Seit der Verhaftung waren schon einige Stunden vergangen, und es hatte sich noch nichts ereignet. Das war quälend. Zwischen Lager und Bunker gab es keine Verbindung. Keine Kunde drang von dem, was dort oben geschah, ins Lager hinein. Nur wenn am Morgen die Leichenträger ans Tor gerufen wurden, wusste man, dass der Mandrill wieder einen fertiggemacht hatte.

Sicher würden Höfel und Kropinski so rasch nicht erledigt werden. Gerade das aber war es, was Bochow am stärksten beunruhigte. Er war allein auf dem Flügel seines Blocks. Runki befand sich in der Schreibstube, und die Stubendienste schafften die Esskübel nach der Küche. Bochow malte sinnlose Sprüche für den Blockführer, und quälende Unrast war in seinem Herzen. Er warf den Halter fort und stützte den Kopf in die Fäuste. Die Gruppen mussten verständigt werden. Das konnte erst am Abend geschehen, wenn das Lager eingerückt war. Was aber mochte sich bis dahin abspielen? Bochow zergrübelte sich das Hirn. Vielleicht waren alle Sorgen grundlos? Vielleicht hielt Höfel durch und ließ sich {lieber} erschlagen, als dass er … Aber noch lebte er, und solange er lebte, war auch die Gefahr … Bochow stierte vor sich auf die Tischplatte.

Wünschte er Höfels Tod? – Erschauernd drückte er den grausamen Gedanken in den Abgrund seines Herzens zurück … {dort, wo er am tiefsten war. Ja, er wünschte Höfels Tod! –}

Noch viele andere Gedanken waren übriggeblieben, und sie dehnten sich in Wellenkreisen aus. Bochow dachte an die Waffen, die gut verborgen waren. Höfel kannte einige der Verstecke. Von den Karabinern in den Blumenkästen wusste er nichts.

Aber hatte Höfel nicht selbst in den nach Tausenden zählenden Kleidersäcken auf der Effektenkammer einige Pistolen verborgen, die von sowjetischen und polnischen Genossen ins Lager gebracht worden waren, damals, als die Rüstungsanlagen vor dem Lager noch nicht von den Amerikanern zerstört worden waren?

Für den Uneingeweihten war es unmöglich, sie zu entdecken, die Kleidersäcke trugen falsche Nummern. Für den Wissenden jedoch genügte ein Griff. Der einzig Wissende war Höfel. Die Verstecke waren sicher und konnten nur durch Verrat …

Bochow presste die Augen zu, verbarg sich im eigenen Dunkel. An nichts wollte er denken, an gar nichts! Aber die Wellenkreise, von jenem Punkt sich ausdehnend, an dem der grausame Wunsch in die Tiefe gesunken war, kehrten immerfort zurück …

Nur durch Verrat …

Es war fast nicht mehr zu ertragen! Wenn einem ahnungslosen Häftling des Kommandos einer der Säcke durch einen dummen Zufall in die Hände geriete?

Bochow stöhnte. Die fürchterliche Lähmung der Illegalität saß ihm schmerzhaft in den Gliedern. Sie machte ihm die Gelenke schwer und lag ihm als lastender Druck im Magen. Was nun machen? Galt es, zuerst den Apparat vor einem möglichen Verrat zu sichern? Gab es überhaupt eine Sicherung? Oder mussten zuerst die schutzlosen Pistolen in Sicherheit gebracht werden? Und wie machte man das? Wie nur, wie?

Bochow konnte aus seiner Verborgenheit nicht heraustreten, nicht zu irgendeinem Kumpel der Effektenkammer gehen: Hör zu, ich habe dir was zu sagen, aber halte die Schnauze, verstehst du? –

Bochow drückte die Fäuste an die Augen. Wie eine Ratte zernagte die Unruhe all seine Gedanken. {Aus dem schützenden Netz der Illegalität wurden Stricke, die ihn an Händen und Füßen fesselten. Einem Windstoß gleich durchfegte ihn plötzlich} Hass auf Höfel, der die tausend lauernden Gefahren verschuldet hatte und dessen Leichtsinn ihn zwang, ein Geheimnis nach dem andern preiszugeben. So schnell Bochow auch den aufgekommenen Hass wieder in sich niederstemmte, wissend, wie gefährlich es war, Gefühlen zu erliegen, so schnell reagierte sein Verstand, und Bochow war sich im Augenblick darüber im Klaren, dass er nur zu Krämer gehen konnte und diesen in das Geheimnis des Waffenverstecks einweihen musste. Nur Krämer war wiederum der Einzige, der den Schutz der Pistolen übernehmen konnte. Ihm musste er den Auftrag geben, einen Kumpel aus dem Kommando ausfindig zu machen, der die Sicherung des Verstecks übernahm. Verflucht! So schlüpfte ein Geheimnis nach dem andern durch die Maschen des Netzes!

Bochow nahm die Hände von den Augen und zwang sich mit Gewalt zur Klarheit der Gedanken. Was nützten alle Grübeleien? Es blieb ja doch nichts weiter übrig.

Auch Krämer saß in seinem Raum, ballte die Hände zu harten Fäusten, verfluchte Höfels Weichherzigkeit und das Kind, das so schuldlos-schuldig ins Lager gekommen war. Auch in seinem Kopf nagte die Unruhe, und auch er empfand die gleiche Machtlosigkeit vor den Gefahren, die wie Naturgewalten drohten. Doch er durfte hier nicht herumsitzen und sich den Kopf zergrübeln, es musste etwas getan werden.

Plötzlich wurde Krämer betriebsam. Aus seiner Taschenlampe, die zu benutzen ihm als Lagerältestem gestattet war, nahm er die Batterie heraus und vertauschte sie mit einer alten, ausgebrannten, steckte die Lampe ein und verließ seinen Raum.

Er ging zu Schüpp. Wie gut, dass Krämer auf den Gedanken gekommen war, die Taschenlampe mitzunehmen. Der Scharführer war in der Baracke anwesend, und so hatte Krämer einen Vorwand für seinen Besuch. Er ließ sich durch Schüpp die Batterie auswechseln. Ein paar leise Worte, ein kurzer Blick genügten, sich zu verständigen, und kurze Zeit später war Schüpp bei Krämer.

»Du musst versuchen, rauszukriegen, was sie von Höfel wollen. Ich muss es wissen.«

Schüpp schabte sich sorgenvoll das Genick. »Wie soll ich das machen?«

Krämer fuhr mit ungeduldiger Hand durch die Luft. »Egal, wie, du hast schon andere Sachen gemacht. Geh in den Bunker und repariere meinetwegen die Lichtleitung.«

Schüpp seufzte: »Da muss sie erst mal kaputt sein.«

Plötzlich bekam sein Gesicht den unschuldig-staunenden Ausdruck. Mund und Augen rundeten sich, ihm schien ein Gedanke gekommen zu sein. »Förste«, sagte er nur. Krämer wiegte bedenklich den Kopf. »Ich habe auch schon daran gedacht. Wer ist der Förste eigentlich? Hält er zu uns, oder ist er eine Kreatur des Mandrill?«

Schüpp blinzelte angestrengt, er blickte durch das Fenster auf die große Uhr am Lagertor und hatte es plötzlich eilig. »Ich versuche es.«

»Sei vorsichtig, Heinrich«, rief Krämer noch, aber Schüpp war schon draußen. Um diese Zeit, das wusste er, hatte der vom Lager streng isoliert gehaltene Bunkerkalfaktor seine tägliche freie halbe Stunde, die er gewöhnlich an der Außenseite des Lagertores spazierend verbrachte. Was Schüpp über Förste wusste, war nicht viel. Auf seinen Gängen hatte Schüpp den Kalfaktor oft spazieren gehen sehen. Aus reiner Neugierde heraus, die innere Beschaffenheit des Menschen zu erproben, hatte ihm Schüpp im Vorbeigehen vertraulich zugeblinzelt.

Förste hatte nicht merklich auf die freundschaftliche Geste reagiert, aber in seinem Gesicht war auch nichts Abweisendes gewesen. Für Schüpp ein gutes Zeichen, dem er vertraute, als er jetzt mit seinem Werkzeugkasten zum Tor ging.

Er brauchte sich nicht abzumelden, sein Ausweis legitimierte ihn. An der Außenseite des Vorgebäudes machte er sich zu schaffen. Er überprüfte das Kabel für das Stativmikrophon, das vom Zimmer des Rapportführers um das Gebäude herum ins Lager lief. Um diese Stunde war es ruhig am Tor. Der diensttuende Blockführer langweilte sich und flegelte am Schalterfenster herum. Manchmal trat er zu Schüpp und sah zu, wie dieser am Steckkontakt hantierte.

»Ist was kaputt?«, fragte er.

»Bis jetzt noch nicht«, antwortete Schüpp philosophisch. »Aber wenn der Rapportführer das Mikrophon anschließt, kann es kaputt sein, und dann ist immer der Teufel los.« Schüpp tippte auf den Kontakt. »Das ist nämlich Kriegsware, und da ist immer mal was dran. Sehen Sie, hier drinnen sind Lamellen, die schmoren oft durch.«

Der Blockführer verzog gelangweilt das Gesicht. »Halt die Schnauze«, sagte er gemütlich, an Schüpps Erläuterungen uninteressiert. Schüpp war zufrieden. Er suchte sich eine Beschäftigung nach der andern. Der Bunkerkalfaktor musste jeden Augenblick erscheinen. Tatsächlich klirrte bald darauf das Eisengitter des Bunkers, und Förste trat heraus, sich bei dem Blockführer zur Freistunde meldend. In Schüpp wuchs die Spannung. Nachdem er umständlich den Kontakt untersucht hatte, ging er dem Kabel nach. Er richtete es so ein, dass er vom Blockführer gehört werden konnte, als er Förste unbefangen fragte: »Ist eure Leitung in Ordnung?«

Der so unvermittelt angesprochene Kalfaktor blickte verwundert auf Schüpp und antwortete mit einem kurzen Nicken. Vom Blockführer unbemerkt, kniff Schüpp ein Auge zu. Förste fing das heimliche Zeichen auf, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Für Schüpp kam die zweite Phase des Manövers. Das Kabel abgehend, pirschte er sich um das Eingangstor herum nach der Außenseite des Gebäudes. Wenn Förste durch den Wink neugierig geworden war, musste er Verbindung suchen. So rechnete Schüpp. Mit Befriedigung stellte er fest, dass der Kalfaktor seine Nähe suchte. Fragend blickte er Schüpp an, der angelegentlich am Kabel hantierte und Förste durch die Zähne zuraunte:

»Schade, ich hätte eure Leitung gerne mal repariert. – Was wollen sie von Höfel?« Hastig hatte es Schüpp herausgestoßen.

Förste ging vorüber, überkreuzte den Toreingang, um sich vom Blockführer sehen zu lassen. In Schüpp war die Spannung zum Zerreißen. Das entscheidende Wort war ausgesprochen. Wie würde der Kalfaktor reagieren? Dem war nichts anzusehen. Gleichgültig setzte er seinen Spaziergang fort. Als er aber erneut an Schüpp vorbeikam, gewahrte dieser im Gesicht des Kalfaktors einen bestimmten Ausdruck. Ernst und unbeweglich waren dessen Züge, doch senkte er langsam den Blick. Das war Zustimmung. Schüpp wusste genug. Er hängte sich den Werkzeugkasten über. Das Mikrophonkabel war in Ordnung. –

Zu Krämer zurückgekehrt, sagte er: »Ich glaube, das haut hin …«

 

Das Netz der Gruppen, die sich jeweils nur aus fünf Mann zusammensetzten, überzog die Blocks aller Nationalitäten. In jedem Block gab es eine oder mehrere dieser Gruppen, die nach außen hin in keiner Weise erkennbar waren. Nur sie selbst kannten sich untereinander. Das ILK hatte sich ein System der Benachrichtigung geschaffen. Verbindungsmänner, die eine Art Instrukteurtätigkeit ausübten, sorgten dafür, dass Nachrichten und Anweisungen schnell zu den Führern der einzelnen Gruppen gelangten, die ihrerseits wieder die Mitglieder verständigten.

Zu Bochow selbst gab es nur einen Verbindungsmann, der dessen Anweisungen anderen Instrukteuren überbrachte, ohne dass diese wussten, woher sie kamen. – Bis nach dem Abendappell hatte Bochow warten müssen, ehe er seinen Verbindungsmann erreichen konnte. Das war ein qualvolles Warten gewesen. Nun aber sprang seine Anweisung wie ein schneller Funke durchs Lager, kreuz und quer von Block zu Block, und in kurzer Zeit wusste jedes einzelne Mitglied der Widerstandsgruppen von der Gefahr, wusste, dass jede Zusammenkunft und der Waffenunterricht unterbunden waren. Der gesamte Apparat hatte sich, solange die Gefahr bestand, totzustellen. Jeder Einzelne wusste von sich, dass er zu schweigen und sein Geheimnis mit in den Tod zu nehmen hatte, falls er verhaftet werden sollte.

Eine Lähmung, die von dem schweigenden Bunker dort oben am Tor ausging, breitete sich unter allen aus.

In dieser Nacht schlief der Bunkerkalfaktor nicht. Er lag auf seinem Strohsack in der Zelle und wartete. Um diese Zeit saß der Mandrill gewöhnlich im Kasino und soff. Kam er zurück, griff er sich einen Bunkerinsassen und veranstaltete in seinem Raum eine Vernehmung auf eigene Faust.

An der Art des Wehgeschreis, das dann durch den nachtstillen Bunker gellte, konnte der Kalfaktor den Grad der Vernehmung feststellen. Manchmal wurde er geholt und musste einen blutüberströmten Körper in die Zelle zurückschleifen. Manchmal auch fand er am Morgen, bevor die Leichenträger kamen, unter dem Feldbett des Mandrill einen Toten. Den zerrte er dann in den Waschraum hinüber. –

Im Bunker war es totenstill. Förste lag mit hinter dem Kopf gekreuzten Armen. Wie spät mochte es inzwischen geworden sein? Draußen schauerte der ewige Regen über das Lager hinweg.

Förste verfiel in einen leisen Dämmerschlaf, aus dem er plötzlich aufschreckte. Im Gang war es lebendig geworden.

Schwere Schritte lärmten. Förste lauschte mit wach gewordenen Sinnen. An den Schritten, die an seiner Zelle vorbeiknirschten, erkannte er den Mandrill. In der Nähe wurde eine Zelle aufgeschlossen. Mit dem Mandrill zusammen waren Reineboth und Kluttig gekommen und hatten ihre nassen Mäntel abgelegt. Reineboth saß auf dem Feldbett. Kluttig ging mit aufgeknöpfter Uniformjacke unruhig hin und her. Auf dem Tisch des Mandrill stand ein Totenschädel, der von innen beleuchtet war. Daneben lag eine Knute aus langen Lederriemen, zu einem elastischen Vierkant zusammengenäht und mit dicken Messingkuppen versehen. Sie waren nicht zur Zierde angebracht.

Vom Mandrill hereingestoßen, wankten Kropinski und Höfel ins Zimmer. Sie blieben schwankend stehen und zitterten am ganzen Körper. Ihre Kleidung war noch nass. Kropinski stand zusammengekrümmt und hatte den Kopf tief in die Schultern gezogen. Er fror entsetzlich. Auch Höfel bebte vor Kälte. Die Kinnladen zitterten ihm. Er wollte die Schwäche bekämpfen und krampfte den Unterkiefer fest, aber die Zähne schlugen umso heftiger aufeinander.

Reineboth betrachtete die beiden mit Kennermiene. Die Prügel schienen ihre Wirkung getan zu haben. Er erhob sich ohne Eile und stellte sich breitspurig auf.

»Mal herhören, ihr zwei«, sagte er schnoddrig. »Heute Mittag haben wir mit euch noch Spaß gemacht. Jetzt wird es ernst.« Wieder griff er sich Kropinski als Ersten.

»Wie ich sehe, hast du unser Deutsch sehr gut verstanden. Brav, mein Sohn.« Reineboth nahm die Knute vom Tisch und ließ sie wippend auf Kropinskis Nasenspitze tänzeln.

»Wohin habt ihr das Judenbalg gebracht?« Kropinski sah mit einem wehen Zug im Gesicht auf Reineboth, es lag etwas Bittendes darin. Reineboth ließ die Knute durch die Luft zischen. »Ich zähle bis drei, antworte!« Kropinski presste die Lippen aufeinander, sein Gesicht verzog sich, als ob er weinen wollte. »Eins, zwei, drei …« Kropinski schüttelte heftig den Kopf. Reineboth schlug ihm die Knute kreuz und quer übers Gesicht. Kropinski schrie wild auf, die Hiebe prasselten auf ihn nieder. – Geblendet taumelte er rückwärts, prallte auf Kluttig, der stieß ihn mit einem Fußtritt zurück, und Kropinski torkelte unter dem Sturzregen der Hiebe hin und her, bis er stöhnend zusammenbrach. Reineboth schlug mörderisch auf den Gestürzten ein, der sich wild am Boden wälzte. Das alles geschah hinter Höfels Rücken. Er stand mit vorgestrecktem Kopf, nach hinten lauschend, und blickte abwesend in das graue Gesicht des Mandrill. Der schien über etwas nachzudenken und betrachtete sich Höfels Kehlkopf, der beim Schlucken auf und nieder ging. Auf einmal legte der Mandrill die Pranken um Höfels Hals und drückte die Daumen auf den Kehlkopf. Höfel schwand das Augenlicht. Ersticken und Brechreiz würgten ihn. Im gleichen Augenblick aber, als ihm die Sinne vergehen wollten, bekam er wieder Luft. Der Mandrill hatte den Griff gelockert.

Höfel atmete schwer. Hinter sich hörte er das kreischende Wutgeschrei Kluttigs und die gurgelnd verröchelnden Schmerzenslaute von Kropinski. Reineboth ließ nicht eher ab, als bis der Pole verstummt war. Dann erst warf er dem Mandrill die Knute zu, die dieser geschickt auffing. Das Gesicht des Jünglings hatte nichts mehr von seiner glatten Gepflegtheit, es war hässlich verzerrt. Reineboth verkrallte die Hände in Höfels Brust und keuchte, vom Schlagen abgehetzt: »Jetzt bist du dran!« Höfel wurde von Kluttig hinterrücks überfallen, der ihm die Arme nach hinten umbog. Höfel krümmte sich vor Schmerz. Kluttig stemmte das Knie in Höfels Kreuz und drückte ihm die Arme so hoch, dass Höfel in wahnsinnigem Schmerz laut zu schreien begann und in die Knie brach. Da schlug der Mandrill zu. Das messingbeschlagene Ende der Knute sauste unbarmherzig auf Höfels Hinterkopf nieder. Höfel fiel aufs Gesicht und verlor unter den Hieben das Bewusstsein.

»Genug für jetzt«, hielt Reineboth den Mandrill auf. »In einer halben Stunde geht’s weiter.«

Der Mandrill schleppte die Zusammengeschlagenen in die Zelle zurück, übergoss sie mit einem Sturz eiskalten Wassers und schloss die Tür ab.

Durch den kalten Guss munter geworden, bewegte sich Kropinski. Er versuchte, sich zu erheben, doch die Arme knickten ihm ein. Er fiel aufs Gesicht zurück und blieb liegen. Das erwachende Blut durchbrauste sein Gehirn, nur allmählich nahm er von sich selbst wieder Besitz. Im Mund schmeckte es salzig. Kropinski öffnete die Augen. Es war lähmende Stille um ihn in diesem unbekannten Dunkel. Im Rücken verspürte er stechende Schmerzen, und jeder Atemzug war wie ein Messerschnitt. {Sein Kopf schien ihm doppelt so groß zu sein.} So lag er eine ganze Weile. Trotz der Schmerzen hatte er traumhafte Empfindungen, und sein dämmerndes Bewusstsein versank in ihnen wie in schmeichelndem Wasser. »… hat so kleine Händchen und so kleines Näschen, ist alles noch so klein …«, hörte er sich selbst zu und glaubte zu lächeln. Plötzlich schoss das traumhaft Schwebende in sich selbst zusammen. Kropinski erschrak heftig. Er tastete um sich, fühlte Nässe und Kälte, und seine Hand stieß gegen etwas Körperhaftes. Das machte Kropinski völlig wach. Obwohl es dunkel um ihn war, wusste er, dass er sich in der Zelle befand und der Körper, den er ertastet hatte, Höfel war. Noch eine Weile brauchte Kropinski, bis er die Herrschaft über seinen zerschlagenen Körper erreicht hatte. Mühselig richtete er sich auf den Knien hoch.

Er wollte sprechen und entdeckte, dass seine Lippen unmäßig geschwollen waren. Gurgelnd rief er Höfel an: »André …«

Der rührte sich nicht, und erst, als ihn Kropinski an der Schulter rüttelte, gab Höfel ein hohles Stöhnen von sich.

»André …«

Kropinski wartete auf die Antwort, er fühlte übermäßig das Pulsen der Striemen in seinem Gesicht. – Unvermittelt begann Höfel zu weinen, schütter und trocken. Kropinski tastete Gesicht und Körper Höfels ab und wusste nicht zu helfen.

»André …« Höfel verstummte. Er lag noch einen Augenblick starr und still, dann richtete er sich hoch. Es kostete ihn große körperliche Mühe. Erschöpft stützte er sich auf die Hände und ließ den Kopf hängen wie ein Übermüdeter. Wasser tropfte an ihm herunter. Er griff sich an den schmerzenden Hinterkopf, das Haar war verklebt. Nur vorsichtig konnte er über die Stellen streichen, wo die Knute getroffen hatte, die Berührungen schmerzten. Was ihm von hinten her über die Wangen tropfte, war kein Wasser … Höfel wischte mit dem Handrücken über den Mund hinweg und stöhnte. »Marian …«

»André?«

»Was haben sie mit dir gemacht?«

Spitzatmig antwortete Kropinski und versuchte, Höfel zu trösten.

»Ich wieder sein – schon – ganz – gesund …«

Sie schwiegen. Nur ihr Atem ging hörbar. Sie lauschten in sich den überstandenen Erschütterungen nach. –

Plötzlich ging an der Zellendecke die elektrische Glühbirne an. Die Tür wurde aufgerissen, und Kluttig trat hastig ein. Hinter ihm Reineboth und der Mandrill, der ein paar Stricke in der Hand hielt.

»Aufstehen!« Unbarmherzig riss Kluttigs schneidende Stimme das schützende Alleinsein hinweg wie eine Decke, und die Sinne der beiden, nackt und bloß, bebten kommenden Martern entgegen. Mit Mühe hielten sie sich aufrecht. Kluttig war voller Gier, er schrie Höfel an: »Wer sind die anderen von eurer geheimen Organisation?« Höfel durchfuhr ein eiskalter Schreck. »Willst du reden?« Kluttig packte Höfel hart an der Brust und schleuderte ihn gegen die Wand. Höfel knickte nieder. Der Mandrill warf sich über ihn, presste ihm die Hände auf dem Rücken zusammen, band sie mit dem Strick fest und riss Höfel hoch. Dieser spürte Kluttigs Atem in seinem Gesicht, der ihn wieder anschrie: »Wer sind die anderen? Rede, Mensch! Ich bringe dich um!«

Höfel ächzte. Klatschend schlug ihm Kluttig die Hände ins Gesicht und schrie in einem fort: »Wer sind die anderen? Sag die Namen!« Reineboth ließ Kluttig eine Weile schlagen, dann schob er den rasenden Lagerführer beiseite und sagte mit eindringlicher Gelassenheit: »Rede, Höfel, oder wir lassen dich baumeln, bis du nach der Mutti schreist.«

Jetzt wusste Höfel, was sie von ihm wollten, und wusste aber auch, was er zu erwarten hatte, wenn er schwieg. Er presste alle Kraft in sich zusammen und wand sich stöhnend unter der Last der inneren Qual. Reineboth beobachtete den Kampf, der sich in Höfels Gesicht abzeichnete, und als er glaubte, dass die Krise herannahte, gab er dem Mandrill einen Wink. »Hängen!«

Höfel durchfuhr es wie ein Feuerstoß. Er stieß einen langgezogenen Schrei aus. Die Angst vor der entsetzlichen Tortur machte seinen Körper so nackt, als wäre er ohne Haut. Schreiend stemmte er sich gegen den Mandrill, der ihn zum Fenster zerrte und den Strick durch das Gitter warf. Eben wollte der Mandrill anziehen, als ihn Reineboth daran hinderte. Höfels irres Schreien übertönend, brüllte er: »Sag zwei Namen! Sag einen, hörst du, nur einen! Los! Sag!«

Noch einen Augenblick wartete Reineboth. Gleich musste die Angst den Damm des Willens zerreißen und ihn überfluten.

»Los, schnell! Rede!« Doch Höfel hörte nicht. Er schrie. Warf den Kopf in den Nacken und bewegte ihn konvulsivisch hin und her. Da zog der Mandrill den Strick mit einem Ruck zu.

Höfels Arme wurden nach hinten hochgerissen, die Schultergelenke knackten. Er baumelte! – Sein Geschrei ging in einen pfeifenden Ton über. Die bis zum Platzen gespannten Nackenmuskeln wurden eisenhart und der weit vorgereckte Hals starr und steif wie Stein. Nachdem der Mandrill den Strick am Gitter verknotet hatte, stürzte er sich auch auf Kropinski, der angstvoll in einer Ecke zusammengekrochen war.

»Ich gar nichts wissen«, weinte er auf. Er wurde gefesselt, zum Fenster gezerrt und neben Höfel hochgezogen. Sie schrien beide wie Tiere. Reineboth kannte den Ablauf des Prozesses.

Länger als zwei Minuten hielten die Schreie selten an, dann war die Kraft verbraucht und reichte nur noch zu einem kindhaften Wimmern. Kluttig stand mit hüftgestützten Fäusten vor den Hängenden. Seine Augenlider zitterten. Solange die beiden schrien, hatte es keinen Zweck, mit ihnen zu sprechen, sie hörten doch nichts. Man musste warten. Der Mandrill zündete sich eine Zigarette an.

Alle drei benahmen sich wie bei einem Experiment. Höfels Kopf sank zuerst auf die Brust. Er röchelte nur noch. Jetzt war es so weit.

»Hör zu, Höfel! Wir binden dich jetzt ab; wenn du nicht aussagst, was du weißt, dann baumeln wir dich so lange auf, bis aus dir ein Hampelmann geworden ist.« Reineboth trat zu Kropinski. »Das gilt auch für dich, Pole!« Zur Bekräftigung seiner Drohung fasste Reineboth beiden an den Hosenbund und riss daran wie an einem Klingelzug. Jeder Ruck, der die Last der hängenden Körper um Zentner vermehrte, ließ die beiden messerscharf aufschreien. Ihre Gesichter verfärbten sich. Reineboth begleitete das teuflische Spiel mit freundlichen Worten: »Damit ihr seht, dass wir keine Unmenschen sind, binden wir euch jetzt los. Ich rate euch, dafür dankbar zu sein.« Auf seinen Wink hin löste der Mandrill die Stricke, und die beiden sackten zu Boden.

Reineboth wechselte mit Kluttig einen Blick, der nickte zustimmend. Der Mandrill richtete die Körper an der Wand zu halb sitzender Stellung auf. Reineboth schob Höfels herunterhängenden Kopf mit der Stiefelspitze hoch.

»Was weißt du über Krämer?« Höfel hielt die Augen geschlossen. {Einen Augenblick lang empfand er die Stiefelspitze unter dem Kinn sogar als Erleichterung.} Reineboth wartete eine Weile, dann ließ er Höfels Kopf fahren, der auf die Brust zurücksank. »Gut«, sagte er dabei, »fangen wir von der anderen Seite an. Was hast du uns über dich selber zu erzählen?«

Die sekundenlange Stille des Wartens wurde durch Kluttig zerrissen, der in gellender Wut losbrüllte und wie ein Fußballspieler auf die beiden eintrat.

»Wollt ihr reden, ihr Halunken?«

Reineboth, klüger und beherrschter als Kluttig, hielt diesen von weiteren Misshandlungen zurück und bedeutete ihm durch ein Zeichen, ihn gewähren zu lassen. Er beugte sich zu den beiden, die am Boden lagen. »Hört zu. Wir lassen euch jetzt in Ruhe. Wir kommen bald wieder. Schnappt inzwischen Luft und überlegt es euch genau. Entweder ihr erzählt uns, was wir wissen wollen, und bleibt am Leben, oder wir hängen euch am Halse auf, und dann hat euer kleines Kind keine lieben Onkels mehr.«

Reineboth richtete sich auf und sagte höhnisch: »Kommen Sie, meine Herren, die Patienten brauchen Ruhe zum Nachdenken.« –

Der Schlüssel knackte unbarmherzig hart im Schloss, das Licht erlosch. –

Gütig war die Nacht. Ihre schützenden Stunden glitten lautlos, wie heilende Hände, über die beiden hinweg. Förste brauchte nicht mehr zu lauschen, er wusste, für heute war es vorbei.

Er schlief ein. In der Zelle aber, unweit der seinen, hatte es zu flüstern begonnen, so leise, dass die Luft im Raum kaum davon bewegt wurde.

»Was sie wollen wissen für Namen von uns?«

Höfel antwortete nicht auf Kropinskis Frage. Aneinandergestützt, hatten sie sich an der Wand aufgerichtet, um in ihren nassen Sachen auf dem eisigen Zementboden nicht zu erfrieren.

»Du es mir nicht wollen sagen?«, begann Kropinski nach einer Weile wieder. Doch Höfel schwieg noch immer. Er ließ den Kopf hängen, und die Dunkelheit schützte ihn davor, dass Kropinski sein Gesicht sehen konnte. Dessen Fragen waren wie eine Pflugschar in Höfel eingedrungen und hatten die alte Schuld aufgeworfen wie Erdreich. Der Schmerz seines Herzens floss zusammen mit den Schmerzen des zerschundenen Körpers. Höfel zerbröckelte wie morsches Gestein. Nun hatte er Kropinski mit hineingerissen! Um seiner Schuld willen musste der Schuldlose alle Qualen mit erdulden und ging mit ihm in den sicheren Tod. Aus dieser Zelle führte kein Weg wieder hinaus.

Im Glauben, des Kindes wegen hier zu sein, fragte ihn der Ahnungslose, warum wohl Namen von ihnen erpresst wurden, die in keinem Zusammenhang zum Kind standen. – Die Kälte der Zementwand drang Höfel durch die durchnässte Jacke. Die Arme, vom Hängen gelähmt, hingen leblos herab. Kropinski fragte nicht mehr. Er war mit seiner eigenen Not beschäftigt. Auch ihm fraß sich die Kälte immer tiefer in den Körper. Die Dunkelheit in ihrem Zellenkasten war ein schwarzer, abgestorbener Klumpen Nacht, herausgeschnitten aus dem Leib der draußen atmenden Natur. Nun besaßen sie nichts mehr als ihr eigenes Herz, das so sonderbar lebendig pochte, wie eine emsige Uhr.

Höfels Gedanken kamen vor dem Block der Schuld nicht weiter. Sie verirrten sich in dem Geröll seines geborstenen Ichs, stolpernd einen Weg sich suchend in dem weglosen Gewirr. Seine Nerven glichen glühenden Drähten, und in ihm schrie es, als würde er noch immer hängen. Um der Angst zu entfliehen, flüsterte er hastig und getrieben: »Sie kommen wieder! Du! – Sie kommen wieder! – Wir werden noch mal aufgehängt! … Du, das halte ich nicht noch einmal aus! – Ich …« Höfel presste den Kehlkopf zu. Die Worte, {auf dem hastigen Fluss des Atems nach außen gestoßen,} stauten sich. Höfel lauschte neben sich. Dort blieb es still. Kropinski sagte nichts. Die Verzweiflung wurde Höfel {zum Abgrund}. Der da neben ihm stand, hatte die gleiche Angst wie er selbst und warf ihm kein helfendes Wort zu, an das Höfel sich im Strudel der Auflösung hätte klammern können.

»Feig bin ich«, flüsterte er völlig vernichtet, mochte nun auch der letzte Rest in ihm zerbrechen. Er konnte nicht sehen, dass Kropinski mit energischem Kopfschütteln abwehrte, saugte aber gierig das Geflüster neben sich auf. »Du haben nur Angst. – Ich haben auch Angst«, flüsterte Kropinski brüderlich. »Wir sind nur arme kleine Menschen, arme, kleine, wie kleines Kind.« Sein schlichtes Wesen schenkte ihm keine stärkeren Worte. Plötzlich wurde Höfels Atem heiß. Tonlos schrie er auf:

»Es geht doch gar nicht mehr um das Kind! – Es geht um anderes!« Er stöhnte. »Wenn sie wiederkommen! – Ich kann nicht noch einmal hängen, ich kann nicht! O mein Gott! – Du weißt doch gar nicht, Marian, du weißt doch gar nicht …« {Um was ging es nur? Kropinski fragte ahnend: »Die Namen …?«

»Ach, die Namen! Die stimmen doch alle gar nicht! – Aber das andere, das andere …«}

Im Drang zu helfen flüsterte Kropinski: »Was nur ist? – Du müssen es mir sagen.«

Höfel trieb es, darüber zu sprechen, um sich vor Kropinski von der Schuld zu entlasten, dennoch war ein Widerstand in ihm, das tief zu Bewahrende aufzudecken. Doch der da neben ihm stand, war ja sein Todeskamerad und würde es mit hinübernehmen. – Dieser Gedanke gab den Ausschlag, und Höfel begann zu erzählen, erst stockend, Fetzen um Fetzen von seinem Geheimnis abreißend. »Sie wollen wissen, wer die Genossen im Apparat sind … Wir haben nämlich einen Apparat … Davon weiß das Lager nichts. Keiner weiß etwas …« Er berichtete von seiner Tätigkeit als militärischer Ausbilder. »Weißt du, wir sitzen abends unter einer Baracke im Revier, unter der Erde, verstehst du? … Ich zeige ihnen, wie man eine Pistole anschlägt und wie man zielt …« Er berichtete, wie sowjetische Genossen heimlich Waffen ins Lager geschmuggelt hatten, und als Kropinski fragte, ob es auch polnische Kameraden in den Gruppen gäbe, bejahte Höfel und schilderte die mutige Tat des Joseph Lewandowski. »Das war vor dem Bombenangriff aufs Lager gewesen, damals standen die Gustloffwerke noch, und in der großen Halle wurden Karabiner hergestellt. Wir wollten einen davon ins Lager bringen. Das hat der Lewandowski gemacht … Wir haben einen Tag abgewartet, an dem der schiefe Blockführer vom Block 19 Tordienst hatte, der kann nämlich kein Blut sehen, und an diesem Tag hat Lewandowski getan, als ob ihm übel wurde, und ist an der Maschine umgefallen, und da hat er …« Höfel schluckte, »da hat er absichtlich den Arm in den Support gehalten. – Der ganze Unterarm ist ihm dabei aufgerissen worden. Er hat schrecklich geblutet, und wir haben ihn auf die Bahre gelegt, und unter Lewandowski lag der Karabiner … Das Blut hat nur so getropft, aber Lewandowski war ganz still, als wir zum Tor kamen, und hat sich nicht gerührt. {Der schiefe Blockführer hat einen Heidenschreck gekriegt und nach nichts gefragt. Und da haben wir} Lewandowski schnell durchs Tor getragen. – Den Karabiner haben wir nachher am Lauf und am Kolben abgeschnitten. Der ist unser Übungskarabiner geworden. An ihm zeigte ich den Genossen, wie man ladet und wie man das Schloss bedient und wie man es auseinandernimmt.«

Höfel brach ab. Er hatte genug gesagt von dem, was die Angst aus ihm herausgetrieben …

Jetzt war er froh, neben sich einen zu haben, der es nun auch wusste und mit dem er sich verbunden fühlte.

Kropinski hatte atemlos zugehört. Er wollte so gern etwas sagen, doch war er zu überwältigt. »Dobrze«, flüsterte er nur immer wieder, »dobrze, dobrze.«

Die Erzählungen hatten Höfel etwas gefestigt. Er wusste von sich, dass er im Grunde nicht feig war und den Willen hatte, durchzuhalten. Die entsetzliche Angst kam von den Nerven. Er brauchte nur daran zu denken, dass sie wiederkommen und ihn noch einmal hängen würden, sofort schauerte er zusammen. Die Muskeln zitterten, und die Angst überflutete ihn. Er bebte vor dem entsetzlichen Moment zurück, da die Brücke zwischen Kraft und Willen zerreißen wollte, darum suchte er jetzt Halt bei Kropinski, und es war fast eine flehentliche Bitte um diesen Halt, als er nach einer Weile zu Kropinski sagte: »Siehst du, darum wollen sie die Namen wissen.«

»Aber du wirst nicht verraten?«

»Verraten, verraten, ich will nicht verraten! Sie hängen mich wieder, und ich halte es nicht mehr aus!« Kropinski verstand es, er wollte helfen und hatte nichts als seine Solidarität. »Ich auch werde hängen, und ich nun alles wissen, wie du. Wir sind arme kleine Menschen und ganz allein, und keiner uns beschützen. Aber wir werden nichts sagen, kein Wort. Nicht wahr, André, wir werden nichts sagen, kein Wort. Wir werden schreien, immer schreien, wenn sie wissen wollen die Namen. Das ist besser, als wenn wir sagen …«

Kropinskis einfache Worte erwiderte Höfel mit einem innigen Gefühl des Dankes. »Ja, du! – Du hast recht. Wir schreien eben, nicht wahr, dann können wir nichts verraten.« So halfen sie sich und benutzten die Schwäche als Kraft, stärkten die Pfeiler der Brücke, damit sie unter den bald wieder über sie hereinbrechenden Fluten nicht zusammenstürzen würde.

 

Die Stunden des Vormittags gingen Krämer in quälender Ungewissheit dahin. Schon einmal war Bochow bei ihm gewesen, aber er hatte nichts melden können und wusste nicht, ob es Schüpp gelingen würde, in den Bunker einzudringen. Es gehörte zu seiner Funktion als Lagerältester, dass er oft zum Tor gerufen wurde. Das war für ihn niemals ein angenehmer Gang. Heute hatte ihn Reineboth schon zweimal zu sich beordert. Wieder knackte es im Lautsprecher, und Reineboths lässiger Jargon quakte in Krämers Raum. »Der Lagerälteste sofort zum Tor, aber dalli!«

Krämer zog den Mantel über, stülpte sich die Mütze auf. Verflucht, was will der Kerl schon wieder?

Krämer rannte über den Appellplatz zum Tor hinauf wie über dünnes Eis. Wie lange wird es noch halten? Hat Höfel inzwischen Aussagen gemacht? Um seine Person fürchtete Krämer niemals, mochte mit ihm auch geschehen, was wollte. Er wusste von sich, dass ihn nie, auch in der gefährlichsten Situation nicht, die Schwäche niederwerfen würde. Sein Puls ging um keinen Schlag schneller. Die Fähigkeit, alles in sich zu verschließen, machte ihm den Kopf frei, und Krämer blieb bei aller inneren Leidenschaftlichkeit kühl und sich selbst und dem Gegner überlegen.

So stand er auch jetzt vor Reineboth. Der setzte sich mit schlenkerndem Bein auf die Tischkante, bot Krämer sogar eine Zigarette an.

»Ich bin Nichtraucher.«

»Richtig, unser Lagerältester raucht ja nicht. – Ein seltsamer Lagerältester …« In Krämers Gesicht bewegte sich nichts, was Reineboth hätte zeigen können, ob der Scherz angekommen war. Während sich Reineboth eine Zigarette anzündete, entschied er sich, gerade aufs Ziel loszugehen.

»Über Höfel wissen Sie wohl Bescheid?«

»Jawohl, Rapportführer, zwei Mann von der Effektenkammer wegen eines versteckten Kindes im Arrest.«

»Sie sind gut unterrichtet.«

»Das muss ich als Lagerältester sein.«

»Dann wissen Sie wohl auch, was in dieser Nacht im Bunker passiert ist?«

»Nein.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Höfel ist tot.«

Reineboth machte die Augen schmal, als blicke er über den Lauf eines Revolvers, doch er entdeckte nichts. Weder in Krämers Augen noch in dessen Zügen. Hinter Krämers Stirn konnte Reineboth nicht sehen. Dort stand ein Gedanke als Gewissheit: Du lügst! – Reineboth verlor durch Krämers Sicherheit den Boden, er wandte sich ab und bemerkte scheinbar gleichgültig: »Beim Abendappell streichen Sie zwei als Abgang vom Bestand. Den Höfel und den Polen, den Dingsda …«

»Den Kropinski.«

Reineboth wurde unsicherer und ärgerte sich, schnauzte:

»Jawohl, den Kropinski.«

Er hatte sich nicht mehr in der Hand und machte Fehler.

»Da haben die zwei wohl zur rechten Zeit einen kalten Arsch gekriegt?«, sagte er mit verzogenen Lippen, er besaß die Fähigkeit, selbst ein derbes Wort elegant zu servieren. »Darüber sind Sie froh, was?« Sein Blick huschte über Krämers Gesicht.

»Aber da ist ein kleines Pech passiert. Sie haben vor ihrem seligen Ende noch gebeichtet.« Wieder der huschende Blick.

Krämer zog die Augenbrauen hoch.

»Sie haben das Kind also gefunden?«

Das überrumpelte den Fuchs. Reineboth machte einen weiteren Fehler. »Das Kind? – Ich bin dem Kind sehr dankbar. Es hat uns auf die Schliche geholfen.«

Jetzt war die Lüge offenkundig!

»Gebeichtet« haben konnte nur Höfel, Kropinski wusste von nichts. Und Höfel lebte und hatte nichts gestanden.

Sie redeten um die Sache herum. {Sie deckten sie auf und deckten sie wieder zu.} Reineboth {kam nicht voran, er} fürchtete, sich zu weit nach vorn gewagt zu haben. Um einen letzten Triumph auszukosten, trat er dicht vor Krämer, zielte wieder über Kimme und Korn:

»Also buchen Sie ab.«

»Jawohl.« Krämer hielt dem Blick stand, nicht einmal die Lider zuckten ihm. Sie standen sich gegenüber und beherrschten sich unerhört. Reineboths Blick wurde kalt und gefährlich, der Jüngling hörte sich selbst zu, wie er tief innen auf Krämer loszubrüllen begann. Doch davon ließ er Krämer auch nicht durch die geringste Veränderung seiner äußeren Haltung etwas wissen, er gab ihm nur einen kurzen Wink: »Ab!«

Als Krämer gegangen war, schleuderte Reineboth die Zigarette fort, stieß die Hände in die Hosentaschen und warf sich ungeschickt auf den Stuhl, stierte vor sich hin. Den psychologischen Weg hatte er sich versperrt. –

 

Wenn sie Höfel nun wirklich umgebracht haben? – Einen Lebenden als tot vom Bestand zu streichen, das hatte es noch nie gegeben. – Krämer ging mit schweren Gedanken in seinen Raum zurück.

Hatte ihm Reineboth die Wahrheit gesagt? Wo begann sie, wo begann die Lüge? – Es ging ja nicht um das Kind!

Wie unheimlich und gefahrgeladen waren die Stunden, seit Höfel im Bunker saß! Jede Stunde, die noch verging, konnte wie ein Geschoss explodieren, von innen heraus bersten. Schlagartig würden sämtliche Blockführer ausschwärmen, sich auf die einzelnen Kommandos rund um das Lager und in die Blocks stürzen, dort, wo die Genossen des Apparats zu finden waren. In weniger als einer Stunde wären die Genossen zusammengetrieben. Der Bunker war dann ihre letzte Station!

Hatte Krämer das Gefühl gehabt, auf dünner Eisdecke zu gehen, als er zu Reineboth eilte, so ging er jetzt den Weg zurück wie auf schmalem Steg über einem Abgrund. Eben bog er um die Schreibstube, als es aus dem Hauptlautsprecher am Tor über das Lager rief: »Der Lagerelektriker zum Tor.« Krämer blieb stehen. Der Befehl wurde wiederholt: »Der Lagerelektriker zum Tor. Tempo!« Krämer machte kehrt und lief in Richtung der Elektrikerbaracke. Schüpp, den Werkzeugkasten über der Schulter, kam ihm schon entgegen.

»Pass auf, Walter, es klappt.« Sie verständigten sich kurz.

»Höfel soll tot sein …« Schüpp bekam vor Schreck runde Augen.

»Mensch, Walter!«

Und Krämer: »Lauf, Heinrich, vielleicht kannst du was Genaues erfahren.« Schüpp eilte fort, Krämer sah ihm nach. –

 

Förste hatte Wort gehalten. Auf unerklärliche Art war der Strom im Bunker weggeblieben. Die Sicherungen waren durchgebrannt. Schüpp untersuchte den elektrischen Kocher im Aufenthaltsraum des Mandrill und ließ sich von Förste zur Hand gehen. Der Mandrill stand misstrauisch daneben, er ließ ungern einen Häftling in sein Reich. Zwischen Schüpp und Förste war schweigendes Einverständnis. Schüpp vermied jede Vertraulichkeit. Knapp und sachlich gab er dem Kalfaktor Bescheid, was dieser zu tun hatte. Er musste den Kocher festhalten, als Schüpp die Schrauben löste. Umständlich untersuchte er die Eingeweide des Kochers und fand nichts daran auszusetzen.

»Der Kocher ist in Ordnung«, sagte er mit einem Anflug von Redseligkeit. »Gewöhnlich ist so ein Ding schuld, wenn es Kurzschluss gibt.«

Der Mandrill fuhr ihn barsch an: »Quatsch mich nicht voll und bring das in Ordnung.«

»Jawohl, Herr Hauptscharführer«, entgegnete Schüpp folgsam und übertrug seine Geschäftigkeit auf Förste. Die Schalter prüfend, meinte er zu ihm: »Die Leitung scheint tot zu sein …« Mit dem sicheren Instinkt des Gefangenen verstand der Kalfaktor die Chiffre der Anspielung. Sofort hatten die beiden Häftlinge den notwendigen Kontakt, um sich trotz der Gegenwart des Mandrill weiter zu verständigen.

»Der Hauptscharführer hat schon selbst den Apparat untersucht und nichts gefunden«, sagte Förste. Schüpp verwischte die Chiffre mit einer unverfänglichen Bemerkung:

»Da müssen wir die Leitung nachsehen, irgendwo steckt der Kurzschluss.« Sie suchen nach dem Apparat, und Höfel ist nicht tot. Er hat auch noch nichts gestanden. So übersetzte sich Schüpp die versteckte Rede. Das war eine wertvolle Nachricht. Wie aber ließ es sich einrichten, durch Förste über das Schicksal der beiden Verhafteten auf dem Laufenden gehalten zu werden? Denn Schüpp konnte nicht tagelang an der Leitung herumreparieren.

»Warum musst du die Leitung nachsehen?«, fragte der Mandrill mit kratziger Stimme. Schüpp beruhigte ihn: »Das geht schnell, Herr Hauptscharführer, es kann an einer Stelle der Draht gebrochen sein.« Er ließ sich von Förste eine Leiter bringen und begann, die Oberleitung zu untersuchen. Förste musste die Leiter halten. Vom Aufenthaltsraum rückten sie Meter für Meter in den düsteren Bunkergang hinein. Der Mandrill stand an der Tür seines Raums und beobachtete sie. Schüpp setzte schweigend seine Arbeit fort. Mit diesem finsteren Tier musste er vorsichtig umgehen, in seinem Hirnkasten indessen arbeitete es angestrengt nach einer Möglichkeit, ungefährdet mit Förste sprechen zu können. Gerade das Schweigen zwischen ihnen drängte zur Aussprache, die nur möglich war, wenn der Mandrill ihnen nicht folgen würde. Sie rückten im Gang immer weiter vor, und die Entfernung zwischen ihnen und dem Mandrill wurde größer. Stieg er ihnen hinterher?

Um ihn zu beschwichtigen, entwickelten sie eine emsige Betriebsamkeit, doch zwischen laut hingeworfenen Worten, die dem Mandrill galten: »Stelle die Leiter ein bisschen steiler … so ist es gut … halt fest …«, schmuggelten sie hastige Hauchfetzen ein, die weniger als ein Flüstern waren.

»Ich passe auf, wenn du Freistunde hast …«

Ohne Förstes Antwort abzuwarten, stieg Schüpp auf die Leiter und fingerte am Draht herum.

Sie behielten beide den Mandrill scharf im Auge. Mit Interesse verfolgte Förste die Arbeit des Elektrikers, und als Schüpp herabgestiegen kam und sie die Leiter gemeinsam weitertrugen: »Nun wollen wir auch noch das letzte Stück nachsehen …«, gab Förste zurück: »Wenn Höfel singt, bücke ich mich und mache mir den Schuh zu …« Schüpp hatte verstanden, das genügte, um weitere Nachrichtenübermittlung zu sichern. Er stieg hinauf und rief nach einer Weile zu Förste hinunter:

»Das geht in Ordnung!« Sie nickten sich mit den Augen zu und hatten sich nichts mehr zu sagen. Gemeinsam trugen sie die Leiter wieder nach vorn.

»Na, was ist?«, knurrte der Mandrill böse. Schüpp hob bedauernd die Schultern. »An der Oberleitung finde ich nichts. Ich muss mal nach draußen gehen und den Anschluss nachsehen.«

Die Oberleitung lief am Giebel des Bunkerflügels zum Erdanschluss hinunter. Kurz über dem Boden ragte die Anschlussstelle aus der Erde. Hier war der Draht gerissen. Schüpp schmunzelte. Der Förste war ein findiger Kerl.

Schnell hatte Schüpp den kleinen Schaden behoben und ging zum Bunker zurück. Er schraubte neue Sicherungen ein, und das Licht war wieder da! – Der wortkarge Mandrill schien zufrieden.

»Was war denn los?«

»Nichts Besonderes, Herr Hauptscharführer, nur ein kleiner Kurzschluss am Erdkabel.«

»Warum hast du das nicht gleich nachgesehen?«

Schüpp breitete unschuldig die Arme aus. »Wenn man das nur immer sofort wüsste …«

Der Mandrill hatte dem Fachmann nichts zu erwidern, er entließ ihn mit einer herrischen Kopfbewegung. Schüpp schulterte seinen Werkzeugkasten. Förste beachtete den Elektriker gar nicht, als dieser den Bunker verließ. –

Schüpp berichtete. Es schien, als ob Krämer aufmerksam zuhören würde. Wie es seine Art war, saß er mit breit ausgelegten Ellenbogen und auf die Fäuste gestütztem Kinn am Tisch. Aber er hörte längst nicht mehr zu. Lebhaft schilderte Schüpp, wie es ihm gelungen war, die Aufmerksamkeit des Mandrill abzulenken. Höfel hatte standgehalten! – Jetzt erst wusste Krämer, wie aufgerissen er gewesen war seit Höfels Verhaftung. Er hatte ihn geliebt, rau. Er hatte ihn verflucht, und nun liebte er ihn wieder.

Eine Frage des Elektrikers machte ihn wach. »Ist Höfel in der Leitung?« Als hätte ihn die Frage selbst erschreckt, fügte Schüpp schnell hinzu: »Du brauchst mir nicht zu antworten.«

Krämer hob den Blick und sah Schüpp wortlos an. Schüpp erkannte darin die Antwort, er fragte nicht weiter, ihm genügte das wenige. Sie saßen sich gegenüber, jeder von seinen eigenen Gedanken umgeben. In Krämer löste sich die letzte Starre und wandelte sich zu einem starken, brüderlichen Gefühl für Höfel.

»Nun gehen sie uns wegen dieser dummen Geschichte mit dem Kind noch vor die Hunde …« Er starrte gedankenvoll vor sich hin.

»Man muss was riskieren«, sagte Schüpp, »sie aus dem Bunker rausholen.« Krämer lachte ungläubig. »Wie willst du das anstellen?«

»Mit Zweiling!« Schüpps rasche Antwort war keine Augenblicksidee. Krämer winkte ab. »Der Hund hat sie doch erst hineingebracht …«

»Weiß ich«, nickte Schüpp, »Pippig hat es mir erzählt. Gerade darum sollten wir es probieren. Bei der Sonderkompanie hat es doch auch geklappt.«

Krämer blieb unüberzeugt.

»Das war etwas anderes.« –

Vor Jahren war eine Anzahl politischer Häftlinge durch eine großangelegte Zinkerei krimineller Elemente in eine Sonderkompanie gesteckt und durch die Solidarität ihrer Kameraden des Lagers wieder daraus befreit worden. Schüpp ließ sich durch Krämers Einwand nicht von seinem Gedanken abbringen, er rutschte eifrig auf die Stuhlkante vor.

»Zweiling will sich hüben und drüben ein Loch offenhalten und bei keinem anecken. Das sollten wir ausnützen. Pippig muss ihn rumkriegen. Soll ich mal mit ihm reden?«

Für einen Augenblick war Widerwillen in Krämer. Nicht, weil er sich sträubte, die SS zu benutzen, um bedrohten Gefährten zu helfen, das hatte man seinerzeit bei der Sonderkompanie auch getan. Damals hatte der Machtkampf zwischen den Kriminellen und den Politischen die Kameraden in Gefahr gebracht. Diesmal aber war es ein SS-Mann, der Höfel und Kropinski mit der Vernichtung bedrohte.

Ausgerechnet dieser Zinker sollte … Welch skurriler Gedanke. Und dennoch, Krämer bohrte sich in ihn hinein. Zwischen dem Kommandanten und Kluttig bestand eine ewige Gegnerschaft. Kluttig hielt es mit den Ganoven des Lagers, der Kommandant ließ nichts auf die Politischen kommen. Gelänge es, Zweiling auf den Kommandanten zu hetzen … Krämer traute Pippig diese Wendigkeit schon zu. Schüpps runde Augen hingen sehnsüchtig an Krämer. Der brummte und wischte mit der Handkante über die Tischplatte hinweg, mochte nicht ja, nicht nein sagen.

»Aber packt mir die Sache vorsichtig an«, meinte er schließlich.

 

Seit Schüpp mit ihm gesprochen hatte, war Pippig die Möglichkeit, über Zweiling den Freunden zu helfen, bewusst geworden. Er spannte auf eine Gelegenheit, mit Zweiling ins Gespräch zu kommen. Die ergab sich bald.

»Haben Sie über den Zinker noch nichts rausgekriegt?«, fragte er Pippig, der ihm eine Liste ins Zimmer brachte.

»Nein, Hauptscharführer, wir werden ihn wohl auch nicht rauskriegen.«

»Warum nicht?« Zweiling schob die Zunge auf die Unterlippe.

Pippig war aus anderem Holz geschnitten als der warmherzige Höfel und ging kühn auf sein Ziel zu. Wie ein Seiltänzer vorsichtig und dennoch sicher seinen Fuß aufsetzend, so setzte Pippig seine Worte auf den messerscharfen Grad der Zweideutigkeit.

»Der Lump hat sich viel zu gut getarnt.« Hintergründig fügte er hinzu: »Aber wir wissen jetzt, warum er das gemacht hat.«

»Da bin ich aber neugierig.«

»Der Kerl hielt sich nämlich für besonders gescheit und glaubte, sich beim Lagerführer einen Schinken in Salz legen zu können.«

»Warum denn?«, fragte Zweiling lauernd. Pippig zögerte mit der Antwort.

Er überlegte blitzschnell, und blitzschnell auch folgte die Entscheidung, nun war er auf dem Seil, und es hieß darüberzukommen.

»Da braucht man gar nicht viel zu fragen, Hauptscharführer, da braucht man bloß auf die Frontkarte zu gucken.«

Unwillkürlich drehte sich Zweiling nach der Wand um, an der die Karte hing. Gespannt verfolgte Pippig die Bewegungen, und als Zweiling ihn wieder ansah, hatte Pippig ein vielsagendes Lächeln um den Mund. Zweiling wurde unsicher. Galt das ihm? – Auch er lief wie auf einem Seil. Er entschloss sich, das Versteckspiel mitzumachen.

»Sie meinen, der Zinker will sich ein Loch aufmachen, wenn’s mal andersrum geht? …«

»Na klar«, antwortete Pippig trocken. Das Gespräch verklemmte sich. Jetzt musste Pippig in die beabsichtigte Richtung vorstoßen. »Wenn’s mal andersrum geht«, wiederholte er Zweilings Worte und machte mit den Händen eine bezeichnende Geste des Wendens. »Aber wie rum? – Das weiß keiner …«

Zweiling lehnte sich zurück und entgegnete leer und belanglos: »Na, so schlimm wird es nicht werden.«

In Pippig knisterte die Spannung, er war verstanden worden. Noch einen Schritt weiter wagte er sich nach vorn.

»Das hängt von Ihnen ab, Hauptscharführer.« Zweiling schob die Zunge wieder auf die Unterlippe, in ihm war nicht weniger Spannung. Er antwortete nicht, so dass Pippig fortfahren musste.

»Wir würden gern sagen: Hauptscharführer Zweiling ist ein feiner Kerl, er hat uns Höfel und Kropinski aus dem Bunker geholt …«

In Zweiling schlug eine heiße Welle hoch, das war ein offenes Angebot. Blitzschnell rollten in ihm die Reaktionen ab. Noch schützte ihn die Kluft zwischen ihm und den Häftlingen. Eines Tages konnte sie zusammenstürzen, dann hatten sie ihn an der Gurgel: Du hast Höfel und Kropinski auf dem Gewissen! – Auch für die SS gab es das unerbittliche Entweder-oder. Für die Häftlinge Freiheit oder Tod, für die SS Kampf bis zum letzten Mann oder Flucht ins Ungewisse. Zweiling hatte keine Lust, bis zum letzten Mann mitzukämpfen. Das Angebot lockte.

»Wie soll ich denn das machen?«, fragte er unsicher.

Triumph! Jetzt war Pippig über das Seil hinweg und hatte wieder festen Boden unter den Füßen.

»Ihnen kann es doch nicht schwerfallen, mal mit dem Kommandanten zu reden, Sie wissen doch, was der für große Stücke auf die Politischen hält.« Zweiling stand brüsk auf und trat rasch zum Fenster. In ihm arbeitete es. Sollte er Pippig rausschmeißen oder zusagen? – Unklar und verwaschen tat er beides, drehte sich zu Pippig herum und sagte grob: »Scheren Sie sich hinaus!«

Als Pippig sich abkehrte, fuhr er ihn an: »Und halten Sie da draußen die Schnauze, verstanden?«

Und ob Pippig verstanden hatte! Treuherzig erwiderte er:

»Aber Herr Hauptscharführer, darüber redet man doch nicht …«

In Zweiling war grenzenlose Wut! Er setzte sich an den Schreibtisch. Sein Blick wischte über die Landkarte hinweg.

Noch vor wenigen Tagen hatte er die Pfeile bis Mainz ziehen müssen, jetzt rückten sie bereits bis Frankfurt vor …

Oben, im Norden der Westfront, zeigten die Pfeile auf Duisburg. Wie lange würde es noch dauern, und er musste die Pfeile nach Kassel richten? Dann ging es von Westfalen und Hessen nach Thüringen hinein …

Die hohle Wut, sich Pippig ausgeliefert zu haben, ging über in fressende Angst … Du hast Höfel und Kropinski auf dem Gewissen … Wie sicher sich die Kerle bereits fühlten … {Mit dem Kommandanten reden? – Wie die sich das vorstellen?}

 

Um die Mittagszeit kam Bochow zu Krämer.

»Neues?«

»Nichts Neues.«

Bochow kniff die Lippen zusammen. Die Unruhe war ihm vom Gesicht abzulesen.

»Ist was passiert?«, fragte Krämer. Bochow gab keine Antwort. Er schob die Mütze aus der Stirn, machte eine Bewegung, als wolle er sich auf den Stuhl setzen, und unterließ es. Der Entschluss, über Krämer die Sicherung des Waffenverstecks einem Außenstehenden anzuvertrauen, fiel ihm unendlich schwer. Zum ersten Male ging ein Geheimnis über den Kreis der Eingeweihten hinaus. Krämer sah Bochows Kampf.

»Na, rede schon!«

Bochow ächzte. »Ach, Mensch, Walter, so ein Leben, so ein Leben … manchmal möchte ich den Kerl da oben verfluchen.« Er meinte Höfel.

»Nicht doch«, verwies ihn Krämer, gleichzeitig tröstend. »Ist doch unser Kumpel. Hat Mist gemacht, natürlich, aber verfluchen? Mann! Behalte die Nerven beisammen.«

Krämers raue Herzlichkeit tat Bochow wohl.

»Jaja, hast recht, hast recht. – Also da ist noch eine Sache, sie muss geregelt werden, schnell.« Krämer überraschte es nicht, von Bochow zu erfahren, dass eines der Waffenverstecke die Effektenkammer war, und es gab für ihn auch nur einen, dem man es anvertrauen konnte – Pippig!

»Das mache ich schon, lass nur«, beruhigte ihn Krämer. Bochow nannte ihm die Nummer der Säcke und den Platz, an dem sie hingen, und stöhnte: »Das Schlimmste an der Sache ist, dass man beiseitestehen muss und gar nichts unternehmen kann …«

Krämer schob die Unterlippe vor. »Warum soll man nichts machen können? – Wir sollten zum Beispiel versuchen, die beiden aus dem Bunker zu holen.«

Bochow lachte wie über einen Scherz.

»Ich habe schon was unternommen …«

Bochows Lachen verdorrte.

»Bist du verrückt?«

»Nee«, entgegnete Krämer trocken. »Ich hoffe, dass du einverstanden bist.« Er erzählte, was er mit Schüpp abgesprochen hatte.

»Der hat sich inzwischen den Pippig vorgeknöpft, das ist sicher. Und der Pippig, verlass dich drauf, ist ein schlauer Bursche. An irgendeiner faulen Stelle kriegt er den Zweiling zu packen. Sollten wir es unversucht lassen?«

»Was kommt nun noch?«, knirschte Bochow durch die Zähne und drückte sich das Gesicht mit beiden Händen zu. Kopfschüttelnd betrachtete Krämer den von wildwuchernder Nervosität Gepeinigten. »Der Bochow – habe ich mir immer gesagt –, das ist ein Klotz, den kann nichts aus der Ruhe bringen. Nun guckt euch mal den Klotz an …« Bochow reagierte nicht, es tat so wohl, sich hinter den eigenen Händen zu verstecken. Erst nach einer Weile ließ er die schützenden Hände sinken und nickte Krämer zu. Ein müdes Lächeln wehte über sein Gesicht.

»Hast recht, Walter, man darf jetzt nicht den Kopf verlieren.« Er wollte sich zum Gehen wenden, doch verharrte er:

»Und die Sache mit dem Zweiling … gut, wir wollen nichts unversucht lassen …« Bochow verließ den Raum.

In tiefem Mitgefühl sah Krämer ihm nach. Wie müde Bochow die Schultern herabhingen …

 

Um die gleiche Mittagsstunde beobachtete der Mandrill im Kasino einen Häftling, der in einer Ecke des Speiseraums einen defekten Tisch reparierte. Mit stumpfem Interesse verfolgte der Mandrill die Hantierungen und sah, wie der Häftling eine Leimzwinge anschraubte, die mit festem Druck das Holz zusammenpresste. Es war ein alltäglicher Vorgang.

Am selben Abend aber fiel dem Mandrill die Zwinge wieder ein, als er im Kasino seinen Schnaps trank. Plötzlich war sein Interesse erwacht. Er ging zu dem beiseitegestellten Tisch und betrachtete sich das Werkzeug. Schließlich versuchte er, die Zwinge abzuschrauben, sie saß sehr fest und ließ sich nur mit starker Kraftanwendung lösen. Das Kasino war um diese Zeit nur noch schwach besucht. Einige Blockführer saßen am Tisch und verfolgten das sonderbare Tun des Mandrill. Von den bedienenden Häftlingen wurde er verstohlen beobachtet. Der Mandrill hielt die Zwinge in der Hand, hinter seiner starren Stirn schien etwas vorzugehen. Die Blockführer sprachen den unheimlichen Menschen nicht an, der mit der Zwinge an seinen Tisch zurückging. Ein fahler Zug lag um den farblosen Mund, als der Mandrill die verstohlenen Blicke ringsumher bemerkte. Es war schon spät, als der Mandrill das Kasino verließ. Die Trunkenheit trat bei ihm niemals nach außen.

Je mehr er an Alkohol in sich hatte, desto gerader war sein Gang. Obwohl ihm das Gehirn schwamm, verlor er in allem, was er tat, nicht die Orientierung. Sie hatte nur etwas Starres und von innen her Gelenktes an sich.

»Vernehmung bis zur Aussage.«

Die Leimzwinge hatte ihn auf einen Gedanken gebracht.

In der Nacht begab er sich in die Zelle Nummer 5. Höfel und Kropinski lagen eng aneinandergedrängt auf dem kalten Fußboden und erhoben sich, als Licht wurde und der Mandrill eintrat. Frierend und aufgeschreckt standen sie vor ihm. Das erdfahle Gesicht des Mandrill war ohne Ausdruck, als er Höfel fragte: »Na, hast du es dir inzwischen überlegt?« Höfel schluckte. Schwieg. Wie ein aufgescheuchter Vogel flatterte die Angst in ihm. Der Zellenraum schwamm im trüben Licht der Glühbirne, die nicht Kraft genug hatte, scharfe Schatten zu werfen. Der Mandrill wartete noch einen Augenblick das Schweigen ab, als könnte noch etwas kommen, dann drängte er Kropinski, der neben Höfel stand, in die äußerste Ecke der Zelle. Höfel fragte er: »Redest du?«

Höfel stieg es heiß in die Kehle, er schluckte wieder, sein Atem ging leise.

Kropinski stand in die Ecke gedrückt, als wolle er eins werden mit ihr. Der Mandrill hatte keine Eile. »Na, was ist? Redest du nun?«

Höfels Brustkasten war wie ein hohles Gewölbe, in dem ein Heulton schallte. Er wollte fliehen, zu Kropinski in die Ecke. Doch seine Füße waren wie angeschmiedet.

»Also nicht.«

Der Mandrill trat an Höfel heran und setzte ihm, wie er es bei dem Tischler gesehen hatte, die Zwinge an die Schläfen.

»Redest du …?«

Höfel riss entsetzt die Augen auf, der Mandrill hatte den beweglichen Teil der Zwinge angedrückt und ihn mit einer Drehung festgeschraubt.

Kropinski stieß einen leisen, pfeifenden Schrei aus.

In Höfels Schläfen pulste das aufgewirbelte Blut, der Schrei, der ihm im Kehlkopf saß, riss ihm den Mund auf und erstickte in der Höhle.

Der Mandrill steckte die Hände in die Hosentaschen und stieß Höfel mit dem Knie ermunternd vor den Bauch. »Einen Namen weiß ich schon, deinen. – Wer ist der zweite? – Redest du?«

Unter Höfels Hirnschale brannte es wie Höllenfeuer. Er presste die Fäuste aneinander, das Grauen saß ihm in der Kehle.

Der Mandrill fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, zog bequem die Hand aus der Tasche und drehte an der Schraube. Höfel stöhnte. Grauenhaft unentrinnbar stand er zwischen zwei Felsblöcken, die ihn zusammenquetschten.

Kropinski sank in die Knie. Im namenlosen Elend der Hilflosigkeit kroch er wimmernd auf den Mandrill zu, der trieb das Bündel in die Ecke zurück. »Hier bleibst du liegen, du Dreck, und rührst dich nicht.«

Den Augenblick der Ablenkung hatte Höfel genutzt, sich die mörderische Zwinge herunterzureißen. Sie fiel polternd zu Boden. Das Blut raste und rauschte im Kopf. Höfel wurde es schwarz vor Augen, er drückte die Fäuste gegen die Schläfen und torkelte. In plötzlicher Wut stürzte sich der Mandrill auf den Taumelnden und boxte ihn mit wuchtigen Schlägen zu Boden. Durch den plötzlichen Überfall waren Höfels Sinne wieder wach geworden.

Um den auf ihn niederprasselnden Schlägen zu entgehen, wälzte er sich hin und her, es gab ein Handgemenge. Geschwächt und zermartert unterlag Höfel sehr rasch der Kraft des Mandrill. Der kniete sich über ihn, presste die Arme Höfels mit den Knien fest und quetschte die Zwinge erneut an die Schläfen. Höfel warf schreiend den Kopf hin und her, aber die Zwinge saß fest. Der Mandrill drückte die Schraube fester an.

Höfel gurgelte, die Augen quollen aus ihren Höhlen.

»Wer ist der zweite?«

Kropinski hatte die Fäuste vor den Mund gepresst, in namenlosem Entsetzen über das, was mit seinem Bruder geschah.

»Wer ist der zweite?«

In höllischem Schmerz trommelte Höfel mit Fäusten und Füßen auf den Steinboden.

Die Namen! Die Namen …!

Sie saßen ihm im gurgelnden Kehlkopf und lauerten darauf, herausgelassen zu werden.

»Wer ist der zweite? Redest du …?«

Als der Mandrill die Hand wegzog, brach der erstickte Schrei wie ein Strahl aus Höfels Mund: »Chrraahhh …«

»Wer ist der zweite?«

»Chrraahhh …«

Das waren sie, die Namen. Jeden einzelnen schrie Höfel aus sich heraus. »Chrraahhh, chrraahhh …«

Plötzlich begann auch Kropinski zu schreien, er presste die Hände an den Kopf und schrie …

Die Luft im Raum schrie, die Wände konnten die Schreie nicht schlucken, und der Wahnsinn raste durch die Zelle.

Der Mandrill erhob sich und stellte sich breitbeinig über Höfels tobenden Körper; sterben durfte der ihm noch nicht, darum löste der Mandrill die Zwinge.

Höfels irres Schreien erstickte in einem hohlen, trockenen Röcheln, der Körper streckte sich erlöst.

Kropinski krümmte sich furchtsam zusammen und kroch, als der Mandrill die Zelle verließ und das Licht verlöschte, zu Höfel, mit zitternden Händen tastete er ihn ab, begann in stiller Verzweiflung zu wimmern.

Höfel fühlte, wie das Leben den Tod abwehrte. Wie von Peitschen getrieben, raste das Blut durch den Körper, das Gehirn schien vor Schmerzen zu zerfließen, und selbst die Gedanken brannten wie fiebernde Flammen. Der Atem flackerte. »… die Namen … Marian …« Kropinski strich über Höfels fliegende Brust.

»Du haben geschrien, Bruder, nur immer geschrien …«

Höfel keuchte, zu schwach, um zu antworten. Sein gequältes Bewusstsein taumelte am Rand der Ohnmacht entlang, aber es stürzte nicht in den wohltätigen Abgrund hinunter.

»O mein Gott«, wimmerte Höfel, »o mein Gott …« Es war kaum noch zu ertragen. –

 

Am anderen Tage sah Förste während seiner Freistunde den Elektriker auf der Zugangsstraße. Sie beobachteten sich. {Schüpp ging ein wenig langsamer.} Würde der dort sich den Schuh zubinden?

Förste schien den Elektriker nicht zu beachten. Er drückte die auf dem Rücken liegenden Hände nach hinten hoch, und es sah aus, als mache er Freiübungen. Als Schüpp an ihm vorbei zum Schalterfenster ging, legte sich Förste die Hand aufs Herz. Schüpp meldete sich ins Lager zurück. Er hatte verstanden. Sie wurden gefoltert, doch die Hand auf dem Herzen sagte aus, dass sie tapfer waren.

 

Zwei Tage erst waren vergangen, aber sie waren angefüllt mit einer Last, die nach Jahren zu zählen schien. Der ganze Apparat war lahmgelegt worden, und in den einzelnen Widerstandsgruppen hatte die Nachricht von der Verhaftung eine Erstarrung ausgelöst. Die Genossen der Gruppen vermieden jedes Gespräch. Wenn sie sich im Lager begegneten, gingen sie aneinander vorbei und grüßten sich nur mit einem verstohlenen Blick. Sie durften sich nicht kennen. Unheil lag in der Luft. Als sich am ersten und auch am zweiten Tag nichts ereignete, war das keinesfalls eine Beruhigung. Jeder hatte das Gefühl, als ob sich die Gefahr nur tückisch verstecken würde, um in dem Augenblick hervorzubrechen, wenn man glaubte, erlöst aufatmen zu können. So erging es allen.

Auch das ILK hatte sich streng isoliert. Der Einzige, mit dem Bochow in diesen beiden Tagen zusammentraf, war Bogorski. Die Informationen, die Krämer ihm über das Verhalten Höfels gebracht hatte, gaben Bochow eine gewisse Sicherheit, eine Zusammenkunft mit den Genossen des ILK riskieren zu können. Bogorski war damit einverstanden, und am Abend kamen die Genossen in der Fundamentgrube der Revierbaracke zusammen. Sie waren sehr schweigsam, und schweigend auch nahmen sie Bochows Bericht entgegen. Sie erfuhren die Zusammenhänge. Das Kind war willkommener Anlass für Kluttig und Reineboth, die verborgenen Spuren des Apparats aufzustöbern. Sie erfuhren, dass Höfel und Kropinski unerhört gemartert wurden, und wussten, dass es für die beiden eine Zerreißprobe war. Nur eines wussten sie nicht: das, was morgen sein würde oder übermorgen …

Die Zukunft war mit Explosivstoff geladen.

Sonst ging es bei den Besprechungen lebhaft zu, heute saßen sie um die kleine Kerze, die leise knisterte, und sprachen kaum ein Wort. Die Ruhe nach der Verhaftung war trügerisch, und sie misstrauten ihr. Was Bochow so schmerzvoll durchlebt hatte, das durchlebten jetzt die schweigenden Männer um ihn herum.

Wie sorgfältig war der Aufstand vorbereitet. Was war im Laufe der Zeit an Waffen und Munition herangeschleppt worden, gefahrvoll und heimlich. Manchmal hatte ein waghalsiges Unternehmen an einem seidenen Faden gehangen. An alles war gedacht worden. Tausende von Verbandpäckchen lagen an sicheren Stellen im Revier bereit. Medikamente waren gehortet worden, Operationsinstrumente abgezweigt. Brechstangen, isolierte Drahtscheren für den Zaun, alles war da.

Es gab Operativpläne für die Stunde der Befreiung. Die Kampfgruppen der einzelnen Nationalitäten waren für diese Stunde vorbereitet, längst festgelegt deren Aufgaben. Schon war das Lager in Kampfsektoren aufgeteilt. Stoßkeilartige Aktionen nach den verschiedenen Richtungen sollten die Kampfhandlungen einleiten. Die polnischen Gruppen hatten nach dem Norden des Lagers durchzubrechen. Die sowjetischen Gruppen waren für den Sturm auf die SS-Mannschaftskasernen vorgesehen. Die Gruppen der Franzosen, der Tschechen, der Holländer und der Deutschen mussten den Bereich der Kommandantur in Besitz nehmen. Der Gesamtstoß hatte sich in westlicher Richtung zu vollziehen, um die Verbindung mit dem nahenden Amerikaner herzustellen und den Aufstand zu sichern.

Spezialtrupps für besondere Aufgaben befanden sich unter den Gruppen. Die weitverzweigte Organisation, unsichtbar, ungreifbar, allgegenwärtig und für jede Stunde schlagbereit, war ein kunstvolles Werk der Konspiration. Wenn die Stunde gekommen war, dann konnte der Sturm losbrechen. Aber die Stunde war noch nicht da und der Amerikaner noch weit … Jetzt aber lag ein Mann da oben in verlassener Zelle … Ein Wort von ihm genügte, ein Wort aus vergessener Vorsicht oder aus Lebensangst, und der Boden des Lagers würde sich öffnen und seine Geheimnisse preisgeben. Waffen, Waffen! Noch ehe 50 000 ahnungslose Gefangene das Unerhörte begriffen hätten, würde ein wüster Sturm der Vernichtung dahinbrausen über das Lager …

Die Genossen stierten vor sich hin, starrten in die knisternde Flamme der Kerze. Verhalten und ruhig gab Bochow seinen Bericht. Er erzählte, dass Höfel und Kropinski bis jetzt tapfer durchhielten. Sie hörten zu, die vielen Gehirne wurden zu einem Gehirn, in dem die Gedanken aller zusammenschmolzen.

Darum auch brauchte es keiner Worte. Aber das Schweigen nagte in ihren Gesichtern. Bochow wurde unwillig. »So geht es nicht, Genossen. Zusammensitzen und die Köpfe hängenlassen? Verdammt noch mal! Wir müssen überlegen, was wir tun können, wenn …«

»Wenn! Ja, wenn!«, knirschte Kodiczek. »Können wir die Waffen vergraben?« Er lachte kratzig. »Sie sind ja schon vergraben.« In seinen Augen flackerte die Nervosität.

»Unsinn«, fauchte Bochow, »die Waffen bleiben, wo sie sind.« Er nahm ein großes Stück Muschelkalk zur Hand und warf es fort. Seine Augen irrten unruhig über den steinigen Boden. Es war ihm anzusehen, dass er die eben verlorene Beherrschung zurückgewinnen wollte. Streit durfte jetzt nicht aufkommen. Er machte gegen Kodiczek, der sich in finsteres Brüten zurückzog, eine abschließende Geste.

»Das letzte Mal sagte ich euch schon, dass sie nach uns suchen«, sagte er dumpf. »Wir haben darüber gelacht. – Höfel war ja auch noch nicht im Bunker, jetzt wird es ernst damit. Wenn er es nicht schafft, wenn er nicht durchhält …«

Bochow sah jeden Einzelnen eindringlich an. Sie bissen die Lippen aufeinander. Was sie dachten, sprach Bochow unerbittlich aus: »Wenn sie uns herauskriegen, dann steht für jeden der Tod.«

Die Kerze knisterte leise.

»Wir können manchen von uns noch rechtzeitig in Sicherheit bringen.« {sagte Bochow, der sich wieder in der Gewalt hatte.} Die Genossen horchten auf, und Bochow schlug vor: »Wir schicken ihn auf Transport in ein anderes Lager. Dort taucht er unter …«

Es kam lange keine Antwort. Endlich sagte van Dalen: »Das ist doch nicht dein Ernst, Herbert?«

»Doch«, beharrte Bochow, »Höfel kennt unsere Namen. Er braucht nur einen davon zu nennen …«

Van Dalen hob resigniert die Schultern. »Dann wird der eine eben sterben müssen.«

»Und wenn er uns alle angibt?«

»Dann werden wir alle sterben«, antwortete van Dalen schlicht. Pribula wurde unruhig. Bochow schüttelte den Kopf.

»Wer will auf Transport gehen?«, fragte er hartnäckig.

Pribula schlug sich mit der Faust aufs Knie.

»Willst du uns machen feig?« Seine leise Frage hatte aufgeschrien. Erst nach einer Weile sagte Bochow merkwürdig ruhig. »Es ist meine Pflicht, Genossen, euch zu fragen.« Er senkte dabei den Blick. »Ich bin mit daran schuld, dass es so weit gekommen ist.« Sein Ton erschien den Genossen fremd, sie schauten verwundert auf ihn. Er presste die Lippen zusammen.

»Ich habe Höfel alleingelassen«, fuhr er noch leiser fort. »Hätte mich seiner und des Kindes sofort annehmen müssen. Hab’s nicht gemacht …« Das war ein Bekenntnis. Bogorski verstand als Einziger den Sinn, aber er schwieg dazu. Riomand hüstelte. »Non, camerade Herbert«, sagte er gütig. »Fehler, aber nickt sprekken von Schuld.«

Bochow sah den Franzosen an. »Aus dem Fehler wächst die Schuld«, sagte er dunkel. Kodiczek zischte unbeherrscht: »Verdammt mit Höfel, verdammt mit Kind!«

Pribula schnellte hoch: »Sind zusammen Höfel und Kamerad aus Polen im Bunker«, schrie er tonlos, »und da sagen du verdammt? Haben beschützt Deutscher und Pole kleines polnisches Kind, und da sagen du verdammt? – Verdammt du selber!«

Seine Lippen zitterten und wurden weiß. Der jähe Zorn schoss ihm in die Augen. Van Dalen hielt Pribula am Arm fest. Der junge Pole schleuderte die Hand des Holländers von sich, eine plötzliche Feindschaft sprühte aus seinen Augen.

Da geschah etwas Merkwürdiges, Bogorski begann vor sich hin zu lachen, leise und mit schütteren Schultern. Das Lachen stand in so schroffem Gegensatz zu der gespannten Erregung, dass sie alle wie erschreckt auf den Russen blickten. Der breitete die Hände mit den Flächen nach außen gegen sie und rief in bitterer Heiterkeit: »Was sind wir doch für lustige Menschen!«

Er meinte »komische« Menschen und sagte »lustige«, weil er das deutsche Wort nicht fand.

Plötzlich schlug sein Gebaren um. Sein Gesicht zog sich zusammen, aus den Augen zuckte es. Er riss beide Arme über den Kopf und ließ die Fäuste wuchtig niedersausen. »Wir sind aber nicht lustige Menschen, wir sind Kommunisten!« Er stieß auf Russisch einen derben Fluch aus und wetterte in seiner Muttersprache auf die Genossen ein. Sein Russisch überraschte ihn selbst, da keiner ihn verstand, und er brach mitten im Satz ab, wetterte aber sofort weiter in gebrochenem Deutsch. Fehler, Schuld, Flüche auf das Kind und die Genossen! Setzen sich Kommunisten so mit einer gefährlichen Lage auseinander? Soll die Situation uns beherrschen? Oder gehört es nicht vielmehr zum Kommunisten, selbst Herr der Situation zu sein? – Er schwieg. Sein Zorn verwandelte sich. Ruhiger fuhr er fort. Nun gut, charascho. Irgendwo im Lager ist ein kleines Kind versteckt und bringt alle in Verwirrung. – Wo es eigentlich sei, wollte Pribula wissen. Bogorski hob beschwichtigend die Hand. Es befinde sich im Block 61 des Kleinen Lagers, keine Sorge, fügte er schnell hinzu, es sei gut untergebracht … Er blickte reihum. Ist es nicht im Grunde unser aller Kind, nachdem seinetwegen schon zwei Genossen in den Bunker mussten? – Wäre es nicht Aufgabe des ILK, das Kind unter seinen Schutz zu stellen? – Auf einmal lächelte Bogorski. Viel wichtiger wäre es jetzt, dem Kind etwas Anständiges zum Futtern zu verschaffen. Dabei blickte er mit verkniffenem Auge auf Riomand. Der französische Koch verstand sofort, lachte und nickte. Bogorski lachte zurück. Charascho! Ist es ein Knabe oder ein Mädchen? Bochow, an den die Frage gerichtet war, sagte unwirsch: »Ich weiß es nicht.«

Bogorski stemmte die Arme in die Seiten und rief in komischer Verwunderung: »Wir haben ein Kind, und wir nicht einmal wissen, ob es ist Bub oder Mädchen …« Das reizte alle zu einem Lachen, die hängenden Köpfe hoben sich. Bogorski wurde es leichter ums Herz. Die Genossen lebten sichtlich auf und begannen zu diskutieren. Konnte man Höfel und Kropinski helfen?

Abenteuerliche Pläne tauchten auf, sie reichten von der gewaltsamen Befreiung bis zum Aufstand, mussten aber alle wieder verworfen werden. Das Gespräch führte zu der Erkenntnis, dass es unmöglich war, die beiden aus den Klauen des Mandrill zu befreien. Bochow hatte schnell begriffen, dass Bogorskis sonderbare Art des Eingreifens nur eine Brücke gewesen war, die Niedergeschlagenheit zu überwinden, war er ihr doch selbst zum Opfer gefallen. Sein Unwille schwand umso schneller, als er den Genossen die abenteuerlichen Pläne ausreden musste. Es gab nur eine Möglichkeit zur Rettung, eine wenig aussichtsreiche, erklärte er und entwickelte seinen mit Krämer besprochenen Entschluss, Zweiling dafür auszunutzen. Ein Akt der Verzweiflung! Doch welcher Weg blieb sonst noch offen? Die Genossen des ILK billigten den Versuch. Doch immer wieder kehrte die Sorge zurück. Sie fraß sich durch alles hindurch. Was war zu tun, wenn Höfel nicht standhalten würde? – Bogorski schnitt die fruchtlose Fragerei ab. Nichts war zu tun, gar nichts, wiederholte er schroff. Oder wollte jemand etwa auf Transport gehen? – Hatten die Genossen auf Bochows Frage noch betreten geschwiegen, so rumorten sie jetzt dagegen. Keiner wollte das Lager verlassen, alle wollten sie bleiben. Charascho! Bogorski nickte. Er hatte selbst nicht an den Ernst von Bochows Vorschlag geglaubt, wusste, dass dieser ihn nur aus seinem unsinnigen Schuldgefühl heraus gemacht hatte. Doch die Depression war überwunden. Wenn die heutige Zusammenkunft kein anderes Ergebnis haben konnte als dieses, dann war schon viel gewonnen. Die Angst musste zuerst erschlagen werden, sie war der gefährlichste Feind.

»Auch ich, Genossen, haben Angst«, sagte Bogorski, »aber müssen wir haben auch Vertrauen. – Bis jetzt hat Höfel allen Torturen getrotzt! Wer gibt uns das Recht, an ihm zu zweifeln? Zweifeln wir damit nicht an uns selber? Die Gefahr liegt nicht so sehr bei Höfel und seinem polnischen Bruder, sie liegt bei den Faschisten. Von Küstrin und Danzig bis hinunter nach Breslau drückt die Rote Armee die Faschisten immer tiefer nach Deutschland hinein. Die zweite Front ist schon bis Frankfurt durchgestoßen.« Bogorski machte mit den Armen eine ausladende Bewegung, als hole er aus weitem Raum etwas zusammen, und drückte die Fäuste aneinander.

»So, Genossen, sieht es aus«, sagte er mit verhaltener Kraft. »Je näher die Faschisten das Ende kommen sehen, desto wilder werden sie. Hitler und auch Schwahl und Kluttig. Sie wollen uns vernichten, wir wissen es doch. Darum setzen wir ihnen im Verborgenen unsere Kraft entgegen. Solange wir stark bleiben, wie Höfel und Kropinski – ja«, rief Bogorski, sich an seiner eigenen Begeisterung entzündend – »ja, sie werden stark bleiben! Solange wir es auch sind, werden die Faschisten die verborgene Kraft nicht entdecken, aber sie werden sie spüren. Lasst sie suchen, sie werden nichts finden. Keine Patrone und keinen Mann.« In seinen geballten Händen, die wie zwei Steine auf den Knien lagen, war Kraft. »Die Faschisten«, fuhr er beherrschter fort, »haben uns die Köpfe kahlgeschoren, haben uns das Gesicht genommen und den Namen. Haben uns eine Nummer gegeben, haben uns die Kleider ausgezogen und uns in Streifen gesteckt …«

Er zerrte an seiner gestreiften Jacke. »Fleißige Arbeitsbienchen sind wir ihnen, bauen ihnen die Häuser und die Gärten. Summ, summ, summ! Jedes Bienchen hat seine Streifen. Ich sehe aus wie du, und du siehst aus wie ich.« Seine Fäuste öffneten und schlossen sich. »Charascho«, flüsterte er hintergründig. »Bienen haben aber auch einen Stachel. Summ, summ, summ. Nun soll Kluttig einmal hineingreifen in den Schwarm … Sieht einer aus wie der andere … Wie gut, dass sie uns weggenommen haben Gesicht und gegeben Streifen, wie gut. Ihr verstehen, Genossen?«

Bogorski strich zärtlich über seine Jacke, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Bochow schämte sich vor diesem Mut. Seiner spröden Natur war es nicht gegeben, das Harte biegsam und geschmeidig zu machen. Bogorskis bildhafte Worte übten ihren geheimen Zauber aus. Die Genossen bekamen andere Gesichter, im Widerschein der knisternden Kerze leuchteten sie. Kein Beschluss wurde diesmal gefasst, es bedurfte dessen nicht. Jeder trug ihn in sich. Nur als sie auseinandergehen wollten, forderte Pribula, dass ein Genosse für den Schutz des Kindes persönlich verantwortlich gemacht werden sollte. »Nicht notwendig«, erklärte Bochow in seiner kargen Art, »das mache ich schon … Und wenn du für das Wurm etwas zu futtern hast, dann lass es zu Krämer bringen, der sorgt für das Weitere«, wandte er sich an Riomand. »Oui, oui!«, nickte der Franzose.

Sie verließen die Fundamentgrube, einzeln und in Abständen, und mischten sich draußen auf dem dunklen Weg unter die anderen, die hin und her gingen, bis der Lagerälteste abpfeifen würde.

 

Hortense war reisefertig. Alles war klar, bis auf die Transportmöglichkeit. Zweiling besaß kein Auto, dafür aber hatte Kluttig einen Wagen. Schon lange spielte Hortense mit dem Gedanken, sich des forschen Hauptsturmführers zu versichern, der würde das Gepäck bestimmt mitnehmen. Das war überhaupt ein anderer Kerl als ihr schlappschwänziger Mann. – Manchmal, auf sogenannten Kameradschaftsabenden, hatte Kluttig sie zum Tanzen aufgefordert. Hortenses weiblicher Instinkt genoss des Hauptsturmführers stilles Vergnügen an ihrer üppigen Gestalt, und sie kam ihm während des Tanzes bereitwillig entgegen. Sonst aber war nichts zwischen ihnen. Kluttig hatte keine Frau. Er war seit Jahren geschieden.

Im Gegensatz zu anderen gab es bei ihm keine Weibergeschichten. Das machte ihn in Hortenses Augen noch wertvoller. Sie war im Grunde ein Mensch ohne Leidenschaften, phlegmatisch und seelisch träge. Die enttäuschende Ehe hatte das ihre noch dazugetan. –

An diesem Abend, als Zweiling noch nicht nach Hause gekommen war, stand Hortense im Schlafzimmer vor dem Spiegel und betrachtete sich gelangweilt. Sie kämpfte mit dem Entschluss, Kluttig aufzusuchen. Das ging nicht so von ungefähr. Schließlich bestand zwischen ihm und ihrem Mann ein beträchtlicher Rangunterschied. Rangunterschied? Hortense schürzte verächtlich die Lippen. Damit war es bald vorbei. Wie lange noch, und aus Zweiling wurde wieder das, was er vordem gewesen war, nämlich nichts. Und Kluttig? Hortense hob gleichgültig die Schultern. Sie wusste, dass Kluttig früher Besitzer einer Plissieranstalt gewesen war. Jedenfalls war er ein Mann! Die Sorge um ihr Gepäck überwog alle Bedenken. Sie war entschlossen, zu Kluttig zu gehen. Kritisch überprüfte sie sich im Spiegel.

Die Bluse gefiel ihr nicht, und sie vertauschte sie mit einem enganliegenden Pullover, der die Formen besonders aufreizend zur Geltung brachte. Sie umgriff ihre Brüste, wendete sich vor dem Spiegel hin und her und blubberte dabei: »Was muss man nicht alles machen, bloß um die paar Klamotten fortzubekommen.« Schade, dass sie nicht auch die schönen Möbel mitnehmen konnte. –

Kluttig war zu Hause. Er bewohnte im Kommandanturgelände ein Haus für sich allein. Verwundert ließ er Hortense eintreten. Sie setzte sich auf den dargebotenen Stuhl und vergaß, den Mantel abzulegen.

»Es ist nur meiner Sachen wegen. Gotthold hat doch kein Auto.« Kluttig blinzelte sie verständnislos an. Hortense faltete ergeben die Hände auf den Knien und machte bittende Augen. »Würden Sie die Sachen in Ihrem Auto mitnehmen? Es sind nur ein paar Koffer und Kisten.«

»Wohin denn?«, platzte Kluttig heraus.

Hortense hob ratlos die Schultern. Jetzt hatte Kluttig begriffen. Er meckerte, schob die Hände in die Taschen und stelzte vor Hortense auf und ab.

»Sie meinen, wenn …«

Hortense nickte eifrig.

Kluttig blieb breitbeinig vor ihr stehen.

»Eine militärische Aktion«, sagte er schneidig, »eine militärische Aktion ist doch kein Umzug.«

Hortense seufzte, von militärischen Aktionen verstand sie nichts. »Sie sind der Einzige, der mir helfen kann. Was soll ich denn machen? Gotthold hat doch kein Auto …« {Die Frau störte ihn mit ihrem Besuch, er hatte eigentlich schlechte Laune. Der Mandrill hatte aus Höfel und dem Polen nichts herausbekommen. Mit diesem Ärger in sich über den Misserfolg betrachtete Kluttig die Frau.} Sie hatte den Mantel aufgeknöpft und ihn zurückgeschlagen. Kluttigs Augen klebten an ihren Brüsten. Er schluckte versteckt. Sein Adamsapfel stieg. Hortense sah, wie es im Gesicht des Hauptsturmführers arbeitete. Sie lächelte zweischneidig zwischen Hoffnung und Erfolg. Doch sie irrte. Die erotischen Reflexe, die sich auf Kluttigs Gesicht abzeichneten, waren gar nicht so aktiv, wie es Hortense gewünscht hatte. Hortenses Anblick löste in Kluttig leise Empörung darüber aus, dass diese begehrenswerte Frau an den Trottel Zweiling geraten war. Gut und gern hätte sie die Frau eines Hauptsturmführers abgeben können.

Rasch zog Kluttig einen Stuhl heran und setzte sich Hortense gegenüber.

»Sind Sie eigentlich glücklich?«, fragte er unvermittelt.

Hortense erschrak heftig, von seinem Blick fasziniert.

»Nein, Herr Hauptsturmführer. Nein, gar nicht. Überhaupt nicht …«

Kluttig legte seine Hand auf ihr Knie. »Gut, ich nehme Ihr Gepäck mit.«

»Oh, Herr Hauptsturmführer …« Vor Freude ermattet, drückte Hortense seine Hand, die seitwärts geglitten war, zwischen ihren Knien fest. Einen Augenblick lang wollte Kluttig dem Angenehmen erliegen, aber er zog die Hand weg, lehnte sich im Stuhl zurück und fixierte Hortense. Sie fühlte seinen scharfen Blick in sich eindringen und erlebte einen kurzen, langentwöhnten Schauer.

»Sie wissen doch Bescheid«, sagte Kluttig übergangslos, »was Ihr Mann mit dem Judenkind gemacht hat?« Hortense erschrak. Sie öffnete den Mund. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, zischte Kluttig gefährlich: »Und den Zettel hat er auch geschrieben.« Der Wechsel der Situation überrumpelte Hortense derart, dass Kluttig an ihrem Benehmen den Verrat Zweilings erkannte. Die Größe der Entdeckung überraschte ihn selbst. Hortenses Erstarrung wandelte sich in heiße Angst.

»Ich habe aber damit gar nichts zu tun …«

»Natürlich nicht«, entschied Kluttig, die Frau in Schutz nehmend. Er fühlte sich auf einmal mit ihr verbündet. Scharf sagte er: »Auf Verrat steht der Tod!«

Hortense schnellte heulend hoch: »Um Gottes willen, Herr Hauptsturmführer, um Gottes willen!« Ihr Gesicht war von Angst aufgerissen. Auch Kluttig erhob sich. Sie standen sich gegenüber. Kluttig vermeinte, Hortenses Körperwärme zu spüren. Er fasste Hortense an den Armen, während aber in ihr die helle Angst alle sexuellen Regungen verbrannte, schossen sie in Kluttig hoch. Jetzt betrachtete er Hortense unversteckt.

»So eine Frau«, sagte er plötzlich erregt, »so eine Frau …« Doch Hortense hatte dafür kein Ohr mehr. In ihr zitterte alles. »Machen Sie ihn tot?« Kluttig ließ Hortense los und lächelte schief. Die Angst der Frau bereitete ihm Genuss. Er antwortete nicht. Reineboths Worte über Zweiling: »Der lahmarschige Heini wird noch froh sein, uns beim Aufspulen zu helfen …«, gaben ihm einen Gedanken ein, der sich in der Spur von Reineboths kühnen Kombinationen fortbewegte.

»Totmachen«, sagte er schließlich nach einer Weile, »das wäre billig für ihn. Gutmachen soll er seine Schweinerei!«

Hortenses Angst wechselte in Hoffnung über.

»Wie denn?«, wagte sie zu fragen. Kluttig antwortete schnell: »Wenn er sich schon mit den Kommunisten eingelassen hat, dann kennt er die Brüder. Nicht irgendwelche, die kennen wir natürlich auch, sondern die richtigen aus der Leitung der illegalen Organisation.« Hortense hatte keine Ahnung von den Vorgängen im Lager, das für sie nichts weiter bedeutete als die Arbeitsstätte ihres Mannes. Sie erschrak darum aufs Neue: »Um Gottes willen, Herr Hauptsturmführer!« Ihre Augen flackerten. Kluttig trat ganz dicht an sie heran, er war um einen Kopf größer als sie, und Hortense musste zu ihm aufsehen. Er blickte in die unruhigen Augen hinein, eine Welle der Begehrlichkeit schoss in ihm hoch, die ihm die Kehle zuschnürte.

»Reden Sie mit Ihrem Mann«, sagte er heiser und unterdrückte krampfhaft das Zittern seiner Stimme. Hortense nickte in Angst und Gehorsam. Sie raffte den Mantel über der Brust zusammen und wandte sich zum Gehen. Kluttig hielt sie schroff an den Armen fest. In der Meinung, dass er ihr noch etwas Wichtiges sagen wolle, sah Hortense ihn fragend an, aus seinen Zügen aber las sie nur die nackte Begehrlichkeit.

»Lassen Sie ihn laufen«, keuchte Kluttig. »Ihre Sachen nehme ich mit«, versprach er ihr. Hortense hatte nur den Wunsch, schnell von hier fortzukommen. Die Sinnlichkeit des Mannes, auf die sie eben noch spekuliert hatte, ekelte sie plötzlich an.

Kluttig warf sich in einen Stuhl, nachdem Hortense gegangen war, wischte sich übers Gesicht und atmete schwer. Die Erregung saß ihm noch zitternd im Hals.

 

Zur gleichen Stunde, da Hortense bei Kluttig war, befand sich Zweiling in Reineboths Dienstzimmer. Den Weg zum Kommandanten hatte er nicht gewagt. Reineboth schien bester Laune zu sein. »Na, mein Lieber«, hatte er Zweiling empfangen, »da hast du aber Pech gehabt mit deinem Kapo.« Er hatte dabei süffisant gelächelt. Zweiling sah es als günstiges Zeichen und machte einen behutsamen Versuch, für Höfel ein »gutes Wort« einzulegen. Reineboth zog bedauernd den Kopf ein.

»Das ist eine dumme Geschichte. Es geht leider nicht nur um Höfel, sondern auch um dich.« Zweiling horchte auf. »Was habe ich damit zu tun?« Er schluckte einen Knödel hinunter. Reineboth sah es mit stillem Vergnügen.

»Das frage ich mich auch«, entgegnete er scheinheilig und zog aus dem Rapportbuch Zweilings Zettel.

»Ich kann es noch gar nicht glauben …« In Zweiling wühlte es bereits, er hatte den Zettel sofort erkannt. Reineboth seufzte teilnahmsvoll, es bereitete ihm Vergnügen, Zweiling auf die Folter zu spannen.

»Wir haben Höfel und den Polen, den Dingsda, nur ein bisschen gestreichelt, und da …« Reineboth kniff ein Auge zusammen und gab dem unvollständigen Satz eine bestimmte Aussage.

»Kurz, die beiden wälzen alle Schuld auf dich ab.«

Zweiling wollte hochschnellen, doch um sich nicht zu verraten, verwandelte er den Ruck des Erschreckens in ein belangloses Abwinken mit der Hand.

»Das ist doch nur ein Racheakt.«

Reineboth lehnte sich im Stuhl zurück und stützte die gestreckten Arme an die Tischkante.

»Das habe ich mir auch schon gesagt.«

Er ließ eine kleine Pause verstreichen, auffällig mit dem Zettel spielend. Zweiling machte einen schwachen Versuch, sich zu rechtfertigen.

»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich …«

»Ich glaube gar nichts«, schnitt ihm Reineboth das Wort ab. »Die Chose ist nicht ganz astrein. Es gibt da einige Kleinigkeiten. Den Zettel zum Beispiel …«

Reineboth warf Zweiling das Papier lässig zu. Der versuchte zu staunen, als er sich den Zettel besah, doch Reineboth gewahrte das Gespielte. Er wurde seiner Sache immer sicherer.

»Den hat keiner aus deinem Kommando geschrieben.«

Zweiling wurde es immer schwüler zumute.

»Woher weißt du das?«, wagte er zu fragen. Reineboth steckte ein komplicenhaftes Lächeln auf und nahm den Zettel an sich, faltete ihn zusammen und schob ihn in die Tasche, Zweiling mit der Umständlichkeit der Hantierung quälend. Dem fehlte die Gewandtheit, mit einer Entgegnung zu parieren, und darum wurde das Schweigen zur Vernehmung und zum Geständnis zugleich.

Reineboth wusste nun genug. Er lehnte sich im Genuss des Erreichten wieder im Stuhl zurück, steckte den Daumen hinter die Knopfleiste und trommelte mit den Fingern.

»Tja, mein Lieber …«

Zweiling war aschfahl geworden. Einem Ertrinkenden gleich, versuchte er sich an der Oberfläche zu halten.

»Wer will beweisen, dass ich …«

Schnell beugte sich Reineboth vor.

»Wie willst du beweisen, dass du nicht

Ihre Blicke flatterten ineinander. Unvermittelt machte Reineboth wieder sein freundliches Gesicht.

»Ich bin überzeugt, dass du mit der ganzen Chose nichts zu tun hast.« Das war eine glatte Irreführung, und Zweiling sollte sie auch so verstehen.

»Vorläufig wissen nur Kluttig und ich das Nähere.« Er lächelte drohend und hob den Finger. »Vorläufig! – Man könnte auch sagen: Hauptscharführer Zweiling hat sich in die Geschichte mit dem Judenbalg eingelassen, um der illegalen Organisation auf die Spur zu kommen …, ja, man könnte sogar sagen, Hauptscharführer Zweiling hat im geheimen Auftrag gehandelt …«

Reineboth rieb sich mit dem Zeigefinger am Kinn. »Das könnte man alles sagen …«

Hier fand Zweiling die Sprache wieder.

»Aber … ich kenne sie doch gar nicht …«

Reineboth schnellte den Zeigefinger gegen ihn.

»Siehst du, das ist’s, worüber ich mir noch im Unklaren bin. Ich bin ehrlich, mein Lieber, und sage es dir.«

Zweiling wollte beteuern, Reineboth fuhr ihn hart an.

»Rede jetzt keinen Quatsch, Zweiling. Es geht um deinen Kopf! Es ist fünf Minuten vor zwölf! Mache mir nichts vor!«

Zweiling war völlig hilflos.

»Wie soll ich denn …«

Reineboth erhob sich. Das Aalglatte seines Wesens war verschwunden. Kalt und gefährlich fauchte er Zweiling an.

»Wie du das machst – deine Sache. Du hast mit der Kommune gemauschelt, wie weit du mit ihr verfilzt bist – deine Sache. Wie du deinen Kopf aus der Schlinge ziehst – deine Sache. Alles ist deine Sache, kapiert? Wir wollen wissen, wer dahintersteckt. Wen kennst du?«

Zweilings Augen irrlichterten hin und her.

»Ich kenne Höfel und Kropinski.«

»Und wen noch?«

»Ich kenne Pippig.«

»Pippig, gut. Wen noch?«

Zweiling hob ratlos die Schultern und nannte aufs Geratewohl.

»Ich kenne Krämer.«

»Krämer kennst du auch, natürlich«, höhnte Reineboth.

»Leider sind die uns bereits selbst bekannt, die anderen brauchen wir.«

»Was für andere?«

Reineboth krachte mit der Faust auf den Tisch, hatte sich aber augenblicklich wieder in der Gewalt. Er richtete sich auf, zog die Uniform straff und sagte geschmeidig: »Die Frist ist kurz. Strenge dich an, mein Lieber …«

 

Völlig aufgelöst kam Zweiling nach Hause.

»Mensch, weißt du, dass sie dir an den Kragen wollen?«, empfing ihn Hortense.

Zweiling {war viel zu erschöpft, um Hortense zu fragen, woher sie es wusste. Er fiel} auf einen Stuhl und knöpfte sich die Jacke am Halse auf.

»Ich soll ihnen die geheime Organisation bringen.«

»Dann mach’s«, fuhr Hortense auf ihn ein.

»Ich kenne doch keinen!«

Hortense kreuzte die Arme über der Brust.

»Das haste davon, wegen des verfluchten Judenbalgs. Hätteste es totgeschlagen!«

Zweiling wand sich verzweifelt hin und her.

»Wen soll ich bloß angeben?«

Hortense keifte:

»Das weiß ich doch nicht! Du kennst doch die Halunken im Lager und nicht ich!«

»Und wenn ich die Falschen nenne?«

Hortense lachte spöttisch.

»Was geht es uns an? Du hast deinen Kopf zu retten!«

Zweiling fuhr sich über den Hals.

Die Nacht war für ihn ohne Schlaf, er grübelte Stunden hindurch. Neben ihm im Bett schniefte die Frau. Auch sie warf sich des Öfteren unruhig hin und her.

 

Von einem Tag zum andern war ein Neuer im Kommando der Effektenkammer aufgetaucht, angeblich als Ersatz für die beiden Verhafteten. Die Umstände, unter denen der Neue ins Kommando gekommen war, schienen nicht nur Pippig, sondern auch allen anderen verdächtig. In keines der wichtigen Kommandos des Lagers, sei es das Revier oder die Effektenkammer oder die Arbeitsstatistik oder die Schreibstube, kam ein Neuer hinein, dessen charakterliche Zuverlässigkeit nicht vorher {geprüft worden war. Der Lagerälteste wusste in jedem Fall darüber Bescheid, ebenfalls die Kapos der Arbeitsstatistik und der Schreibstube}, die die Arbeitskommandos zu beschicken hatten. Es lag dies in der Eigenart der Häftlingsselbstverwaltung begründet, dass die Vorschläge für die Aufnahme eines Neuen in ein solches Kommando von diesen Häftlingen an den SS-Arbeitsdienstführer gegeben wurden. {So ging es immer.} Die SS-Lagerführung kümmerte sich nicht um die inneren Zusammenhänge, die einem solchen Vorschlag vorangingen. Sie hatte lediglich Interesse daran, dass im Lager »alles klappte«, weil sie selbst weder fähig noch willens war, den komplizierten Verwaltungsapparat zu dirigieren. Die Bequemlichkeit der SS-Führer war von den im Lager verantwortlichen Häftlingen ausgenützt worden, im Laufe der Jahre einen zuverlässigen Stamm von Häftlingsfunktionären zu schaffen. Das ungewöhnliche Erscheinen des Neuen auf der Effektenkammer machte die Häftlinge des Kommandos argwöhnisch. Den Neuen hätte ihm der Arbeitsdienstführer geschickt, behauptete Zweiling, und außerdem – er zwinkerte Pippig vertraulich zu, der vor ihm im Zimmer stand –, »außerdem habe ich vorgefühlt, vielleicht kriegen wir Höfel und Kropinski raus«.

Pippig spürte die Unwahrheit und ging nicht darauf ein. Was der Neue machen solle, fragte er.

»Was soll er schon machen?« Zweiling entgegnete in einem Ton, als sei ihm der Zuwachs selbst nicht angenehm. Der Neue trug die Markierung der Politischen, keiner im Kommando kannte ihn. Wo kam er her?

Pippig ließ es keine Ruhe. Unter einem Vorwand stahl er sich aus der Kammer fort und eilte aufgeregt zu Krämer: »Wir haben einen Neuen. Mit dem stimmt was nicht.« Krämer ließ sich durch Pröll die Karteikarte des Wurach, so hieß der Neue, aus der Schreibstube bringen. Sie sagte nichts aus. Wurach, Maximilian, ehemaliger Wehrmachtsangehöriger. Seit zwei Jahren in Haft. – Über den Grund gab die Karte keine Auskunft. Sicher Kameradendiebstahl, vermutete Krämer.

Vor einigen Monaten war Wurach als Einzeltransport vom Konzentrationslager Sachsenhausen nach Buchenwald gekommen.

Das ging aus der Karte hervor. Einzeltransport?

Vor einigen Monaten waren in Sachsenhausen eine Anzahl politischer Häftlinge verzinkt und erschossen worden … Häftlinge, die aus Sachsenhausen nach Buchenwald gekommen waren, hatten es erzählt. Pröll, Krämer und Pippig sahen sich an.

»Mensch, Walter …« Pippig machte starre Augen. Krämer fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Verflucht!«

Maximilian Wurach, Einzeltransport, vom Arbeitsdienstführer persönlich ins Kommando gesteckt – das war ein Zinker!

»Mensch, Walter …«

Krämer gab Pröll wortlos die Karte zurück, die dieser wieder nach der Schreibstube schaffte.

Pippig war beunruhigt.

»Will der Kerl ausbaldowern, wohin wir das Kind gebracht haben?«

Mit breit ausladenden Ellenbogen war Krämer am Tisch sitzen geblieben, er sah in Pippigs erregtes Gesicht hinein, und seine Gedanken gingen weit über die Vermutung des Kleinen hinaus.

Es gab in einem Kommando nichts Gefährlicheres als einen Zinker und dessen schleichende Hinterhältigkeit.

Krämers erster Gedanke hatte den Pistolen gegolten. Ein unbehagliches Gefühl in ihm – Witterung von Gefahr – brachte den Gedanken an die Waffen mit dem Zinker in Verbindung. Krämer kam nicht mehr davon ab. Welchen Auftrag hatte der Zinker? – Auf einmal schienen Krämer die Säcke nicht mehr sicher genug. Die Pistolen mussten weg aus den Säcken! Musste darüber nicht erst mit Bochow gesprochen werden? Krämer schob die Bedenken hinweg, und der Entschluss zum selbständigen Handeln war augenblicklich gereift. Krämer stand auf, bemerkte, dass Pippig noch immer auf ihn einsprach, und schnitt seine Worte mit knapper Handbewegung ab.

»Hör zu jetzt.«

Pippig verstummte.

Krämer ging zur Tür, verhielt einen Augenblick, als horche er nach außen, trat darauf dicht an den Kleinen heran und tippte ihm mit dem Zeigefinger vor die Brust. »Hör genau drauf, was ich dir sage und – Schnauze halten darüber, verstanden?«

Pippig nickte bereitwillig.

Krämer schob, die Gedanken ordnend, die Unterlippe vor, dann sagte er knapp: »Drei Kleidersäcke, verstanden?« Er nannte Pippig deren Nummern. »Sie hängen ganz oben in der siebenten Reihe in gerader Richtung vom mittleren Fenster aus.«

Krämers Worte waren Pippig dunkel, er wartete gespannt, dass der Lagerälteste weitersprach. Krämer presste für einen Augenblick die Lippen zusammen, sah Pippig fest an und sagte unvermittelt: »Drei Pistolen! – In jedem Sack eine.«

Pippig stockte der Atem, doch in seinem Gesicht zeichnete sich nichts ab von der Überraschung. Das war gut so, konstatierte Krämer.

»Die Dinger müssen verschwinden, verstehst du?«

Pippig schluckte schweigend, sein Adamsapfel stieg. Das war ja … Junge, Junge … Plötzlich musste Pippig an Höfels Weigerung denken, das Kind zurückzubehalten, und er schämte sich, Höfel der Feigheit verdächtigt zu haben. Jetzt waren die Zusammenhänge klar. Krämer bedrängte ihn: »Du musst ein besseres Versteck finden. Guck dich um bei euch auf der Kammer. Sag mir sofort Bescheid, wenn du was gefunden hast.«

Pippig war zu überwältigt, um sprechen zu können. Er nickte nur und gab Krämer fest die Hand. Das war ein Versprechen.

Dann ging Pippig in die Effektenkammer zurück. {Waffen!}

Die Brust wurde ihm weit. Mit veränderten Augen sah er das Lager und dessen Menschen. Die bogenförmig aufgestellten Reihen der niedrigen Baracken erschienen ihm nicht mehr so ängstlich an den Boden geduckt. Über den Kranz der Holzbauten ragte das hohe Steinhaus der Effektenkammer hervor. Dort waren Waffen verborgen. Jetzt erst nahm Pippig diese ungeheure Tatsache voll in sich auf. Sie wollte ihm schier das Herz abdrücken. Das Vorhandensein einer unsichtbaren, allgegenwärtigen Kraft durchschauerte ihn und erfüllte ihn mit einer nie gekannten Freude.

Waffen!

Ein Blockführer stieg an ihm vorbei. Pippig musste seine Mütze vor ihm ziehen. Er tat es gewohnheitsmäßig. Es war verboten, einen Angehörigen der SS dabei anzusehen. Auch der Uniformierte würdigte den Häftling keines Blickes. Dreck war für ihn nicht vorhanden. – In grimmiger Lust riss sich Pippig die Mütze vom Kopf, es war wie eine stumme Herausforderung. Pippst du oder pipp ich? Der kleine Schriftsetzer aus Dresden mit den ein wenig krummen Beinen hatte noch nie eine so innige Genugtuung empfunden wie in diesem Augenblick. Ich pippe, verlass dich darauf, ich pippe.

Der Blockführer ging an ihm vorüber. Pippig nestelte sich die Mütze wieder auf. Na klar, ich pippe … Das Herz hüpfte. Plötzlich aber durchfuhr Pippig ein heißer Schreck! In seiner Vorstellung sah er den Neuen in den Kleidersäcken herumstöbern.

{Menschenskind!}

Pippig rannte los. Außer Atem betrat er das Schreibbüro. Die Häftlinge empfingen ihn ungeduldig.

»Wo warst du? Seit einer halben Stunde ist der Neue bei Zweiling. Was haben die miteinander?«

Rose knurrte: »Nächstens sperren sie uns alle zusammen in den Bunker. Ihr wollt die Finger nicht von solchen Geschichten lassen.«

Pippig fauchte ihn an. »Für die Geschichte bin ich verantwortlich, ich allein, verstehst du? Lass die Kumpel damit aus dem Spiel.«

Rose trumpfte auf: »Deinetwegen gehen wir alle noch über den Rost.«

Pippig geriet in Zorn: »Meinetwegen kannst du lieber heute als morgen nach Hause gehen in deinen Schrebergarten.«

Die Häftlinge schlichteten den aufkommenden Streit.

Pippig verließ ärgerlich das Büro. Er warf einen schnellen Blick in Zweilings Zimmer. Der Neue stand in strammer Haltung vor dem Schreibtisch.

Der Kleiderraum war leer. Unauffällig ging Pippig durch die langen Reihen der Kleidersäcke. Hier in der Mitte musste es sein. Pippig suchte die Reihen ab. Die Säcke hingen in zwei Etagen, deren obere nur mit der Leiter erreichbar war. In der siebenten Reihe und in gerader Richtung vom mittleren Fenster aus, so hatte es Krämer ihm beschrieben. Da oben? Pippig erkannte die Nummern, die übersichtlich auf die Säcke gepinselt waren. Auf einer Leiter stieg er hinauf, befühlte einen der Säcke – nichts. Der Sack schien das Übliche zu enthalten, Anzug, Mantel, Wäsche, Schuhe … Alle drei Säcke tastete Pippig ab. Nichts.

Doch fiel ihm auf, dass jeder Sack langschäftige Stiefel enthielt. Mit wiegender Hand prüfend, erschien ihm jeweils einer der Stiefel schwerer. Pippig stellte die Leiter an ihren Platz zurück und atmete tief. Im Kleiderraum roch es nach Trockenheit und Naphthalin. –

 

Der Arbeitsdienstführer hatte Wurach auf Betreiben Zweilings dem Kommando zugeteilt. Zweiling hatte sich, nach einem Ausweg suchend, das Hirn zergrübelt. In welches Dilemma war er geraten? Nun war es so weit mit ihm gekommen, dass SS und Häftlinge ihn im gleichen Verdacht hatten. Vor Reineboth musste er sich reinwaschen, ganz gleich, wie. Selbst wenn er darum hundert Häftlinge hätte hochgehen lassen müssen, das wäre ihm völlig gleichgültig gewesen. Aber konnte er aufs Geratewohl irgendwelche Namen angeben? Reineboth würde ihn der Irreführung bezichtigen und in ihm erst recht den Verräter sehen. Hortense, ohne dass sie es gewollt, hatte ihm schließlich zu einem brauchbaren Gedanken verholfen. Zornig hatte sie auf Zweiling eingebelfert: »Nun sitzte zwischen zwei Stühlen! Nein, so ein Mann! Und der will ein SS-Mann sein? Sieh zu, wie du aus diesem Schlamassel herauskommst. Hast ja genug Kroppzeug im Lager, das dir zu den richtigen Namen verhelfen kann.« Da hatte sich Zweiling des Wurach entsonnen. Bei seiner Einlieferung war »oben« über ihn gesprochen worden.

Wurach war nach Buchenwald abgeschoben worden, um ihn, seiner Zinkerei wegen, dem Zugriff des Sachsenhausener Lagers zu entziehen. Der Arbeitsdienstführer hatte gegrient. »Warum ausgerechnet den?«

»Du weißt doch, was bei mir passiert ist«, hatte Zweiling entgegnet. Alles andere war Formsache gewesen. Nun stand Wurach vor Zweiling. Der musterte den Häftling.

Eine gedrungene Gestalt mit zu großem Kopf; in dem breiten Gesicht saß die viel zu kleine Nase wie ein Knopf – ein Schlägertyp!

»Soldat gewesen?«

»Jawoll, Hauptscharführer.«

»Und was haben Sie ausgefressen?« Zweiling schob die Zunge auf die Unterlippe. Wurach war es sichtlich unangenehm, »daran« erinnert zu werden, er versuchte sich mit der Antwort vorbeizudrücken.

»Ich habe eben mal eine Dummheit gemacht.«

»Kameradendiebstahl, was?«

Wurach sah Zweiling wie ein Hund an, der seinem Herrn nicht traut. Zweiling schob Wurach eine Schachtel Zigaretten zu und ermunterte ihn, als dieser zuzugreifen zögerte.

»Na, nehm Se schon …«

Wurach steckte die Schachtel schnell ein.

»In Sachsenhausen ham Se so ’ne großartige Sache vom Stapel gelassen«, führte Zweiling das Gespräch weiter. Wurach, der nach der »großartigen Sache« mit Entlassung gerechnet hatte, machte aus seiner Enttäuschung kein Hehl. Er hob die Schultern.

»Was habe ich davon?«, zog er sich in stillen Ärger zurück.

»Ich werde mich darum kümmern, dass Sie rauskommen.«

Wurach wurde aufmerksam. Zweiling ließ Andeutungen fallen. »Unser Kommandant ist ein anständiger Kerl, er weiß, was er einem Mann wie Ihnen schuldig ist …«

Interessiert fragte Wurach: »Sie meinen, dass ich …?«

»Umsonst habe ich Sie nicht in mein Kommando geholt«, schürte Zweiling die Hoffnung. »Natürlich muss ich erst was in der Hand haben, das können Sie sich denken.«

Wurach nickte, ihm leuchtete es ein.

»Sie wissen doch, was bei mir passiert ist?« Zweiling sah mit langem Hals zum Fenster hinaus, und als er sich überzeugt hatte, dass sie von draußen nicht beobachtet wurden, fuhr er fort: »Bei uns stinkt es nämlich auch. Wir haben, wie bei euch in Sachsenhausen, solche Illegale, verstehn Se? An die müssen wir ran. Das ist ein geheimer Auftrag, wissen Se. Vom Kommandanten persönlich, verstehn Se? Sie haben doch Erfahrung?«

Zweiling bleckte mit den Zähnen. Wurach überlegte bereits. Zweiling bohrte weiter. »Wenn wir die Drahtzieher ausfindig machen und ich dem Kommandanten melden kann: Der Häftling Wurach hat … na also, ich muss doch erst was in der Hand haben.«

Wurach schmeckte mit den Lippen. »Ich kenne natürlich viele, mit dem Desinfektionskommando, wo ich erst war, bin ich überall im Lager herumgekommen …«

»Na, sehn Se«, unterbrach Zweiling eifrig.

Wurach zog den Kopf ein. »Ob es auch die Richtigen sein werden?«

»Das müssen Se eben rauskriegen. In meinem Kommando stecken bestimmt welche von der Sorte. Na, was ist?«

Wurach machte eine verlegene Handbewegung. »So schnell geht das nicht, da muss ich überlegen.«

»Überlegen Se, Mann, überlegen Se.« Zweiling stand auf.

»Ich gebe Sie jetzt an Pippig weiter, der gehört bestimmt auch mit dazu. Und wir zwei, verstehn Se, wir haben nichts miteinander zu tun.« Das kannte Wurach, und über seinen Mund flog ein verstecktes Grinsen. Zweiling rief Pippig herein. Mit dem Daumen wies er auf Wurach. »Ich habe dem Kerl auf den Zahn gefühlt. Nehmen Se ihn ins Schreibbüro und gucken Se sich ihn selbst noch mal genau an. Wenn er nicht spinnt, fliegt er wieder. Spitzbuben wollen wir nicht bei uns haben.«

Außer Rose sah keiner der Häftlinge auf, als Pippig mit dem Neuen ins Schreibbüro trat. Wurach spürte abweisende Kälte. Hier galt es, vorsichtig zu sein. –

 

Wohin mit den Pistolen? Pippig zergrübelte sich den Kopf.

Den Nachmittag über, sich hinter geflissentlicher Geschäftigkeit verbergend, war er auf der Suche nach einem geeigneten Versteck. Vom Dach bis zum Fußboden forschte er die Kammer ab. Wohin mit den Dingern, wohin? Er fand keine Stelle, die ihm sicher genug schien. Gottverdammmich!

Hinter dem Fenster sah er Zweiling träg am Schreibtisch sitzen.

Schreibtisch, dachte Pippig voll Verachtung. Als ob der da drinnen in seinem Leben schon jemals was geschrieben hätte außer seinen krakeligen Namen unter die Bestandsmeldung, aber einen Schreibtisch hat er wie ein Generaldirektor.

Plötzlich veränderte sich der nachdenkliche Blick des kleinen Schriftsetzers. Sein Gesicht spannte sich. Er hatte einen Einfall, hatte das richtige Versteck gefunden!

Wie gewöhnlich verließ Zweiling nach dem Abendappell die Kammer, und das Kommando setzte bis kurz vor dem Abpfeifen zur Nacht seine Arbeit fort.

Pippig hatte es an Stelle des verhafteten Höfel übernommen, die Kammer abzuschließen und die Schlüssel bei der Torwache abzugeben. Am Morgen, vor dem Appell, holte er sie wieder. Dieser günstige Umstand war ein wichtiger Bestandteil von Pippigs Plan.

Wenn er ihm nicht wie damals beim Wegschaffen des Kindes durch Zweiling zerstört wurde, musste alles klappen.

Diesmal ging es gut. Zweiling war gegangen. Eine halbe Stunde vor dem Abpfeifen verließ das Kommando die Kammer. Pippig schloss ab. Zweimal schnappte der Riegel, doch das war eine geschickte Täuschung. In Wirklichkeit waren die Zugänge offen. Pippig brachte die Schlüssel zum Tor.

Es war dunkel. Eine Kleinigkeit war es für Pippig, sich mit seinem Blockältesten zu verständigen.

»Pass auf, Max, ich schlafe diese Nacht nicht im Block, ich bleibe auf der Kammer.« Zwar brummte der Blockälteste gutmütig: »Was hast du wieder vor, alter Gauner?« Doch Pippig huscht davon.

Die Effektenkammer liegt abseits im Gebäudekomplex der Küche, der Wäscherei, der Desinfektion und des Bades. Pippig muss sich geschickt über die Wege pirschen, um nicht von einem Häftling oder einem SS-Mann, der verspätet das Lager verlässt, gesehen zu werden. Im Schutz der dunklen Gebäude ist er dann sicher. Ein leises Öffnen der Tür, ein Husch ins Haus …

Im dunklen Kleiderraum, sich für alle Fälle im Winkel hinter dem Stapel verbergend, der auch das Kind geschützt hatte, wartete Pippig seine Zeit ab. Heute regnete es einmal nicht, es war windstill, und der volle Mond stand am klaren Himmel. Nicht lange dauerte es, und Pippig hörte den schrillen Pfiff des Lagerältesten. An verschiedenen Orten wiederholte er sich, näher, ferner … Dann zog das Lager die dunkle Decke des Schweigens über sich.

Pippig wartete, eine Stunde, zwei … Er hatte keine Uhr, prüfte die Zeit nach dem Gefühl. Als es ihm Mitternacht schien und die Stille im Gebäude Sicherheit versprach, verließ Pippig das Versteck. Hammer, Zange, Stemmeisen holte er sich aus dem Schreibbüro. Derlei Werkzeug war vorhanden. Darauf schlich er in Zweilings Zimmer. Die Reihenfolge dessen, was geschehen musste, hatte sich Pippig längst durchdacht, und die einzelnen Handgriffe lösten sich folgerichtig ab. Zuerst hob Pippig den schweren Schreibtisch an und rückte ihn vorsichtig zur Seite. Dann schlug er den abgetretenen Teppich um die Hälfte zurück, wohlberechnend, dass jeder Gegenstand genau auf seine ursprüngliche Stelle zurückversetzt werden musste. Zweiling durfte nicht merken, dass etwa an seinem Schreibtisch gerückt worden war.

Darauf begann Pippig mit der schwierigsten und umständlichsten Arbeit. Unter der freigelegten Stelle musste er ein meterlanges Dielenbrett aus der Vernagelung lösen. Im fahlen Nachtschimmer suchte er mit angestrengten Augen und tastenden Fingern die Nägel ab. Sie saßen tief im Holz! {Verdammt!} Das hatte er nicht bedacht.

Jetzt nicht nervös werden. Pippst du oder pipp ich …

Er fühlte, in einem Umfang, der der Breite des Schreibtisches entsprach, die Bretter ab. Da, einer der Nägel ragte mit dem Kopf um ein weniges heraus. Zu gering jedoch, um ihn mit der Zange erfassen zu können. Pippig versuchte es mit dem Stemmeisen. Es fand keinen Halt und glitt über den Nagelkopf hinweg.

Ruhe, Rudi, Ruhe! Nicht das Holz beschädigen! An alles denken!

Pippig tastete mit dem Eisen um den Nagelkopf herum. Mit äußerster Konzentration spürte er dem Eisen nach. Irgendwo musste es hängenbleiben. Es gab auf der ganzen Welt keinen Nagel, dessen Kopf nicht doch ein wenig schief im Holz saß. Pippig fand die Stelle. Jedoch das Eisen unter den Kopf zu schieben, und sei es nur um den Bruchteil eines Millimeters, das war Präzisionsarbeit von Werkzeug, Muskeln und Nerven. Das Eisen fasste ein wenig. Mit wippenden Bewegungen versuchte Pippig anzuheben. Unendlich lange mühte er sich und spürte Erfolg. Mit aller Vorsicht war es ihm endlich gelungen, den Rand des Nagelkopfes so weit aufzubiegen, dass er ihn mit der Zange fassen konnte. Doch auch mit diesem Werkzeug noch musste er behutsam umgehen, jede rohe Gewalt vermeiden, um keine Druckspuren auf dem Holz zu hinterlassen. Mit der Zange glitt er kauend um den Nagelkopf herum, und als sie ihn endlich sicher gefasst hatte, legte Pippig seine Mütze unter die Zangenbacke und drückte mit weichen Hebelbewegungen den Nagel Millimeter um Millimeter aus seinem Bett.

Endlich!

Noch fünf Nägel mussten gelöst werden. Doch das war Spielerei gegen das eben Vollbrachte. Er setzte das Stemmeisen als Wipphebel an das gelöste Brett. Vorsichtig, immer die Mütze als Unterlage benutzend, drückte er das Brett schließlich aus der Vernagelung und hob es ab. Pippig, der in früheren Jahren seiner Haft selbst im Baukommando gearbeitet hatte, wusste, dass sich unter dem Dielenbelag nur Schlacke befand. Nun ging alles schnell vor sich. Pippig drückte die Schlacke unter die Dielen, huschte in den Kleiderraum, stellte die Leiter auf und holte sich die Säcke herunter. Bis jetzt war er ruhig gewesen. Doch als er die Säcke durchwühlte, in die Stiefelschäfte fuhr, überkam ihn nervöse Hast. Ruhe, verdammt noch mal. Aber er konnte es nicht hindern, dass die Hand ihm zitterte, als er auf dem Grund des Stiefels etwas Fremdes und Geheimnisvolles entdeckte, in Lappen gewickelt. Pippig griff zu, und es überrieselte ihn, als seine Hand die Formen der Waffe fühlte. Er zog die Pistole heraus.

Sie duldete es – schwer, herrisch und stolz –, von der zitternden Menschenhand gewogen zu werden. Nur für einen kurzen Augenblick gönnte sich Pippig den Schauer. Schnell zog er die übrigen Pistolen hervor, band die Säcke zu, hängte sie an ihren Platz zurück, stellte die Leiter fort und eilte mit seinem Schatz in Zweilings Zimmer zurück.

Er nahm sich nicht die Zeit, die Umhüllungen zu entfernen, um sich die Dinger zu betrachten, sondern drückte sie hastig in das vorbereitete Bett, als wäre jeder Augenblick, den sie ihrer Verborgenheit entrissen waren, eine Entweihung. Im selben Augenblick, als Pippig das Dielenbrett wieder auflegen wollte, durchjagte ihn ein entsetzensvoller Schreck.

Draußen knarrte es!

Deutlich hörte Pippig, wie die Tür leise geöffnet und wieder geschlossen wurde.

Für einen Augenblick war es still.

Dann knarrten vorsichtige Schritte. Noch mit dem Brett in den Händen kniete Pippig vor der Öffnung. Alle seine Sinne waren erstarrt und hatten Front gemacht gegen das Unheilvolle, das da draußen vor sich ging. Ein kalter Schweißtropfen rann Pippig die Brust hinab, hinterließ einen rieselnden Schauer als Spur. Die Schritte kamen näher, mit unheimlicher Folgerichtigkeit hielten sie auf die halboffene Tür des Zimmers zu. Pippigs Atem wurde enger und stockte ganz, als die Tür geöffnet wurde und zwei Gestalten ins Dunkel des Zimmers traten. Es waren Müller und Brendel vom Lagerschutz. Sie hatten auf ihrem Rundgang zufällig an der Tür des Gebäudes geklinkt.

»Was machst du denn hier?«, fragte Brendel verhalten und dunkel. Pippig öffnete den Mund, aber seine erstarrten Sinne machten ihn unfähig zu antworten. Brendel und Müller traten heran. Sie beugten sich über die Öffnung, und Brendel, dem das Dunkel nur ein schwaches Erkennen der Gegenstände gestattete, die hier lagen, griff nach ihnen.

Da erwachte Pippig aus seiner Erstarrung. Er stieß Brendel heftig vor die Brust. »Pfoten weg!« Doch auch Müller hatte zugegriffen, und die beiden hielten jeder bestürzt eine Pistole in der Hand.

»Wo hast du das Zeug her?«

Pippig war aufgesprungen. »Das geht euch nichts an!«

Der kräftige Brendel hatte den Kleinen schon gepackt.

»Woher? Sag’s!« Der Augenblick war kritisch.

Müller trat dazwischen und trennte die beiden.

»Mit uns kannst du reden, Rudi. Wenn du kein Halunke bist, der uns was auswischen will, dann sag, was du hier …«

»Halunke? Du hast wohl ’nen Vogel?«, fuhr Pippig auf. »Ihr wisst doch selber, was los ist. Wir haben eine Laus im Fell. Die Dinger hier sind von Höfel. Wenn ihr es nun schon gesehen habt, dann quatscht nicht rum, sondern helft mir, sie zu verbuddeln.«

Die Lagerschutzler sahen sich an. Höfel war ihr Ausbilder, und sie hatten den Zusammenhang sofort erkannt. Ihr ursprüngliches Misstrauen war mehr die Überraschung des Augenblicks als Verdacht auf Pippig gewesen, den sie als guten und zuverlässigen Kumpel seit vielen Jahren schon kannten. Ihr Spürsinn, in den langen Jahren der Haft wohltrainiert, ließ sie auch in unvorhergesehenen Situationen das Echte vom Falschen scheiden und folgerichtig handeln. Ohne Zögern halfen sie Pippig, die Pistolen zu verbergen. Nur über den Ort des Verstecks wunderte sich Brendel.

»Mensch«, flüsterte er, »wie kommst du auf die Idee, das Zeug ausgerechnet unter Zweilings Schreibtisch zu verstecken?« Pippig flüsterte: »Weil der Arsch eines Scharführers noch immer der sicherste Verschlussdeckel ist. Wenn sie uns zwischen die Kimmen gucken, hier suchen sie nicht. Klar?«

Die bezwingende Logik verblüffte Brendel.

»Rudi, du bist ein Genie …«

»Quatsch nicht«, gab Pippig, aufs angenehmste geschmeichelt, zurück.

Den leeren Raum zwischen den Pistolen füllten sie mit Schlacke auf. Ehe sie das Brett wieder auflegten, zählte Brendel von der Außenwand des Zimmers her die Dielen und stellte fest, dass die Pistolen unter der elften lagen. Jedes Geräusch vermeidend, klopften sie das Brett fest.

Pippig legte die Mütze auf die Nägel und dämpfte damit die Schläge des Hammers ab. Jede Schmutzspur beseitigten sie, ehe der Teppich zurückgeschlagen wurde. Gemeinsam transportierten sie den Schreibtisch an seinen Standort zurück. Pippig hatte ihn sich am Muster des Teppichs gemerkt. Der fahle Nachtschimmer im Raum gestattete ihnen, zu überprüfen, dass die alte Ordnung wiederhergestellt war. Jetzt erst erwachte in Pippig die Sorge um das Geheimnis.

»Kumpel«, flehte er, »ihr haltet die Schnauzen, nicht wahr?«

Wenn sie ihm hätten erklären können, was der Lagerschutz in Wirklichkeit war – so aber konnten sie Pippig nur auf die Schulter klopfen. »Keine Bange, Kleiner, wir wissen, was gespielt wird.«

Leise, wie sie gekommen waren, verschwanden sie.

Pippig räumte das Werkzeug hinweg und verbarg sich im Winkel, den Anbruch des Morgens abwartend. Schlafen konnte er nicht. Er hockte auf ein paar alten Mänteln, die er sich zurechtgelegt hatte, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen.

Die drei Pistolen waren bestimmt nicht die einzigen Waffen, die es im Lager gab. Zwar wehrte sich sein sauberes Disziplingefühl gegen jede Neugier, doch jetzt hätte er gern etwas mehr von dem Geheimen gewusst. Dass es so was wie eine verborgene Leitung gab, das wusste er – was aber gab es noch alles? Pippig drückte das Kinn auf die Knie. Verdammt noch mal, Rudi, da haust du nun schon jahrelang in dieser Unterwelt hier, ein armseliger geprügelter Hund unter armseligen geprügelten Hunden, mit der einzigen verlorenen Vorstellung im dummen Schädel, dass das Endlose eines Tages doch mal zu Ende gehen würde, so oder so … Was hast du dir eigentlich unter dem So-oder-so vorgestellt, du Dunselmann?

Mit diesem Rutenbündel prügelte ihn das Schicksal in das Ende hinein. {Tod oder Leben.} War er nicht wirklich nur ein geprügelter Hund, der jetzt im Winkel hockte und mit Staunen feststellen musste, dass andere, die er für gleiche arme Hunde gehalten, das Rutenbündel längst schon überm Knie zerbrochen und das So-oder-so in ein entschlossenes Entweder-oder verwandelt hatten?

Bitter schmeckte Pippig diese Erkenntnis. Warum gehörte er nicht zu jenen, zu denen auch Höfel gehörte? Traute man ihm nichts zu, weil er klein war und krumme Beine hatte? Wen kannte er von »jenen«? Keinen!

War Krämer einer von ihnen?

Sicher!

Morgen, das nahm Pippig sich vor, morgen spreche ich mit ihm. Ich will kein armseliger So-oder-so-Hund sein!

 

Noch nachtschwarz war der Morgen, als Pippig nach dem Anpfeifen das Kammergebäude verließ. Auf den Wegen zwischen den Blocks war schon Leben. Stubendienste zogen aus allen Richtungen zur Küche, um die großen Kübel mit dem Morgenkaffee nach ihren Behausungen zu schleppen.

Auf dem Block war seine Abwesenheit nicht bemerkt worden. Im Schlafsaal bauten sie bereits ihre Betten, als Pippig kam, sein Bettnachbar fragte ihn, wo er in der Nacht gewesen sei.

»Bei einem kleinen Mädchen«, entgegnete Pippig trocken und mit einem Ton, der keine weiteren Neugierfragen zuließ.

Unterdessen lief unauffällig die Benachrichtigung an Bochow. Kurz nach dem Anpfeifen hatte sein Verbindungsmann durch den Kapo des Lagerschutzes den Bericht über die nächtlichen Ereignisse in der Effektenkammer erhalten. Zwischen dem Verbindungsmann und Bochow fand im Dunkel des Morgens vor dem Block ein kurzes geflüstertes Gespräch statt. Erst wollte in Bochow Unmut über Krämers Eigenmächtigkeit aufkommen, mit der dieser die Anweisungen überschritten hatte, aber da es Bochow inzwischen bekanntgeworden war, dass sich im Kommando der Effektenkammer ein fragwürdiges Element befand, hielt er den Wechsel des Verstecks für zweckmäßig, zumal, wie er anerkennen musste, der kleine Pippig mit besonderer Schlauheit gehandelt hatte. Bochow war durch den Verbindungsmann Pippigs Gutachten wörtlich überbracht worden. »Der Arsch eines Scharführers ist noch immer der sicherste Verschlussdeckel …« Bochow musste lächeln.

 

Förste wusste nun, worum es bei den beiden in der Zelle Nummer 5 ging. Aus den nächtlichen Vernehmungen und den Gesprächen zwischen Reineboth, Kluttig und dem Mandrill hatte er manches erfahren. Infolge seiner Isolierung wusste er nichts Bestimmtes von dem, was im Lager vor sich ging.

Immerhin, es gab so etwas wie eine geheime Organisation, und die Zelle Nummer 5 sollte der Kanal sein, von dem aus in die geheimen Gänge des Apparates vorgedrungen werden sollte. Das war Förste klargeworden.

Sein Vater war ein hoher Staatsbeamter in Wien gewesen, und er selbst, Hans Albert Förste, hatte nach Abschluss seiner Studien ebenfalls den Staatsdienst aufgenommen. Nach der Besetzung Österreichs war er mit seinem Vater zusammen verhaftet und im Laufe der Jahre von Gefängnis zu Gefängnis geschleppt worden, bis er schließlich in Buchenwald gelandet war. Förste wurde in den Bunker eingeliefert. Hier war er verblieben und vom Mandrill zum Kalfaktor gemacht worden. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger{, der ein ehemaliger SA-Mann gewesen war und vom Mandrill umgelegt worden war,} hatte sich Förste niemals an Misshandlungen von Arrestanten beteiligt. {So war auch zwischen ihm und dem Mandrill} nie eine Beziehung entstanden.

Förste verrichtete seine Arbeit schweigend und gehorsam. Lebte im Bunker wie ein Schatten. Der Mandrill brauchte ihn nie zu rufen, immer war Förste zur rechten Zeit da, der Mandrill brauchte sich um nichts zu kümmern, immer war alles in bester Ordnung. So hatte sich der Mandrill im Laufe der Zeit an seinen Schatten gewöhnt.

Seit Höfel und Kropinski eingeliefert worden waren und Förste die großartige Verbindung mit dem Elektriker aufgenommen hatte, war in ihm der Wille aufgebrochen, den beiden Unglücklichen zu helfen. Doch was konnte er tun?

Er wusste, dass Höfel und Kropinski nicht sterben durften, noch nicht. Seit der Tortur mit der Leimzwinge lag Höfel auf dem nasskalten Zementboden der Zelle in hohem Fieber. Nicht nur Kropinski, auch Förste zitterte, dass der Kranke in seinem Fieberwahn die Geheimnisse preisgeben könnte, die er bis jetzt so tapfer bewahrt hatte. Eifrige Betriebsamkeit vortäuschend, schlich Förste ruhelos um die Zelle Nummer 5 herum, denn Reineboth, Kluttig und der Mandrill befanden sich drinnen. Sie hatten Kropinski in die Zellenecke vertrieben und beugten sich neugierig über den von Fieberschauern Gerüttelten.

Höfel phantasierte. –

Die Druckstellen an den Schläfen waren schwarzblau und unmäßig angeschwollen. Der Unterkiefer zitterte Höfel wie im Frost, und die Zähne schlugen bebend aufeinander.

Der Mandrill stand unbeteiligt daneben und rauchte eine Zigarette. Kluttig hatte sich tief über den Fiebernden gebeugt und lauschte. Zerrissene Worte, zerrissene Sätze stießen aus dem zuckenden Mund heraus. Manchmal als Flüstern, wirr und heiß, manchmal als Stöße, messerscharf geschrien. »Du hast … recht … Walter …, du … hast … recht …«

Höfel stöhnte, er öffnete die Augen, {sie waren trüb und glasig, die Lider zitterten. Höfel} stierte ins Leere und erkannte die Umgebung nicht. Im Krampf zog er die Arme an, und die Fäuste bebten auf der Brust. Plötzlich schrie er: »Die Partei ist hier … hier …!« Der Körper straffte sich, das Gesicht färbte sich dunkel, Höfel presste den Atem in sich hinein, und auf einmal zerrissen schrille Schreie den Krampf. »Chraahhh … ich – nenne – doch – die – Namen … chraahhh – ha-ha-haahhh …« Die Schreie zerflatterten im bebenden Kehlkopf.

Kluttig geriet in helle Erregung. Fauchte: »Der will die Namen nennen!« Als könne er sie aus dem Fiebernden herausschütteln, rüttelte er den Körper mit dem Stiefel. Höfel bewegte den Kopf konvulsivisch hin und her, die fuchtelnden Arme sanken zur Seite, und der Fiebernde verfiel in ein Weinen, das den ganzen Körper überschüttete. »Hier … hier …«, wimmerte er. »Du – hast – recht, Walter … sie ist hier … hier … und das Kind, das Kind … muss sie schützen, schützen …« Wie damals im unbeschreiblichen Schmerz der Tortur trommelte Höfel mit Fäusten und Füßen auf den Steinboden. Der Körper bebte, und das laute Weinen ging in ein kindhaftes Wimmern über, Speichel trat blasig auf die heißen Lippen.

Reineboth hatte den Daumen hinter der Knopfleiste und trommelte mit den Fingern. Kluttig richtete sich auf und sah Reineboth fragend an. Der setzte sich das Fiebergestammel sinnvoll zusammen. »Die Partei hat von Walter den Auftrag erhalten, das Kind zu schützen.« Reineboth kniff die Augen zusammen. »Kapiert, Herr Hauptsturmführer? Wenn wir das Kind haben, dann haben wir die Partei.« Mit schnellen Schritten ging Reineboth in die Ecke, trieb Kropinski mit dem Stiefel hoch, packte den Polen an der Brust und stieß dessen Kopf unbarmherzig gegen die Mauer. »Wo ist das Kind? Verfluchtes polnisches Aas! Wo ist das Kind? Du Hund krepierst noch vor dem andern, wenn du es nicht sagst. Wo ist das Kind?« In nervöser Zerfahrenheit stürzte Reineboth zu Kluttig zurück. »Das Kind muss her!« In wilder Sucht blickte er auf den fiebernden Höfel nieder.

»Verrecken darf der uns nicht, den brauchen wir noch. Hier hat es jetzt keinen Zweck mehr. Komm!«, forderte er Kluttig auf und verließ mit ihm die Zelle. Der Mandrill folgte ihnen auf den Gang. Als er in die Zelle zurücktrat, lag Höfel auf einem alten Strohsack, in zwei verschlissene Decken eingehüllt. Förste kniete vor dem Kranken. {Äußerlich schien der Kalfaktor völlig ruhig, als wäre es das Selbstverständlichste, was er hier tat. Er beachtete den Mandrill hinter sich auch nicht.}

Dem Mandrill stockte vor Überraschung der Atem. Mit seinem schnellen und kühnen Entschluss zu helfen hatte Förste alles auf eine Karte gesetzt.

Würde ihn der Mandrill jetzt zusammentreten und den Todkranken vom Strohsack zerren, oder …

»Was soll denn das bedeuten?«, hörte Förste die kratzige Stimme hinter sich. Der tollkühne Sprung ins Ungewisse schien gelungen. Jetzt galt es, das Gewonnene zu festigen. Gleichgültig richtete sich Förste auf und sagte nebenhin, während er die Zelle verließ: »Der darf nicht verrecken, den brauchen Sie noch.« Sogleich aber – das hatte er schon vorbereitet – kehrte er mit einem nassen Lappen zurück, den er Höfel auf die heiße Stirn legte. Gerade dem Ungewöhnlichen – im Bunker war noch kein Arrestant gepflegt worden, am allerwenigsten ein Todgeweihter –, gerade diesem Ungewöhnlichen hatte Förste vertraut. Der Mandrill sah dem Kalfaktor zu, erstaunt, dass man mit so einfachen Handhabungen einen Sterbenden noch »gebrauchsfähig« erhalten konnte.

Er gab ein kurzes Knurren von sich, das Unwillen und Zustimmung zugleich bedeuten konnte. »Aber nur, was notwendig ist.«

»Wir sind doch hier nicht im Sanatorium«, erwiderte Förste.

 

Her mit dem Kind! Kluttig wollte das ganze Lager nach ihm absuchen lassen. Reineboth lachte. »Mann Gottes! Wie stellst du dir das vor? 50 000 Menschen! Das Lager ist eine Stadt! Kannst du in einer Stadt an allen Orten zugleich sein? Die Kerle werfen sich das Kind gegenseitig zu, und wir rennen im Kreis wie die blöden Hammel. Willst du dich zu guter Letzt noch lächerlich machen?« Reineboth krachte sich auf einen Stuhl, schob den Daumen hinter die Knopfleiste.

»Verfluchte Scheiße!«, knirschte er wütend durch die Zähne. Die Unrast trieb ihn wieder hoch. Er knallte die Mütze auf den Tisch.

»Was wird aus uns?«

Kluttig probierte sich im Spott.

»Ich denke, du willst dich nach Spanien absetzen?«

»Ach, Spanien …« Reineboth machte eine missgelaunte Handbewegung. Kluttig zog an seiner Zigarette. »Jetzt willst du wohl die Nerven verlieren?«

»Nerven verlieren?« Reineboth lachte giftig. Plötzlich ließ er Kluttig stehen und trat zur Landkarte.

Vorgestern hatte der Wehrmachtsbericht durchgegeben, dass es den Engländern und Amerikanern nach sechstägigen Anstrengungen gelungen sei, ihren Brückenkopf bis Bocholt, Borken und Dorsten zu erweitern und in Hamborn einzudringen. Heute Morgen gab es schon wieder neue Meldungen. »Die Festung Küstrin ist nach schwerem Ringen der feindlichen Übermacht erlegen …«

Die Bolschewiken!

Von gestern auf heute tauchten an der Westfront ganz neue Namen auf. Im Norden schienen schon in der Nähe von Paderborn Kämpfe zu sein. Im Süden ging der Stoß aus dem Lahntal nach Bad Treysa, Hersfeld und Fulda.

Die Amerikaner!

Treysa, das war der Weg nach Kassel. Fulda, von hier aus ging es in gerader Richtung auf Eisenach zu. Reineboths Augen liefen wie unruhige Fliegen auf der Karte herum. »Verfluchte Scheiße!«

Sein Gesicht hatte etwas Breitgelaufenes, als er sich Kluttig wieder zuwandte. »Jaja, mein Lieber … Und unser Diplomat macht sich schon zum Empfang bereit: Bitte eintreten, meine Herren! Bitte sehr: Juden, Bolschewiken, alles zu Ihrer Verfügung!« Er schob den Unterkiefer vor und verzog hässlich die Oberlippe. »Verfluchte Scheiße!«

Plötzlich schlug er um. »Mit denen im Bunker haben wir die Falschen erwischt!« Kluttig vergaß, die Zigarette zum Mund zu führen.

»Die Falschen? Na hör mal …«

Reineboth fuhr Kluttig ärgerlich an.

»{Natürlich nicht in Bezug auf den Apparat, hier stimmt es, wenigstens bei Höfel. Aber} Die Hunde sagen nichts! Wir müssen noch mal das ganze Kommando ausquetschen! Einer ist bestimmt darunter, der in die Hosen scheißt. Das ist dann der Richtige!«

»Du willst wieder zur Kammer?«, fragte Kluttig verwundert. Mit fahriger Hand strich Reineboth durch die Luft.

»Allein schaffen wir das nicht mehr, keine Zeit! – Gestapo!« Wie ein Messerwerfer schleuderte er das Wort aus sich heraus, und Kluttig wurde empfindlich davon getroffen.

»Das geht zu weit! Schon genug, dass wir die Geschichte auf eigene Rechnung machen, und nun noch Gestapo? – Wenn der Kommandant dahinterkommt …«

Reineboth baute sich brüskierend vor Kluttig auf: »Und so was wollte selber mal Kommandant werden … Morgen laufen wir sowieso alle in Zivilklamotten herum, falls wir noch dazu kommen{, dann ist es aus mit der Herrlichkeit}. Aber solange ich diese Uniform trage …« Er schwieg herausfordernd. Kluttig fühlte wieder einmal seine Unterlegenheit vor dem Jüngling. Der ehemalige Inhaber der Plissieranstalt war unter der Uniform des Hauptsturmführers für einen Augenblick ängstlich geworden.

»Also gut«, entschied er, »Gestapo.«

 

Obwohl die Häftlinge des Kommandos – sich ständig im Blickfeld der Lagerführung wissend – für jede Stunde des Tages auf neues Unheil vorbereitet waren, traf sie das erneute Auftauchen von Kluttig und Reineboth wie ein Schlag. Sie mussten unverzüglich antreten. Selbst Zweiling war durch das Erscheinen der beiden so verwirrt, dass er in ängstlicher Erwartung dem Kommenden entgegensah. Konnte es nicht auch ihm gelten? In der hinteren Reihe stand Wurach. Er beobachtete die Vorgänge mit heimlicher Gelassenheit, hatte er doch, wenn es darauf ankam, ein ausgezeichnetes Alibi. Rose stand in der ersten Reihe. Er war wachsbleich geworden und strengte sich an, das Zittern seiner Glieder zu unterdrücken. Pippig hatte Höfels Platz eingenommen. Jetzt trat er einen Schritt vor und meldete: »Kommando Effektenkammer angetreten!«

»Der neue Kapo, was?«, fragte Reineboth ins Unbestimmte und ging suchend die Reihen ab. Kluttig folgte ihm.

Hinter Pippigs Stirn jagten sich die Vermutungen über den Grund des gefahrdrohenden Besuches. Hatte Höfel etwa … Diese Gedanken trieb Pippig in den äußersten Winkel zurück. Wurach, Zweiling? Pippigs Blick überhuschte Zweilings Gesicht, als könne er daraus die Beziehung zu dem Ereignis lesen.

Zweiling stand ebenso steif wie die Häftlinge.

Reineboth ging die Reihen ab und notierte sich im Kopf bereits jeden Häftling, den er sich herausgreifen wollte. In der starren Angst der Gesichter, in der Totenstille des Raumes, in dem nur das Knarren seiner Stiefel zu hören war: Schritt … Schritt … Schritt, in seinem eigenen Schweigen genoss Reineboth die Macht. {Schritt … Schritt … Schritt …} Um den Mund hatte er einen geilen Zug. Die Kerle scheißen in die Hosen, wenn sie uns sehen. Wenn sie wüssten, dass uns das Wasser selber im Arsche kocht … Zynisch über sich selbst spottend, dachte es Reineboth. Und der Häftling Pippig dachte: Ihr bildet euch wohl ein, wir hätten Angst, weil wir still und stramm vor euch stehen? Man keene Bange. Euch kocht das Wasser schon im Arsch. Du trommelst nicht mehr lange mit den Fingern auf deiner Jacke, du Jonny …

Die siebente Reihe in gerader Richtung vom mittleren Fenster aus …

Schritt … Schritt … Schritt …

Vor Rose blieb Reineboth stehen. In dessen Augen begann die Angst zu flackern. Der Richtige?

Reineboth zog Rose am Jackenknopf aus der Reihe heraus.

»Sie sind doch ein älterer, vernünftiger Mann. Wie konnten Sie sich in so dumme Geschichten einlassen?«

»Herr Rapportführer … ich habe … ich weiß nichts … bestimmt nichts …«

Reineboth hatte das belustigende Gefühl, den Schlotternden frei in der Luft zu halten. Das war der Richtige!

»Ob Sie haben und ob Sie wissen, das wird sich noch herausstellen.« Reineboth {sagte es in gewohnter zynischer Verbindlichkeit. Er zog Rose am Knopf mit sich und} stellte ihn beiseite. Dem Aussortierten wurde es himmelangst.

»Herr Rapportführer … ich habe wirklich nicht …«

Noch ein Wort, und ich springe ihm an die Kehle, bebte es in Pippig. Unvermittelt fuhr Reineboth zu Rose herum, schrie ihn an: »Schwein! Schnauze!« Das war wie ein geplatztes Geschoss. {Taktik! Nichts als eiskalte Taktik des Einschüchterns, und Reineboth empfand es als befriedigend, sie noch so vollendet zu beherrschen.} Dem Nächsten winkte Reineboth mit dem Finger und gab ihm wortlos das Zeichen, neben Rose zu treten. Es war Pippig. Der trat aus der Reihe, stellte sich neben Rose auf und knuffte ihn, im kurzen Moment des Unbeobachtetseins, ins Kreuz. Der Knuff war der verstärkte Schlag seines Pulses, in dem der Zorn pochte.

 

Krämer erschien überraschend auf Block 61.

Zidkowski wollte schnell eine Decke über den Kleinen werfen, der auf dem Fußboden hinter der Bettstatt saß, um ihn dem Blick des Lagerältesten zu entziehen, doch Krämer winkte ab:

»Lass das, ich weiß Bescheid.« Ein Läufer hatte ihm von Riomand eine Flasche Milch und einige Kekse gebracht. Krämer zog die Dinge aus der Tasche und wollte sie dem Kind geben.

Raue Scham hemmte ihn, und er reichte sie darum Zidkowski hin. »Da!« Der Pole umschloss die Kostbarkeiten mit dankbaren Händen. Durch die vielen Falten seines Gesichts zog die Freude. Er versteckte die Schätze in der Bettstatt.

Krämer war zum Kind getreten. Es schaute zu dem großen, ernsten Mann hinauf mit den sammetwarmen Augen eines jungen schönen Tieres, das von den schweigenden Geheimnissen der Jahrtausende mehr weiß als der Mensch.

Krämer aber sah hinter dem Kindergesicht schon reife Gedanken, und das erschütterte ihn.

Er blickte sich im Raum um, dessen vorderer Teil gleichzeitig als Behandlungsraum eingerichtet war. Hier standen ein einfacher Tisch, einige Stühle, auf einem Regal Flaschen, Büchsen mit Salben, ein paar Messer und Verbandscheren, das Mindeste an Material und Instrumenten, um die Wunden der Kranken zu behandeln.

»Wo versteckst du das Kind bei Gefahr?«{, fragte er herrisch.}

Zidkowski wiegte beruhigend lächelnd den Kopf.

»Ist keine Gefahr. – Hier kommen nichts herein. Nicht Arzt, nicht SS. Und wennschon. Machen Kind schnell huschhusch unter das Bett.«

Zidkowski lachte. Krämer schimpfte gereizt: »Keine Gefahr? Mann, hast du eine Ahnung! Eben haben sie das halbe Kommando der Effektenkammer fortgeschleppt! Sie suchen nach dem Kind! Sie brauchen nur aus einem Einzigen das Versteck herauszuprügeln, dann sind sie hier und kriechen in alle Ecken! Was dann? Na?«

Zidkowski, heftig erschrocken, brach in Erregung aus. Er nahm das Kind auf den Arm, drückte es schützend an sich und blickte gehetzt umher.

»Wohin?«, sagte er, von innerer Not getrieben.

»Wohin nun?«, polterte Krämer los. »Sicherungen! Darum hättet ihr euch zuerst kümmern müssen! Das Kind ist doch kein Spielzeug, verdammt noch mal!«

Zidkowski nahm Krämers Gepolter nur mit halbem Ohr wahr, seine Augen suchten bereits nach einem Versteck. Die Möglichkeit, das Kind unter den Kranken zu verbergen, schaltete von vornherein aus. Es blieb nur dieser Raum; wo aber gab es hier einen sicheren Winkel?

Mit schnellen Blicken suchte Zidkowski jede Ecke ab, sogar zu den Holzverstrebungen des Barackendaches sah er hoch.

»Na also, was ist?«, drängte Krämer unwillig. Zidkowski zog die Schultern an. Plötzlich durchzuckte ihn ein Einfall. Er setzte das Kind auf die Bettstatt und lief nach dem vorderen Teil des Raumes. Hier stand in der Ecke ein großer, runder Zinkblechkübel.

Zidkowski betrachtete das Gefäß mit eilenden Gedanken und sagte zu Krämer, der hinzugetreten war:

»Dahinein …«

Er hob den Deckel ab.

»Bist du verrückt?«, stieß Krämer entsetzt aus, als er in den mit blutverkrustetem Verbandszeug halbgefüllten Kübel blickte.

Doch Zidkowski hatte die Hilflosigkeit überwunden. Er lächelte wieder, bedeutete Krämer aufzupassen, was geschehen würde, und rief seine beiden Helfer aus dem Krankenraum zu sich.

Krämer hörte dem sprudelnden Polnisch Zidkowskis zu, der seinen Landsleuten mit heftigen Gesten Anweisungen gab. Sie spritzten auseinander: Der eine riss ungescheut die unappetitlichen Binden aus dem Kübel, der andere kam mit Bürste und Lappen herbei. Schnell eine Schüssel!

Desinfektionsflüssigkeit hinein, und dann schrubbten sie den Kübel sauber. Zidkowski indessen hatte den Blechdeckel ergriffen und klopfte mit einem Hammer den Rand des Deckels um. Der im Umfang verkleinerte Deckel ließ sich jetzt bis zur Hälfte in den konisch zulaufenden Kübel stecken, hier klemmte er sich fest.

Zidkowski warf die Binden hinein, die über den Rand quollen, und es sah aus, als sei der Kübel übervoll.

Das Versteck im Fall der Gefahr! –

So wie die SS bekannt war, würde sie in allen Ecken schnüffeln, um den Kübel aber mit seinem eklen Inhalt einen furchtsamen Bogen machen. Das erkannte auch Krämer, und Zidkowski hatte nur noch notwendig, dem Lagerältesten zu versichern, dass immer einer von seinen Leuten künftig auf Posten stehen würde und bei Annäherung von SS das Kind innerhalb einer Minute …

»Weißt du«, sprudelte Zidkowski, vom glücklichen Einfall begeistert. »Binden raus, husch mit dem Kind in den Kübel, Deckel zu, Binden drauf – dobrze.« Zidkowski blickte Krämer gespannt ins Gesicht, auf Einverständnis wartend.

Krämer senkte resigniert den Blick. Es gab wohl kaum eine bessere Möglichkeit. Alles andere war Glückssache. Gingen sie nicht an dem Kübel vorbei und forderten sie dessen Entleerung – Krämer sah die drei Polen an, die ihn umstanden –, dann starb das Kind und mit ihm diese drei Braven.

Aus ihnen leuchtete bereits das Schweigen, mit dem sie in den Tod gehen würden. Drei Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Drei arme Polen standen vor ihm, herausgerissen aus dem Boden ihrer Heimat. Er kannte ihre Namen kaum, wusste nichts von ihnen. Das grau-blaue Häftlingszebra umschlotterte ihre Körper. Zwar wucherten die Bartstoppeln in den Falten ihrer Gesichter wie Moos in den Furchen des Erdreichs, zwar hatte die Not die Backenknochen herausgetrieben, aber die Augen leuchteten als einzig Unzerstörbares in den verwüsteten Gesichtern der Menschen. Tod und Not hatten das Licht der Augen nicht trüben können. Fackeln waren sie, noch leuchtend in der Tiefe der Erniedrigung. Erst der Schuss aus der Pistole eines Tieres in grauer Uniform konnte diesen Glanz zum Schweigen bringen. Aber auch dann würde das Verlöschen gleich sein dem stillen Untergang eines Gestirns, und das Dunkel des Todes war der sanfte Schleier, der die ewige Schönheit umhüllt.

So dachte es Krämer zwar nicht, aber tief im Herzen fühlte er es.

Zidkowski nickte ihm freundlich zu. Auch dieser schlichte Gruß des Menschenherzens spannte sich als Bogen einer Brücke, die nie zerstört werden kann.

Krämer ging zur Bettstatt. Mit verschämter Hand strich er über des Kindes Kopf, sagte nichts, dachte: Armer kleiner Maikäfer … Er erinnerte sich der Schachtel mit dem durchlöcherten Deckel, damals, als er ein Knabe gewesen war.

Welche Last lag jetzt auf seinem Herzen! Für das Kind hatte er nun getan, was zu tun möglich gewesen. Doch was blieb zu tun alles noch übrig! Hielt nicht das Kind, unwissend und in schuldlosen Händen, den Faden, an dem alles hing?

Sinnend schaute Krämer auf das Wesen herab. Höfel und Kropinski waren dafür in den Bunker gegangen, zehn Mann aus der Effektenkammer waren seinetwegen verschleppt worden. Tausend entschlossene Kämpfer, unbekannt und unerkannt, schwebten in ständiger Gefahr, und jetzt standen wiederum drei armselige Polen mit nackten Händen um das Kind, es zu schützen.

{Welch} Verwirrende Verstrickungen und Verschlingungen {der Schicksale}. In welchen Irrgängen schlug sich das Menschentum seinen Weg durch die Hölle der wilden Tiere! Jede Stunde gewärtig, in einen der Abgründe zu stürzen, die überall lauernde Gefahr … nein, so war es nicht! Es war ganz anders! Die wachsende Zahl der Menschen rund um das Kind war keine Lawine, die alles unter sich zu begraben drohte, sie war ein Netz, das sich wob und sich schützend ausbreitete.

Von Höfels und Kropinskis Standhaftigkeit über Pippigs Treue bis zu der schlichten Bereitschaft dieser einfachen Menschen hier schlang sich der Faden, und je mehr sie daran zerrten, desto fester und unzerreißbarer wurde das Netz.

So war es und nicht anders! Krämer atmete wie in frischer Luft. Er gab Zidkowski die Hand.

»Na, alter Junge«, knurrte er ihn in rauborstiger Herzlichkeit an, »die Sache wird schon schiefgehen.«

Zidkowski hatte keine Bedenken.

 

Im Kleinen Lager war Gedränge und Geschrei. Vom Bad kommend, stolperten die regellosen {Rudel} der Zugänge durch den Stacheldrahteingang ins Innere des Kleinen Lagers hinein.

Viele von ihnen hatten nicht Zeit gefunden, sich auf der Kleiderkammer anzuziehen. Nackt oder nur mit der Hose bekleidet, die übrigen Sachen überm Arm, kamen sie an. Die meisten trugen die ungefügen Holzschuhe in der Hand und holperten barfuß über den Schotter. Der Lagerschutz führte sie. Nervöse und geplagte Blockälteste nahmen sie in Empfang und wussten nicht mehr, wie sie die Massen in ihren längst schon überfüllten Pferdeställen unterbringen sollten. So wurden die durch die Strapazen wochenlanger Märsche ausgehöhlten und durch die sich überstürzenden Eindrücke der neuen Umgebung verstörten Menschen zur unschuldigen Ursache der allgemeinen Nervosität. Man stieß sie hin und her und schob sie immer wieder zu neuen Haufen zusammen.

Jeder Blockälteste wollte sich so viel wie möglich von den Zugängen vom Halse halten, drum kam nie Ordnung in das Gewimmel, und Krämer, von Zidkowski kommend, musste hart durchgreifen und sich taub stellen gegen alle Proteste. Mit harter Hand und ohne Rücksicht auf die Belegschaftsstärke der einzelnen Blocks teilte er die Menschen auf. Nur weg mit ihnen, mochten die Blockältesten zusehen, wie sie mit dem Andrang fertig wurden.

Wie Wasser aus einem Speirohr mussten die ins Lager einströmenden Menschen »ausgebreitet« werden, damit es zu keiner Stauung kam. Knurrig und missgelaunt zogen die Blockältesten mit den ihnen aufgedrängten Rudeln in ihre Blocks, in denen es neue Aufregungen gab, neues Gequetsch und Geschrei sich drängender und schiebender Menschenleiber. Im Innern der Pferdeställe summte und wirrte es wie im Bienenstock bei der Teilung des Stammes.

Durch Erfahrung gewitzigt, flüchteten die »Alteingesessenen« in ihre Fächer der dreifach gestaffelten Schlafgestelle, klebten angeleimt an ihrem Platz, den sie zäh und verbissen gegen den unerwünschten Zuwachs verteidigten. Von babylonischem Sprachengewirr umschwirrt, jedoch stumpf und taub gegen das Geschrei und Gezeter der erregten Menschen, schichteten die Stubendienste die Neuen in die Obsthürden, mit stämmigen Armen die »Alten« noch enger zusammenschiebend. Trotzdem waren es nur wenige, die so in den Genuss eines Liegeplatzes kamen. Die Überzahl wurde in der Enge des Raumes, der einem überfüllten Viehwagen glich, zusammengedrängt und zusammengeschoben. Auf dem rohgedielten Fußboden sprangen die aufgescheuchten Flöhe umher.

 

Kluttig hatte die Verhafteten in Weimar persönlich der Gestapo übergeben. Reineboth wartete indessen ungeduldig auf die Rückkehr des Lagerführers und zog sich, nachdem er gekommen war, mit ihm in sein Zimmer zurück. Dort reichte er ihm eine Liste, die Zweiling gebracht hatte. Gierig verschlang Kluttig die Namen und stöhnte vor Erleichterung: »Endlich was Greifbares! Stimmen die Namen auch?«

Reineboth empfand den Zweifel als eine Einmischung.

»Von denen, die hier genannt sind, könnte jeder Einzelne der geheimen Organisation angehören. Na also! Wie bitte? – Jetzt ist nicht Zeit, danach zu fragen!«

Er ging nervös hin und her.

»Hast du die letzten Meldungen gehört? Es geht auf Kassel zu. Von Kassel nach Eisenach kann man mit Steinen werfen. Weißt du, was das heißt?« Reineboth lachte kratzig.

»Sei zufrieden mit dem wenigen, was ich dir zu bieten habe.«

Kluttig hörte die Zurechtweisung aus Reineboths Worten heraus. – Wenn der schon nervös wurde …

Kluttig überflog die Liste noch einmal. Krämers Name stand als erster darauf. Ihm folgten die Namen vieler langjähriger, im Lager bekannter Häftlinge. Kluttig presste die Lippen aufeinander. Er überlegte – selbst wenn der Zugriff auch nur bei der Hälfte der angegebenen Namen erfolgreich sein würde, dann genügte es bereits, in das führende Zentrum der Organisation vorzustoßen. In wenigen Tagen würde die Frontlage über das Schicksal des Lagers entscheiden! Es war wirklich nicht Zeit, umständlich zu fragen und zu prüfen. Hier musste zugegriffen werden.

Sorgfältig steckte Kluttig die kostbare Liste zu sich. Die zusammengepressten Lippen verzogen sich zu einem hässlichen Strich. »Damit blasen wir dem Diplomaten Pfeffer in den Arsch. Wenn er hier nicht anbeißt, dann schleppe ich ihn noch in letzter Minute vor ein Ehrengericht.« Kichernd warf sich Kluttig auf einen Stuhl. »Eigentlich ist es ein gutes Netz, das wir da gesponnen haben, was meinst du? Die Gestapofritzen in Weimar kneten die Kerle nach dem Kind aus, und sie finden es, verlass dich drauf. Das ist die Flanke.« Er klopfte auf die Tasche, in der die Liste steckte. »Und das der Frontalangriff. Aber«, blinzelte er Reineboth an, »was machen wir mit denen?« Reineboth unterbrach seine unruhige Wanderung und fuhr Kluttig gereizt an. »Umlegen, Mensch! Was sonst? Oder willst du erst die Böckchen von den Schäfchen sondern? In den Steinbruch mit ihnen und abgeknallt die ganze Rotte.«

Mit einer unbehaglichen Bewegung hob Kluttig den Adamsapfel aus dem Kragen der Uniformjacke. Reineboth sah es. »Hast wohl wieder mal Angst vorm Diplomaten, was? – Tja, mein Lieber, wer ›A‹ sagt, muss auch ›B‹ sagen. Ich kann dir das Netz knüpfen helfen, aber daran ziehen musst du schon selber, das ist deine Sache. Schließlich bist du Lagerführer und nicht ich.«

Kluttig, obwohl er angestrengt nachdachte, sah den Jüngling leer an, schließlich nickte er. »Gut. Du hast recht. Das ist meine Sache.« Er stand auf. »Und Höfel? Was meinst du? Brauchen wir ihn noch? Mit den andern haben wir eigentlich genug.«

»Heb ihn und den Polen noch auf«, riet Reineboth, »die laufen uns nicht davon. Lass den Mandrill noch eine Weile mit ihnen spielen, vielleicht quetscht er doch noch was aus ihnen raus. Umlegen kann er sie am letzten Tage noch. Abgeschrieben sind sie ja bereits …«

 

Förstes mutiges Eingreifen hatte das Fieber des Gemarterten gebannt. Obwohl der Mandrill die Zelle immer unter Verschluss hielt, verstand es Förste durch seine stille und entschlossene Art, sich Zutritt zu verschaffen. Mit dem Hinweis, dass nicht nur ein nasser Lappen, sondern auch Nahrung nötig wäre, den Sterbenden am Leben zu erhalten, konnte Förste den knurrenden Mandrill immer wieder beschwichtigen und Höfel warme Speisen bringen. Schattenhaft huschte der Kalfaktor in die Zelle und kühlte die brennende Stirn des Fiebernden, flößte ihm wärmendes Getränk ein, während der Mandrill in der Tür stand.

Kropinski kauerte in der Ecke, von dem Wunder ergriffen, das an seinem Bruder geschah. Aus der zweckmäßigen Erwägung heraus, den Gequälten sich so weit erholen zu lassen, bis dieser wieder gebrauchsfähig sein würde, schonte ihn der Mandrill. Doch als er entdeckte, dass Höfels Augen klarer wurden, verbot er jede weitere Hilfeleistung.

Die Zelle blieb Förste wieder versperrt. Aber er hatte erreicht, den Sterbenden von der Schwelle des Todes zurückzureißen. Sonderbarerweise hatte der Mandrill den Strohsack in der Zelle gelassen.

Kropinski verhielt sich reglos in der Ecke, nachdem der Mandrill die Zelle verschlossen hatte; aus Furcht vor ihm wagte sich Kropinski nicht zu Höfel. Der lag langgestreckt und starr. Sein Atem ging still, und der Mund stand ihm offen. Höfel schluckte trocken und flüsterte:

»Marian …«

»Tak?«

»Wie lange …«, Höfels Finger schabten nervös auf dem Strohsack, »wie lange sind wir schon hier?«

In der Ecke blieb es still. Erst nach einer Weile kam von dort die Antwort:

»Fünf Tage, Bruder …«

Lange hing die Antwort in Stille und Schweigen des verlassenen Raumes. Höfels Blick war zur Decke gerichtet wie die reglose Flamme einer still brennenden Kerze.

»Fünf Tage …«

Höfel begann zu blinzeln, und die Flamme seines Blickes bewegte sich wie im Lufthauch.

»Du, Marian …«

»Tak?«

»Habe ich … hörst du, Marian?«

»Tak.«

»Habe ich – etwas gesagt …?« Höfel schluckte trocken.

»Nje, Bruder …«

»Gar nichts?«

»Nje … Du haben nur immer geschrien.«

»Ist das wahr?«

»Tak.«

Höfel schloss die Augen.

»Und du? – Was hast du?«

»Ich haben auch …«

»Geschrien?«

»Tak.«

Stille – nichts mehr wurde gesprochen.