähig.«

Diese Antwort hat so gar nicht nach der sonst so gefassten Frau Doktor geklungen, irgendwas hat sie total nervös gemacht.

»Seine Einstellung zum Thema Frauen ist mir hinlänglich bekannt, Frau von Hohenstein, lassen wir es dabei bewenden. Ich kann mir durchaus vorstellen, wie schmerzhaft es für Sie gewesen ist, von ihm abgewiesen zu werden.«

»Ach, das hat er behauptet?«

»Sinngemäß. Aber ich möchte Sie eigentlich auch nicht unnötig aufregen mit alten Geschichten, weil mich mehr so die zeitnahe Vergangenheit interessiert. Zum Beispiel der 29. Juli, das war ein Mittwoch, wie Sie vielleicht noch wissen. Der Taxifahrer, der an diesem Tag Herrn Altmann von Herrn Hafners Autohof abgeholt hat, nachdem Herr Altmann den weißen Jaguar dort zur Reparatur abgegeben hatte, hat erzählt, er habe Thomas Altmann zu Ihnen hier nach Süchting gefahren. Volle drei Tage, nachdem Ihrer Aussage nach Funkstille gewesen ist zwischen ihm und Ihnen.«

Wieder hat die Tierärztin gezögert, sich eine neue Zigarette angesteckt, und diesmal war das Zittern nicht zu übersehen. Sie ist tatsächlich furchtbar nervös gewesen, aber die Katharina hat gar nicht verstanden, wie diese paar Fragen das ausrichten können bei dieser ansonsten selbstsicheren und gefassten Person.

Und jetzt hat die Hohenstein auch gleich wieder so geklungen, recht gefasst und über den Dingen stehend.

»Mittwochs bin ich nicht in der Praxis. Da mache ich Hausbesuche. Also müssen Sie schon meine Sprechstundenhilfe fragen. Gerne wird sie Ihnen Auskunft darüber erteilen, wo ich zur besagten Zeit gewesen bin. Tut mir leid, was Sie mir da über Thomas’ Taxifahrt erzählen, ist mir wirklich vollkommen neu.« Irgendwie siegessicher hat sie sich jetzt wieder angehört, aber trotzdem auch so ein unsicherer Beiklang in der Stimme.

Mist, das mit dem Mittwoch, wahrscheinlich hat es gestimmt, die Ärzte haben ja immer so Hausbesuchstage, wo die Praxis bis auf einen Anrufbeantworter oder im besten Fall eine Sprechstundenhilfe unbesetzt ist. Zu blöd aber auch, darauf hat die Katharina so viel gesetzt gehabt. Egal, wer vom Pferd fällt, steigt am besten gleich wieder auf.

»Nun ja, Frau von Hohenstein, vielleicht war es ja doch nicht so dringend zwischen Ihnen beiden, er hätte Sie sicher angerufen, wenn er hier vor verschlossener Türe gestanden wäre, wir prüfen die Aussage des Taxifahrers noch mal nach.«

»Gut, machen Sie das.«

»Sie hatten sich ja, wie ich gehört habe, schon am Wochenende zuvor ausreichend gesehen, zuerst bei ihm zu Hause, bis die Polen gekommen sind und es diesen hässlichen Streit gegeben hat zwischen dem Jurek und dem Wieslaw Pawliczyk, dann während der Verfolgungsjagd, bei der ein Jaguar samt Fahrer und fünfzehn Ordner voller quittierter Zigarettenschmuggeljahre im Derdorfer Weiher versenkt worden sind, und dann beim Segeln am Chiemsee. War’s schön?«

Jetzt hat sich die Hohenstein nicht provozieren lassen. Und die Katharina hat ihren Triumph gar nicht richtig auskosten können, weil sie der Hohenstein ihr Gesicht gar nicht mehr gescheit gesehen hat, weil jetzt ein Schatten über ihnen beiden gelegen ist, der von der Terrassentür her über die Terrakottafliesen und die Wiese gefallen ist, und der irgendwo weit hinten zwischen den Bäumen von der Dunkelheit der Nacht verschluckt worden ist. Sie ist aufgestanden und hat sich ganz langsam umgedreht. In der Tür ist der Dr. Lechner gestanden, mit einem Glas Rotwein in der Hand, in dem sich das Licht aus dem Wohnzimmer gebrochen hat, und es hat ausgesehen wie Blut.

»Einen schönen guten Abend, Frau Berger. Ich denke, wir können auf Förmlichkeiten verzichten. Nehmen Sie doch bitte wieder Platz.«

Sehr, sehr ruhig hat der Dr. Lechner geklungen und sehr bedrohlich der Beiklang in seiner Stimme. Die Katharina hat sich nicht gerührt, nur ihre Gedanken sind gerast, und irgendetwas hat sie in Alarmbereitschaft versetzt.

Ihre rechte Hand ist ganz langsam an ihrem Bein nach hinten gewandert und hat an der Hosentasche gespürt, dass es da nicht viel zu spüren gibt, und jetzt ist ein Anflug von Panik in ihr hochgestiegen, weil sie versucht hat zu rekonstruieren, wo sie ihre Waffe verloren hat, und einfach nicht draufgekommen ist, wo.

»Sabine, du hättest mir wirklich Bescheid sagen können, dass du noch Besuch erwartest.« Und dann hat der Dr. Lechner die Katharina aufgefordert, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, der mit der Lehne zum Garten gestanden ist, und er selbst hat sich auf der Katharina ihren Stuhl niedergelassen, und jetzt hat sie im Sitzen nur noch die Silhouetten von der Hohenstein und vom Lechner sehen können, weil das Wohnzimmerlicht ihr direkt ins Gesicht geschienen hat, durch die perfekt geputzten Glasscheiben hindurch und durch die halb leeren Gläser mit den Fingerabdrücken, die eine Freude für jeden Spurensicherer gewesen wären, und durch den Rotwein vom Dr. Lechner. Die anderen beiden hingegen haben die Katharina anschauen und mustern können, weil sie ist ja voll im Licht gesessen.

Aber die Hohenstein hat gar nichts mehr gesagt, weil jetzt war der Dr. Lechner dran, und der hat seinen Autoritätsanspruch geltend gemacht und ganz selbstbewusst und selbstsicher gesprochen.

»Frau Berger, warum haben Sie meine Krankschreibung nicht beachtet? Das hätte uns und Ihnen eine Menge Ärger erspart.«

Und mit diesen Worten hat er sein Glas erhoben und ihr zugeprostet, und sie hat es einfach nicht kapiert, weil die Panik sich ausgebreitet hat, überallhin, die Panik des Ausgeliefertseins, des In-der-Falle-Sitzens, des Nicht-denken-Könnens. Ihr ist übel gewesen und schwindlig, vielleicht von dieser Panik, die einem die Pupillen weitet, die Adrenalin produziert und kalten Schweiß, und dann hat sie wieder ihre rasenden Kopfschmerzen gehabt und kein Metamizol und kein gar nichts und keinen Matteo, der war draußen im BMW, und keine Waffe, die war sonstwo, wie kann man nur die Dienstwaffe verlieren, wie kann man nur, wie konnte sie nur.

»Wie konnten Sie nur so unvernünftig sein? Wir alle hätten so schön und ruhig weiterleben können wie bisher. Man hätte bei Ihnen eine Tomografie gemacht, in der Klinik in Mühldorf, und Ihre Hirnblutung entdeckt, denn das Schädel-Hirn-Trauma, das Sie bei Ihrem Sturz letzte Woche erlitten haben, war zwar nur Grad 1, aber die Symptome, die Sie zeigen, sprechen für die gelegentlich dabei auftretende Komplikation des chronischen Subduralhämatoms. Damit machen Sie es uns im gewissen Sinn auch wieder leicht. Sie erledigen sich praktisch selbst.«

Die Katharina hat das Gefühl gehabt, als würde die Zeit sich dehnen und als würde sie alles Gesagte erst Stunden später begreifen. Sie erledigen sich praktisch selbst. Und was hat er davor gesagt? Und warum sitze ich hier?

»Haben Sie das erwartet? Wohl eher nicht. Sie untersuchen, ermitteln und fragen in alle Richtungen, im Grunde auch auf keine ungeschickte Art und Weise, aber die interessantesten Details übersehen Sie schlichtweg. Dass Sabine nach ihrer Scheidung neben der Hälfte seines Vermögens auch den Namen ihres Exmannes behalten hat, aber mit Mädchennamen Lechner geheißen hat, zum Beispiel. Und dass sie meine Schwester ist.« Dieser Stolz in seiner Stimme.

Die Katharina hat gemerkt, wie sie immer langsamer wird. Aber trotz allem ist ihr jetzt wieder eingefallen, was ihr zuvor nur unbewusst aufgefallen war, nämlich das mit der Familienähnlichkeit. Das ist wie bei der Anni und beim Brunner gewesen, die Sabine und der Vincent Lechner haben sich nämlich tatsächlich sehr, sehr ähnlich gesehen. Ich Vollidiot, hat die Katharina sich gedacht. Ich hätte es erkennen müssen. Schneller denken, Katharina. Wenn sie sich nur nicht so furchtbar gefühlt hätte.

»Ist Ihnen schwindlig? Übel?«

Sie hat kein Wort herausbekommen, weil jedes Mal, wenn sie etwas sagen wollte, ist der Satz schon wieder weg gewesen. Und immer hat der Dr. Lechner schon wieder weitergeredet.

»Die nette kleine Provinzpolizistin, die ihren ganzen Ehrgeiz auf den Job verwendet – und dabei ihre Gesundheit und ihr Privatleben vernachlässigt. Mit diesem durchaus reizenden Mann, den sie sich auf Distanz hält, vornehmlich durch die Tatsache, dass er im Ausland lebt und sie hier. Zu dumm, dass er sie heute hat herkommen lassen. Und dazu noch alleine. Anstatt sie in die Klinik zu bringen. Wie gesagt, mit der entsprechenden medizinischen Behandlung wäre das kein Problem gewesen. Sie wollten ja nicht auf mich hören. Aber jetzt werden Sie mir zuhören. Jetzt, wo Sie schon so weit gekommen sind, will ich Sie nicht länger auf die Folter spannen.«

Er hat der Katharina noch einmal zugeprostet und einen Schluck aus seinem Glas genommen.

»Dass Thomas Altmann Probleme gehabt hat, war jedem klar, der mit ihm zu tun hatte. Thomas hat eine Menge geerbt – und sein Vermögen in geliebte Dinge und Menschen investiert. Auch Sabine und ich können nicht klagen. Ihre Praxis und dieses Haus sind ein Beweis seiner Großzügigkeit. Aber wenn einer sehr spendabel ist, dann ist das Vermögen irgendwann fort. Also mussten Jobs her, die schnelles Geld versprechen. Daher unter anderem Thomas’ Polen-Geschichte. Dieser Zigaretten-Schwarzhandel. Das Ganze war durchaus lukrativ, wurde aber ein bisschen heiß in letzter Zeit, vor allem auch, weil Andreas Hafner wohl Wind davon bekommen hat, bei was er da eigentlich mitspielt, und dann die Polen auch noch die Nerven verloren haben.«

Der Lechner und seine Schwester haben das schon immer so gemacht: Sie hat die Männer um den Finger gewickelt, Geld abgezapft und an ihren Bruder geleitet. So haben sie gut gelebt und sich geliebt. Ein durch und durch berechnendes Geschwisterpaar.

Die letzten Jahre haben sie das Vermögen vom Altmann erleichtert. Das war zumindest die Geschichte, wie der Dr. Lechner sie erzählt hat.

Die Tierärztin hat nur auf die dunklen Baumwipfel in der Ferne gestarrt und irgendwas geflüstert, was die Katharina nicht richtig verstanden hat. Aber aus dem Flüstern hat die Katharina trotz ihrer verlangsamten Gedanken etwas herausgehört. Nämlich, was der Dr. Lechner nicht verstanden hat, und das war, dass die Hohenstein den Hafner wirklich gemocht hat.

Dass da jenseits der Geldgier bei ihr noch was anderes war. Aber manchmal will der eine, und der andere will nicht. Und wenn einer etwas unbedingt will, was er nicht kriegen kann, dann kommt er, respektive sie, mitunter auf seltsame Ideen.

Tatsächlich hat der Thomas sich in die Sabine verliebt. Nur beim Hafner hat das keinerlei Eifersucht hervorgerufen, im Gegenteil. Erleichtert war der, weil er ja die Hohenstein losgehabt hat. Aber weil der Thomas ein enger Freund vom Hafner war, hat sie immer noch ständigen Kontakt gehabt mit dem Objekt ihrer Begierde. Die nie abgeklungen war. Und dann ist ihr die absurde Idee gekommen, den eigenen Freund verschwinden zu lassen, um beim Hafner irgendeine Emotion zu wecken. Dass sie beide dann die Sorge und die Trauer um den Vermissten zusammenschweißen wird. Weiter hat sie aber nicht gedacht, geschweige denn geplant. Aber der Dr. Lechner, der alles getan hat, um seiner Schwester seine Liebe zu zeigen, hat ihre seltsame Idee in die Tat umgesetzt.

Wie man manchmal in die Dinge hineingerät.

Wie sie sich manchmal verselbstständigen.

Wie man nicht mehr zurückkann.

Die Stimme vom Dr. Lechner hat immer noch weitererzählt.

»An jenem Mittwoch, als Thomas hier erschienen ist, hat der Zufall ihn mir in die Arme gespielt. Mittwochs ist mein freier Tag, da bin ich gerne hier in Süchting. Thomas war vollkommen durch den Wind. Er sagte, er müsse das Land verlassen, Wieslaw Pawliczyk sei hinter ihm her, weil er, Thomas, den Mord an Jurek bezeugt habe. Und irgendwas von irgendwelchen offenen Rechnungen.

Ich hab ihm erst mal einen Drink in die Hand gedrückt, damit er sich beruhigt – und dann war er recht ruhig. Verdammt ruhig. So ruhig wie Sie, meine Liebe.«

Er hat sie angegrinst, und die Katharina hat es nicht recht verstanden. Also im Grunde gar nicht verstanden. Jetzt war sie zu langsam. In die Dinge hineingeraten. Die sich manchmal verselbstständigen.

»Wissen Sie, im Grunde habe ich nur im Namen der Liebe gehandelt, das einzig ehrbare Motiv. Sabines Rechnung jedoch ist nicht aufgegangen. Schon damals mit Andreas’ Kater hat es nicht funktioniert, und an diesem Vieh hat er vermutlich mehr gehangen als an irgendeinem Menschen. Der Hölle Rache, alles für die Katz.«

Er hat einen letzten Schluck Rotwein genommen, sein Glas abgestellt und sich erhoben.

»Bevor ich jetzt allzu poetisch werde, möchte ich Sie lieber ein wenig herumführen, Frau Berger. Sabine, bleib du ruhig sitzen. Trotz des leicht sedierenden Halluzinogens in Ihrem Proseccoglas sind Sie noch nicht desorientiert, eher ein wenig eingeschränkt in Ihren Reaktionen, aber ich werde Sie gerne stützen, und wir machen eine Hausbesichtigung. Kennen Sie das Haus schon? Meine Schwester hat einen sehr guten Geschmack, es wäre ein Jammer, wenn ich Ihnen den vorenthielte. Und nach unserer Hausbesichtigung würde es mich freuen, wenn Sie einen weiteren Gast begrüßen würden.«

 

Der Dr. Lechner hat der Katharina aus ihrem Stuhl geholfen, aber beim Aufstehen hat sie schon gemerkt, dass sie sich kaum aufrecht halten kann, und der Dr. Lechner hat sie mehr durchs Haus geschleift, als dass sie selbst einen Fuß vor den anderen gesetzt hätte.

Es war aufgeräumt, sauber und hell, überall haben Lichter gebrannt. Das war so ziemlich der einzige Eindruck, den der Tierärztinnen-Bungalow bei der Katharina jetzt hinterlassen hat. Zwischen Bungalow und Praxis das alte Gebäude, der Rest vom einstigen Hof, und da ist es direkt neben der Hauseingangstüre hinabgegangen in den Keller. Die Katharina hat alles mit einer Gleichgültigkeit hingenommen, die sie selber erstaunt hat.

Schließlich sind sie die schmale düstere Treppe ins Dunkel hinuntergegangen, und die Katharina hat sich gefühlt, als würde sie Hunderte von Stufen hinabsteigen, wieder dieses Gefühl von gestreckter Zeit und gedehntem Raum.

Steine sind an den Wänden gewesen, alte Ziegel, so ein gemauerter Keller. Und alles hat die Katharina verschwommen gesehen. Ganz modrig hat es gerochen, nach abgestandener, verbrauchter Luft. Das hat ihrem Kreislauf jetzt gar nicht gutgetan. Der Dr. Lechner hat sie trotzdem aufrecht gehalten, er war schon recht kräftig.

Er hat sie durch einen Flur geschleift und durch eine Tür und weiter, man hat fast schon den Kopf einziehen müssen, so niedrig war es.

Und dann sind sie in einen Kellerraum getreten.

Durch eine Tür. Eine schwere. Eisentür. Beschlagen. Schloss. Feucht. Estrichboden. Hart. Kalt.

An der Decke eine einzige nackte Glühbirne, und der Raum kahl und schmutzig und Hunderte von Quadratmetern, kommt es der Katharina vor, aber wahrscheinlich sind es ein paar weniger. Also eigentlich wahrscheinlich ein kleiner Raum, aber so leer, dass es hallt. Jeder panische Atemzug von der Katharina kommt als Echo von den Wänden zurück.

Und ein Gestank.

Furchtbar. Fast wie Verwesung. Nach süß und nach sauer. Fensterlos. Und eine Ecke. Die aussieht, als wäre sie Kilometer entfernt.

Aber es sind nur ein paar Meter, mehr können es nicht sein. Und irgendwo ein Luftzug, ein schmaler Schlitz knapp unterhalb von der Kellerdecke, und von dort hört man das Plätschern des Teiches. Wir sind unter der Terrasse. Die Katharina weiß gar nicht mehr, ob sie das jetzt nur denkt oder ob irgendjemand das zu ihr sagt.

Die Stimme vom Dr. Lechner, wie von fern, aber neben ihr, und ihr Blick fällt wieder auf die Ecke, und unter einer dreckigen alten Wolldecke zusammengekauert etwas.

Und der Dr. Lechner sagt: »Thomas, ich habe ein bisschen Gesellschaft für dich.«

Aber das Etwas in der Ecke rührt sich nicht.

Irgendwie zu spät merkt die Katharina, wie der Dr. Lechner sie gegen die Kellerwand lehnt, und ihre Beine knicken ein, sie sinkt zu Boden, rutscht die schmutzige Kellerwand hinunter und spürt den rohen Beton an ihrem Rücken. Kalt und feucht. Und das Bündel in der Ecke hebt schwach den Kopf, und in einem sehr klaren Moment erkennt die Katharina den gut aussehenden Mann von dem Foto auf ihrem Küchentisch, wenn er jetzt auch extrem mager und eingefallen ausschaut, der Altmann Thomas, und bleich wie ein Toter. Und wenn man jetzt von außen die Tür schließt, zwei Tote.

Und wenn und wenn und wenn, und auch wenn ich nicht kann, ich muss aufstehen. Ich muss raus hier. Wie kann ich – ich kann nicht – ich kann einfach nicht. Ich schaff es einfach nicht.

Und dann geht das Licht aus.

Und dann fällt die schwere Eisentür ins Schloss, und von außen wird zugesperrt.

Und es ist Nacht.

Und es graust der Katharina.

Graust es vor dem Halbtoten im Eck.

Graust es vor dem beißenden Geruch nach Fäkalien und Fäulnis.

Graust es vor der Diagnose vom Dr. Lechner, Subduralhämatom, Hirnblutung, hat er gesagt. Sie erledigen sich selbst.

Wenn du nichts siehst und immer weniger fühlst, bleibt nur noch die Angst.

Und ein paar klare Gedanken zwischendrin.

 

Ihr linker Arm fühlt sich taub an. Wie gestern, als sie noch nicht einmal mehr ihr Telefon aus der Jackentasche hat holen können. Der Matteo hat es für sie gemacht.

Matteo.

Er hat nicht lockergelassen, ihr hinterhertelefoniert, er ist nachts 800 km am Stück gefahren, nur um bei ihr sein zu können, hat seinen Jahresurlaub auf einmal genommen, hat sie gepflegt, bekocht, abgeholt, durch die Gegend gefahren, geh nicht allein, hat er gesagt, und sie hat wieder nur gemacht, was sie wollte, und nicht auf ihn gehört. Lass die anderen das machen, du bist krank, schon dich, ich kann für dich putzen, alles andere kann warten, hast du gut gemacht mit dem Kleinen, ich hab euch beobachtet, an dich denke ich, bevor ich einschlafe, ich will dein Atmen hören und dein Stöhnen und dein Lachen, ich will dich, ich will dich jetzt, ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen, ich liebe dich.

Matteo. Es tut mir leid.

Und plötzlich dringt ein schleifendes Geräusch in ihre Gedanken ein.

Etwas zieht sich über den Boden.

Ganz nah.

Ein Keuchen.

Ein Stöhnen.

Ein Röcheln.

Und eine knochige Hand berührt ihren Arm, den Arm, der noch fühlt, und sie schreit und schreit, obwohl sie weiß, es ist kein Grauen, kein Monster, kein Halbtoter, sondern ein Mensch, aber es widert sie dermaßen an, sie kann nichts mehr ertragen, nur schreien ohne Unterlass, einen nur vom Luftholen unterbrochenen spitzen Schrei, mit aller Kraft, die sie noch aufbringen kann, und sie versucht, die knochige Hand abzuschütteln, aber sie kann nur mühsam ein winziges Stück fortrobben auf dem Boden. Und die knochige Hand ist schneller als sie und hält sie fest.

 

Dieses menschliche Wesen, das sie in ein Loch gesperrt haben. Sie war seine einzige Hoffnung.

Die Hoffnung stirbt zuletzt.