Der bekannte Schlager: »Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern …« wurde von uns alten Lagerhasen in die Version abgewandelt: »Das kann doch einen Häftling nicht erschüttern«.
Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, wie abgehärtet wir waren, welche dicke Haut wir bekommen hatten. Den Gefahren des Lagerlebens, dem Tod und den Brutalitäten der SS standen wir gleichgültig gegenüber. Wir hatten fast vor all diesen Dingen den Respekt verloren. Es gab nichts, was uns noch hätte erschüttern können. Mussten wir »stehen«, gingen wir über den Bock, in den Bunker, oder hingen wir am Baum, beeinträchtigte uns das kaum mehr. »Pech gehabt«, hieß es im äußersten Falle. Leichen, Kranke, Krüppel, Abgezehrte, Verhungernde, was waren sie uns noch? Sie gehörten zum alltäglichen Bild des Lagers.
Und doch gab es noch etwas, das auch uns alte, abgebrühte Konzentrationäre erschüttern konnte. Das war das »Kleine Lager«. Auch heute, da wir der Hölle entronnen sind, nennen wir diesen Namen noch mit einer gewissen Scheu. Dieses »Kleine Lager« war der Inbegriff alles menschlichen Elends.
»Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an!«, stöhnt Faust, als er vor Gretchens Kerker steht. Hätte Goethe Worte finden können, wenn er vor dem Kerker der Tausenden da oben auf dem Ettersberg gestanden? – Keine Sprache der Erde findet auch nur annähernde Begriffe, um die furchtbarsten aller Zustände zu schildern, die im »Kleinen Lager« herrschten. Und ich soll darüber schreiben? …
Das »Kleine Lager« war eine Gesamtheit von Blocks innerhalb des Lagers Buchenwald. Es bestand aus alten Pferdeställen, die von einem doppelten Stacheldrahtzaun umgeben waren. Hier wurden die Massen der täglich einlaufenden Zugänge zusammengetrieben. Hier hausten sie, die aus anderen Lagern nach Buchenwald gebracht worden waren. Franzosen, Holländer, Polen, Rumänen, Russen, Griechen, Belgier, Ungarn, Deutsche, Juden aller Nationen, Zigeuner, hochgebildete Menschen, Geistesschwache, Kranke, Krüppel, Verbrecher, Greise, Kinder, alles durcheinander. Ein einzelner Block war im Durchschnitt mit über 1000 Mann belegt.
Die Blocks entbehrten jeglicher Einrichtung, die den Aufenthalt von Menschen, noch dazu in so großer Anzahl, berechtigt erscheinen ließe. Es gab z. B. keine Fenster, denn es waren, wie gesagt, alte Pferdeställe, die nur eine schmale, kaum 25 cm »breite« Glasritze als »Fenster« besaßen. An den Längswänden befanden sich die »Betten«. Betten! Wenn ich das Wort schon höre. Es waren dreifach bis unter das Dach des Pferdestalles aufgestaffelte Holzverschläge, Obsthürden vergleichbar. In diesen »Betten« lebten die Gefangenen. Lebten! Ja! Denn die Blocks waren so eng und derart überfüllt, dass sich das tägliche Leben der Insassen buchstäblich im Bett abspielte. Ein Aufenthalt im Block war durch die Enge des Raumes nicht möglich. So lagen denn die Gefangenen in ihren Verschlägen und verbrachten den Tag. Hier aßen sie, wenn sie am Tisch keinen Platz fanden, hier schliefen sie. Spinde oder Schränke zur Aufnahme der Habseligkeiten gab es keine, und der Gefangene musste seine wenigen »Brocken«, die er besaß, im Bett unterbringen, selbst seine Essschüssel. Ein infernalischer Gestank herrschte im Raum, der selbst uns, die wir daran gewöhnt waren, den Atem stocken ließ. Es wimmelte von Ungeziefer, von Flöhen und Läusen. Wenn ich sage, dass die Flöhe massenweise auf dem Fußboden herumhüpften, so bitte ich das wörtlich zu nehmen, selbst wenn du dir, lieber Leser, keine Vorstellung davon machen kannst. Aber wärest du mit mir in einen solchen Block gegangen und hättest auf den Fußboden geschaut, dann hättest du sie fröhlich hüpfen sehen können.
Verdreckt, verlaust und ungewaschen, unrasiert, stinkend vor Kot, von eiternden Wunden geplagt, so lebten die Menschen im »Kleinen Lager«. Phlegmone und Wassersucht waren die häufigsten Krankheiten. Phlegmone, das heißt: eiternde Wunden, so groß wie eine Hand, mit Löchern, in die man bequem eine Faust stecken konnte. Wassersucht, das heißt: geschwollene Füße, so dick wie Oberschenkel. Die Insassen des »Kleinen Lagers« unterschieden sich wesentlich von den anderen, die das Glück hatten, in relativ besseren Wohnverhältnissen zu leben. Als Kleidung dienten jenen nur Lumpen, die sie Tag und Nacht auf dem Leib hatten, denn auch des Nachts entledigten sie sich ihrer Kleidung nicht. Es gab für sie ja keine Decken, und die Nächte waren kalt. So wurden Menschen, die im zivilen Leben vielleicht eine achtbare Stellung innegehabt hatten, binnen kurzem zu »Tonnenadlern«, »Muselmännern« und »Kretinern«, die sich aus Kehrichthaufen und Abfalltonnen das noch »Brauchbare« herausklaubten, die Kartoffelschalen und verfaulte Steckrüben aßen. Die den Futterwagen des Schweinestalles überfielen und sich eine Mütze voll Schweinefutter klauten, um es an Ort und Stelle gierig zu verschlingen. Völlig abgestumpft, in tierischer Gleichgültigkeit, ließen sie sich treten und prügeln. Einem »Tonnenadler« konnte man in die Fresse hauen oder in den Arsch treten, ohne dass er mit einer Regung darauf reagiert hätte. Höchstens, dass er einmal weinte wie ein Kind. Wurde er angebrüllt: »Hau ab, du verfluchter Speckjäger!«, dann trottete er stumpfsinnig fort. Bekam er noch einen kräftigen Tritt in den Hintern mit auf den Weg, drehte er sich nicht um, lief auch nicht schneller, sondern torkelte nur – vom Fußtritt aus seinem Gleichgewicht gebracht – einige Schritte, um dann wieder in seinen stupiden Trott zu verfallen. Am Zaun des »Kleinen Lagers« standen sie den ganzen Tag über, eingefangenen Tieren ähnlich, und stierten geistlos auf die Vorübergehenden. Bettelten um eine Kippe. Sie empfingen keine Briefe und durften keine schreiben. Verschollene für ihre Angehörigen waren sie, und wir wussten nicht, woher sie kamen, wer sie waren. Sie sprachen eine Sprache, die uns fremd war, und hinter ihrer gefurchten Stirn dachten sie Gedanken, die wir nicht kannten. Sie waren die Seuchenträger des Lagers. Fleckfieber, Bauchtyphus und Ruhr wüteten mörderisch unter ihnen. Sie verreckten, wo sie standen und lagen. Am Tage in einem Winkel hinter ihrem Block, des Nachts in ihren Bretterverschlägen. Frühmorgens wurden die Toten aus den Blocks … getragen (hätte ich bald gesagt). Aber ein Toter des »Kleinen Lagers« wurde nicht zum Block hinausgetragen, sondern hinausgeworfen, so wie eine Schaufel Kehricht hinausgeworfen wird. Dann wurden die Leichen auf einen großen Wagen eingesammelt und zum Krematorium gefahren. Den größten Teil der 51 000 Toten lieferte das »Kleine Lager« …
Der ewige Hunger, die absolute Besitzlosigkeit legten die niedrigsten Instinkte, die in einem Menschen wohnen können, in ihnen nackt und bloß. In den Blocks bestahlen sie sich gegenseitig in unvorstellbarer Weise. Täglich kam es zu Zusammenstößen unter ihnen. Wenn die »Kretiner« des »Kleinen Lagers« anderen gegenüber sich passiv und apathisch verhielten, unter sich wurden sie zu Bestien. Plötzlich entsteht ein Tumult im Block. Was ist wieder los? Da haben sich zweie ineinander verbissen wie hungrige Hunde. Der eine umklammert mit schmutzigen Händen ein Stück Brot, das ihm der andere entreißen will. Sie zerren und schreien, packen sich und schlagen aufeinander ein. Das Brot fällt zu Boden und wird im Dreck zertreten und zertrampelt. Andere fischen es sich zwischen den trampelnden Beinen auf und stopfen sich die Brocken hastig in den Mund und wollen mit dem Rest verschwinden. Aber es sind schon wieder Neue da, die Beute wittern, und so jagen sie sich gegenseitig den Raub wieder ab. Tumult und Menschenknäuel! Und ehe der Blockälteste kommt, um die Irrsinnigen auseinanderzutreiben, liegt schon einer am Boden, die zerfetzten Lumpen glitschen im Blut, das aus seinem Bauche quillt. Ein Küchenmesser liegt neben ihm. Wer hat gestochen? Der Täter ist im Trubel verschwunden! Vielleicht ist es jener, der dort in der Ecke steht und zertretenes Brot gierig und hastig verschlingt, mit wachsamen Augen um sich schauend. Ein Pole, ein Russe, ein Franzose, ein Deutscher? … Ein Menschentier! … Um ein Brot oder auch nur um einen alten Fetzen verdreckten Stoff haben sie sich gegenseitig totgeschlagen.
Das erschütterndste Bild aber boten die Insassen des »Kleinen Lagers« am Tage unserer Befreiung, dem 11. April 1945! Während das ganze Lager aufjubelte im Rausch der wiedergewonnenen Freiheit, während die Kolonnen der antifaschistischen Kämpfer marschierten, die Knarre in der Hand, die SS gefangen nahmen und vom Lager Besitz ergriffen, standen die Insassen des »Kleinen Lagers« noch lange nach dem Einmarsch der Amerikaner am Drahtzaun und bettelten um etwas Rauchbares. Keine Auflockerung ihrer Züge zeigte an, dass sie freie Menschen geworden waren. Keine Freude und keine Erregung hatte sie erschüttert, so tief waren sie in den Pfuhl ihres erbärmlichen Daseins gesunken. Durch den faschistischen Terror, durch die Schrecken und Qualen ihrer Gefangenschaft völlig entmenscht, hatten sie die Größe des Geschehens überhaupt nicht begriffen.
Sie blieben das, zu dem sie das »Kleine Lager« gemacht hatte.
Kann eine Anklage gegen die nazistischen Mörder grauenhafter sein als die seelische Unfähigkeit Tausender Menschen, die Tatsache ihrer Befreiung zu erkennen? Ich habe Tränen in den Augen amerikanischer Soldaten gesehen, als sie zum ersten Mal die Hölle des »Kleinen Lagers« betraten …