Der 13. Mai 1938 gilt als schwarzer Tag in der Geschichte des Lagers Buchenwald. Wir befanden uns an diesem Tage auf Block 30. Die Sonne schien, und der Wald leuchtete in den ersten jungen Farben des Frühlings. Es war ein herrlicher Tag. Die Schönheit der Natur regte auch uns Gefangene an. Doch ergingen wir uns nicht in lyrischen Reflexionen, sondern wir hingen praktischeren Erwägungen nach. »Wenn heute«, meinte ein Kamerad, versonnen in das Grün des Waldes blickend, »wenn heute keiner abhaut, soll es mich wundern.«
Eine leidenschaftliche Auseinandersetzung über die Fluchtmöglichkeiten war die Folge dieses laut gewordenen Gedankens. Die einen bejahten, die anderen verneinten sie. Während wir uns noch erhitzten über die Unmöglichkeiten einer Flucht, wurde es im Lager lebendig. Gefangene rannten über den Appellplatz, Gruppen bildeten sich, Neugierige liefen herzu, und mit Windeseile verbreitete sich das Gerücht im Lager, dass zweie getürmt seien. Aber noch Tolleres wurde gemunkelt: Die zwei hätten einen SS-Mann erschlagen. Dieses Gerücht lähmte uns und floss bleischwer in die Glieder. Was würde mit uns geschehen, wenn es sich bewahrheitete? Musste sonst das ganze Lager stehen, wenn einer getürmt war, so ließ sich das Kommende nicht ausdenken. Koch, dem Lagerkommandanten, war alles zuzutrauen. Dem kam es nicht darauf an, für einen SS-Mann das halbe Lager umzulegen. Für einen SS-Mann? … Andere wussten bereits zu berichten, dass nicht nur einer, sondern zwei Posten erschlagen worden seien. Jawohl, im Kommando Kläranlage sei es geschehen. Der eine Posten sei sogar von einem Häftling erschossen worden. Keiner glaubte es, alle glaubten es. Keiner wusste etwas, alle wussten etwas. Überall wurde erregt geflüstert, überall stand man zusammen und lauschte gespannt den Berichten, und das Gerücht sprang von einem zum anderen, von Block zu Block und zuckte kreuz und quer durchs ganze Lager. Angstvoll schauten wir zum Tor, als könnten wir aus dem Verhalten der Blockführer Schlüsse auf die Wahrheit des Gerüchtes schließen. Aber da oben verhielt sich alles ruhig und normal. Das gab Veranlassung, die ganze Geschichte wieder zu dementieren: Es ist alles Parole, hieß es, niemand ist getürmt, keiner ist erschlagen worden. Nur zu willig gab man sich solchen beruhigenden Äußerungen hin. Ging ein Blockführer durchs Lager, liefen die erregten Gruppen auseinander und verschwanden in ihre Blocks. Oder man zog, wenn man nicht verschwinden konnte, still die Mütze, wie es Pflicht war, und schaute dem SS-Mann verstohlen nach: Was hatte der vor? Wo ging der hin? Was wollte der um diese Zeit im Lager? Die Luft war wie mit Elektrizität geladen, und es lastete auf allen ein so starker Druck, dass einem das Atmen schwer wurde. Wenn man nur Genaues wüsste, aber keiner konnte sagen, was war. Es gab nur Geflüster und Getuschel, Vermutungen und Gerüchte. Eines stand fest: Geschehen war etwas! So ging der Vormittag hin. Gegen Mittag ereigneten sich Dinge, die eine furchtbare Bestätigung der Gerüchte waren. Das Kommando Kläranlage rückte vorzeitig ein. Das war der Beweis von der Wahrheit der Berichte. Wir sahen von unserem Block aus die ersten Häftlinge des Kommandos ankommen. Zu fünfen, sechsen rannten sie, von wütenden SS-Leuten mit Kolbenschlägen vorwärtsgetrieben, am Lagerzaun entlang. Immer neue Gruppen wurden hochgejagt. Die SS schlug und brüllte. Viele Häftlinge taumelten und torkelten wie betrunken. Viele schienen verwundet. Dann kamen größere Trupps, ängstlich zusammengeballt, eskortiert von wütender SS. Wie Rudel zusammengetriebener Tiere rannten die Trupps am Zaun entlang. Zuletzt noch einige Nachzügler, die nicht mehr laufen konnten. Sie hinkten den Berg herauf, und wenn sie zusammenbrachen, wurden sie von wutschäumenden Posten mit Fußtritten hochgejagt. Überallhin traten sie: in den Bauch, an die Geschlechtsteile, ins Gesicht, wohin sie gerade trafen. Furchtbar war es anzusehen, wir konnten die Schreie hören, obwohl der Zaun von uns über 200 Meter entfernt war. So rückte das Arbeitskommando »Kläranlage« ein und sammelte sich vor dem Arrestbunker auf dem Appellplatz. Hier stand das Kommando viele Stunden bis gegen Abend mit erhobenen Armen, die Hände hinter dem Kopf gefaltet: der »Sachsengruß«. Unterdes erfuhren wir den wahren Sachverhalt. Es bestätigte sich die Wahrheit der Gerüchte. Zwei Häftlinge waren geflohen und ein SS-Posten von ihnen erschlagen worden. Kallweit hieß der SS-Mann (er war einer der ärgsten »Schläger« gewesen), Forster und Bargatzki die beiden Geflohenen. Forster war ein ehemaliger Fremdenlegionär und Bargatzki ein BVer (Berufsverbrecher). Auf dem Appellplatz lagen einige Leichen. Unschuldige Opfer der SS. Die Toten hatten mit der Flucht jener beiden nichts zu tun gehabt. Sie waren unter die Gewehrkolben der SS geraten und wahllos zu blutigen Bündeln zusammengeschlagen worden. Ich vergesse nicht, dass einige Blockführer vor diesem Fleischhaufen standen und die Köpfe schüttelten, als wollten sie sagen: Sowas haben selbst wir noch nicht gesehen. Und das will was heißen. Unter den Toten befand sich auch ein Kamerad aus Leipzig, der erst vor wenigen Tagen im Lager eingetroffen war. Seine Name war Kurt Höritzsch. Forster und Bargatzki hatten Kallweit mit einem Spaten niedergeschlagen, als sie sich auf dem Wege zur Baubude befanden, aus welcher sie den Frühstückskaffee für das Kommando holen sollten.
Sie hatten dem Erschlagenen die Waffen abgenommen und waren längst über alle Berge, als die Flucht entdeckt wurde.
Nun standen die 200 Mann des Kommandos Kläranlage auf dem Appellplatz und harrten ihrem Schicksal entgegen. Es waren schwere Stunden für das ganze Lager. Denn was der eine erlebte, litt der andere mit. Standartenführer Koch, der Lagerkommandant, kam, und wir verfolgten mit sorgenvollem Herzen die Vorgänge dort oben am Tor. Es hieß, er wolle jeden zehnten Mann des Kommandos erschießen lassen. Die bleierne Last, die auf uns allen lag, vergrößerte sich durch die Ungewissheit. Wir waren gewohnt, bei der Flucht eines Häftlings so lange auf dem Appellplatz zu stehen, bis der Flüchtling gefunden worden war. Wir hatten schon einmal 19 Stunden gestanden. Aber in diesem Fall war es etwas anderes. Hier gab es einen toten SS-Mann. Mit Stehen allein war es nicht abgetan, das fürchteten wir. Was also würde kommen? …
Das Kommando Kläranlage stand die ganze Nacht. Es erhielt keine offizielle Strafe. Kallweit wurde begraben und die beiden Flüchtlinge gesucht. Aber von dem Tag an waren die Unglücklichen, die in der Kläranlage arbeiteten, Todeskandidaten. Die SS nahm blutige Rache für den einen aus ihren Reihen. Täglich schleppten die Häftlinge der Kläranlage ihre Toten ins Lager, die erschossen, erschlagen und zu Tode getrampelt worden waren. Oder die auch ohne Misshandlungen, sondern einfach an den unmenschlichen Arbeitsleistungen, die jetzt gefordert wurden, zugrunde gingen. Kläranlage! Das Wort schmeckte nach dem Rauch, der aus dem Kamin des Krematoriums stieg. …
Zuerst wurde Bargatzki wieder eingefangen und am Abend vor Pfingsten auf dem Appellplatz öffentlich gehängt. Forster hatte sich bis zur Tschechei durchgeschlagen, war dort als politischer Flüchtling interniert, nach Besetzung der Tschechoslowakei durch die Deutschen aber ausgeliefert worden. Er kam zurück nach Buchenwald. Kurz vor dem Weihnachtsfest 1938 legte auch er seinen Kopf in die Schlinge. Er wurde gehängt, als das Lager zum Abendappell angetreten war. Ich sehe noch, wie er im Scheine der elektrischen Strahler leichtfüßig, fast freudig die Treppe zum Galgen hinaufschritt. Er baumelte noch in der letzten Schwingung des entflohenen Lebens, als durch den Lautsprecher das gewohnte Kommando ertönte: »Arbeitskommandos antreten.« …