EDITORISCHE NOTIZ

Der erweiterten Neuausgabe von »Nackt unter Wölfen« sind erstmals bislang unbekannte Textstellen zweier voneinander abweichender Textfassungen hinzugefügt, die im Manuskriptbestand des Bruno-Apitz-Archivs (BAA) im Archiv der Akademie der Künste Berlin überliefert sind. Dieser Bestand umfasst über 1050 hand- und maschinenschriftliche Blätter.

 

Bei den entsprechenden Fassungen handelt es sich um:

  • ein 55-seitiges Typoskript mit Korrekturen von einer Hand – hier Erste Teilfassung genannt –, das in den ersten Monaten des Jahres 1955 entstand (BAA Nr. 6);

  • die letzte überlieferte Lektoratsfassung, ein Typoskript von 511 Seiten, die Kopie einer Verlagsabschrift der im Oktober 1957 beendeten Rohfassung (BAA Nr. 7/2). Sie weist eine Vielzahl von Korrekturen durch mindestens drei Personen auf, eine davon Bruno Apitz, eine andere Martin Gregor-Dellin.

Ein Abgleich der ersten Auflage des Romans mit der Lektoratsfassung zeigt, dass später noch z. T. umfangreiche Korrekturen vorgenommen wurden. Die letzte Fassung, das sog. Satzmanuskript, und Umbruchkorrekturen sind nicht erhalten.

 

Für die erweiterte Neufassung wurde der Roman zunächst auf die Textgestalt seiner ersten Auflage von 1958 zurückgeführt und damit von Textverwitterungen aus 55 Jahren bereinigt, z. B. von Druckfehlern wie »polnische Helden« statt »polnische Helfer« (S. 400), und dann nach den Regeln der neuen Rechtschreibung eingerichtet.

Apitz hat im Laufe des Schreibprozesses mehrfach an der Konzeption seines Romans gefeilt, Handlungsstruktur und Figurenkonstellationen geändert. Wie im Nachwort beschrieben, geschahen diese Änderungen nicht nur aus literarischen Gründen, sondern es gab Berater aus dem Kreis ehemaliger Buchenwald-Häftlinge und Beurteilungen von Seiten des »Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer«, die darauf hinwirkten, bestimmte Aussagen abzumildern. Apitz wird das kaum als Zensur oder Beeinflussung verstanden haben, sondern als helfende Kritik durch seine Kameraden.

Die genaue Analyse der beiden Textfassungen ergab, dass durch etliche dieser Änderungen der ursprüngliche Schreibantrieb – die tragischen Erlebnisse der KZ-Haft und damit sein eigenes Überlebenstrauma zu verarbeiten, indem er das innerparteilich in Misskredit geratene moralische Ansehen der roten Kapos vor sich selbst zu retten versuchte und darüber möglichst differenziert schreiben wollte –, abgeschwächt wurde. Die Abgründe ihrer belastenden Erfahrungen, das Konfliktive ihres Überlebenskampfes wurden nach und nach von Schilderungen überlagert, in denen das Widerständige als Leistung Einzelner wie auch als planvoll organisiertes Handeln der Genossen im ILK hervorgehoben wurde. Indem er die Handlung in eine positivere Richtung überführte, vermied er es, auf schmerzlich verdrängte Tabus zuschreiben zu müssen, auf die ihn beispielsweise eine Figur wie der SS-Arzt Berthold gebracht hätte.

 

Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, die Neuausgabe um später herausgefallene Stellen aus den beiden Typoskripten zu erweitern, die Apitz’ ursprüngliche Schreibabsichten und die möglichen Beweggründe von Überschreiben, Ersetzen und Tilgen deutlicher hervortreten lassen. Die eingefügten Textstellen verstehen sich deshalb als Angebot zu einer neuen und differenzierten Lesart des Romans, befreit von politisch-ideologischen Überformungen und von Kompromissen, die Apitz Ende der fünfziger Jahre für die Veröffentlichung eingegangen war.

 

Hinzugefügte bzw. ersetzte Stellen sind im Romantext hervorgehoben:

[ ] Textpassagen aus der Ersten Teilfassung,

{ } Textpassagen aus der letzten überlieferten Lektoratsfassung.

Manchmal war es notwendig, Passagen der Buchfassung zu überschreiben. Die Liste der Ersetzungen findet sich nach der Editorischen Notiz.

 

Die Einfügung von Textstellen, um die der Roman während seiner Entstehung nach und nach »bereinigt« worden war, erfolgte nicht nach Gesichtspunkten einer textkritischen Edition: Die überwiegende Mehrzahl der Korrekturen der Lektoratsfassung trug zur sprachlichen und stilistischen Verbesserung des Manuskripts bei. Etliche der Korrekturen waren widersprüchlich, unlesbar oder nicht eindeutig.

Die Texterweiterungen erfolgten vorwiegend unter erfahrungs- und zeitgeschichtlichen Aspekten. Sie stellen nicht immer eine sprachliche Verbesserung dar. Sie sind vielmehr Ausdruck der gedanklichen Welt des ehemaligen Buchenwald-Häftlings, die bei der schreibenden Rückbesinnung auf die Haftjahre wieder heraufdrängte, und sie vermitteln diese Zeit oftmals in einer authentischeren Weise.

 

Hier können nur einige Beispiele für hinzugefügte Textstellen gegeben werden:

1. Beschreibungen, die prekäre Erfahrungen von politischen Häftlingen in Lagerfunktionen verdeutlichen. Dies betrifft auch die ersten beiden Berthold-Episoden (S. 19 ff.), die der ersten Teilfassung entstammen und von Apitz frühzeitig getilgt wurden. Zudem zeigen einige Textstellen, dass dem ILK die koordinierende Rolle bei der Besetzung des Lagerältesten eingeschrieben wurde, um die Übernahme von Lagerfunktionen als planvoll organisierte, widerständige Handlung erscheinen zu lassen.

2. Beschreibungen, bei denen die Führung der KPD im KZ und politische Funktionshäftlinge ins Zwielicht zu geraten scheinen. Außerdem Hinweise, die den Eindruck erwecken konnten, dass die politische Führung im KZ für den Tod von Häftlingen verantwortlich war. Die Nennung des Zielorts des Transports »Bergen-Belsen« war im gesamten Text vollständig getilgt oder durch Formulierungen wie »der Transport geht ins Ungewisse« umgangen.

3. Erzählerkommentare, welche das Zusammenleben der Häftlinge differenzierter und in ihren Beziehungen konflikthafter vermitteln. Beschreibungen, welche Misstrauen und Zwietracht unter den politischen Häftlingen aufzeigen oder das Lagerdasein besonders von Häftlingen des Kleinen Lagers in seiner Erbarmungslosigkeit schildern.

4. Beschreibungen, die den Anschein einer gewissen Distanzlosigkeit zwischen politischen Häftlingen und der SS erwecken mussten (vgl. die dritte Berthold-Episode S. 94 f.) oder andeuteten, dass die SS ihre Macht und Brutalität nicht uneingeschränkt dominant und rücksichtslos ausübte.

5. Beschreibungen, die andeuten, dass die SS das Lager bereits verlassen hatte, bevor das Signal zum Aufstand der Widerstandsgruppen gegeben wurde.

6. Erläuternde Passagen, die das Geschehen historisch präzisieren.

7. Beschreibungen, die die Charakterisierung von Häftlingen oder Situationen vertiefen, die das Geschehen expressiver und dynamischer oder den Kontakt der Effektenkammer-Häftlinge zu dem Kind beziehungsreicher erscheinen lassen.

8. Völlige Umwertung einer Reaktion, eines Begriffs.

8. Sprachliche Eigentümlichkeiten des Autors wie Lautmalereien, Worterfindungen (»spurschnuppernd«, »neugieren«) oder umgangssprachliche Redewendungen.

9. Drastische Ausdrucksweise und Lagerjargon, die die Atmosphäre der Lagerwelt vermitteln. Dazu gehören auch nazistisches Sprach- und Gedankengut (»Ganovenelemente«, »Menschenschrott«), das im Erzählerkommentar sarkastisch aufgegriffen wird.

 

Sämtliche sprachliche Eigentümlichkeiten wie Dialektfärbungen und gebrochenes Deutsch wurden den betreffenden Figuren (Zweiling, Bogorski, Kropinski) zurückgegeben, ohne dass dies jeweils gekennzeichnet wurde. Außerdem wurden Tempuswechsel in besonders intensiven Situationen stillschweigend aufgenommen. Manchmal wurde einer Schilderung, einem Detail, einem Ausdruck der Vorzug gegeben, wenn sie aussagekräftiger, anschaulicher oder atmosphärischer waren oder ihnen eine besondere Rhythmik innewohnte.

Die Lektoratsfassung enthält auf S. 281 den handschriftlichen Zusatz »II.«, durch den offenbar ein zweiter Teil gekennzeichnet werden sollte. Da dieser Schnitt inhaltlich begründet ist – die Handlung gewinnt durch die drohenden Evakuierungen an Dramatik –, haben wir die Einteilung übernommen.

S. H., A. D.