[Sechs Texte über Buchenwald von »Buchenwald-Häftling Nr. 2417«]1*
Es war am 4. November 1937, als wir in Buchenwald ankamen. Ich fühlte mich den anderen gegenüber ein wenig überlegen, denn ich hatte im Jahre 1933 bereits zwei Konzentrationslager (Colditz und Sachsenburg) kennengelernt. Was konnte mir Buchenwald schon Neues bringen. Jedoch das Gefühl der Überlegenheit verlor sich sehr bald, denn die unverwischbaren Eindrücke schon des ersten Tages zeigten, dass das Lager Buchenwald des Jahres 1937 keinen Vergleich mit dem Lager Colditz aus dem Jahre 1933 zuließ. Der Faschismus hatte Fortschritte gemacht. – Auf dem Bahnhof Weimar wurden wir von einer Eskorte SS in Empfang genommen. Feindselig schaute uns die Bevölkerung an. In einem geschlossenen Polizeiauto fuhren wir die zehn Kilometer bis zum Lager hinauf. Ein junger politischer Gefangener aus dem Lager, der in Weimar zu einer Vernehmung bei der Polizei gewesen war, fuhr mit uns zurück. Wir überschütteten ihn mit vielen Fragen, die eben der Neuling stellt. Er belächelte still unsere Neugier und gab kurze Antworten. Wie das Essen sei und die Behandlung? Gut, antwortete er ironisch, sehr gut. Entlassungen? O ja, Entlassungen finden auch statt. Alle drei Monate mal einer. Wir schauten betreten drein. Der junge Gefangene lächelte wissend. Am frühen Nachmittag kamen wir auf dem Ettersberg an. Wir wurden vor der grünen Baracke der politischen Abteilung ausgeladen, und von nun an ging alles im Laufschritt. Im Laufschritt wurden wir in die Baracke getrieben und mussten uns auf dem langen Korridor, mit dem Gesicht zur Wand, aufstellen. Mit erhobenen Armen, die Hände im Nacken gefaltet. Der berüchtigte »Sachsengruß«. So standen wir viele Stunden. Die Arme wurden lahm und starben langsam ab. Die Beine taten weh, der Hunger knurrte niederträchtig im Magen. Die hier beschäftigten SS-Leute und Gestapobeamten liefen und brüllten hin und her. Mancher Tritt von einem unbekannten Stiefel saß uns im Gesäß, mancher Faustschlag im Genick. Langsam lernten wir die Luft kennen, die wir für viele Jahre atmen sollten. Bis zum Abend dauerten die Aufnahmeformalitäten, die unter körperlichen Misshandlungen durchgeführt wurden, bis wir endlich ins Lager gebracht wurden. Ins Lager …
Es war stockdunkel. Ein feiner, alles durchdringender Sprühregen rieselte herab. Wir sahen einen armseligen Drahtzaun, Türme, primitiv wie die Hochsitze eines Jägers, und das nur, so weit das trübe Licht einiger Bogenlampen eine Sicht überhaupt zuließ. Sonst lag eine schwarze, undurchdringliche Finsternis vor uns, die es erst dann gestattete, Einzelheiten zu erkennen, wenn das Auge sich an sie gewöhnt hatte. Aber die Aufregung des eben Durchgestandenen, die Ungewissheit des Kommenden hatte uns so gebannt, dass wir wenig Sinn für unsere Umgebung hatten. Wir liefen. Wir liefen einen langen Weg. Angetrieben von SS-Leuten. Bis an die Knöchel sanken wir in den aufgeweichten Boden ein. Und dennoch reagierten die erregten Sinne auf Einzelheiten besonders scharf. Einzelheiten, Nichtigkeiten, Kleinigkeiten. Ich vergesse diese ersten Eindrücke niemals. Kein lebendes Wesen war im Umkreis zu sehen. Das trübrote Licht spärlich verteilter Bogenlampen ließ im Bereich seines Lichtkegels da und dort eine Bude erkennen, die zerfallen und verlassen schien. Überall hochragende Bäume. An den Baumstämmen glaubte ich etwas Schwarzes, Hängendes zu sehen. Ich konnte es nicht erkennen, denn wir hüpften mehr, als wir liefen, von Schlammloch zu Schlammloch. Dann aber hörte ich etwas. Das kam von den Bäumen. Es stöhnte dumpf, oder es wimmerte ganz leise. Plötzlich wusste ich: Das waren Menschen! Die hingen dort an den Bäumen. Ganz für sich allein in der trostlosen Einsamkeit dieser Einöde. Ich kenne noch das Gefühl, das mich überkommen hatte: Mir war, als wäre bei unserem Eintritt ins Lager ein großes Tor zugeschlagen, und als wären wir jetzt aus der uns bekannten und vertrauten Welt in eine Landschaft hineingegangen, die mit Welt und Menschheit nichts mehr zu tun hat. Als wäre die Einöde im tückischen Sprühregen mit ihren ragenden, schwarzen Bäumen und den stöhnenden, wimmernden Wesen an ihnen der Vorhof zu einem Reich des Todes und der Auflösung. Eine Hoffnungslosigkeit, wie ich sie nie wieder erlebt habe, bemächtigte sich meiner.