Draußen rannte ein Häftlingsläufer über den Appellplatz ins Lager hinein. Er suchte nach Krämer, fand ihn nicht sogleich und fragte herum: »Wo steckt er?«
Er lief nach dem Kleinen Lager, stolperte auf den Schlammwegen über die ausgelegten Steinbrocken, bis er Krämer endlich erwischte.
»Walter!«
Krämer ahnte nichts Gutes. Er zog den Läufer beiseite. »Was ist?« Der junge Mensch verschnaufte sich.
»Ein Fernschreiben! Ich habe es eben spitzgekriegt.« In seinen Augen glänzte die Angst. »Evakuierung!«
Krämer erschrak. »Ist das wahr?« Für einen Augenblick hatte der plötzliche Schreck in Krämer alles blockiert. Gedankenstarr blickte er in das angstoffene Gesicht des jungen Menschen.
{Evakuierung, das gefährliche Wort stieß alles nach vorn, was seit Monaten erwartet wurde.}
Die vielen Gefahren, die durch das Vorhandensein des Kindes entstanden waren, knäulten sich jetzt zu der einen großen Gefahr zusammen. {Plötzlich stand das Ende da. Krämer war zumute, als liefen ihm die Gedanken davon und er müsse ihnen nacheilen wie Fliehenden.}
»Was nun?«, fragte der Läufer.
Krämers Gesicht verzog sich nervös. »Abwarten«, antwortete er, weil er keine andere Antwort hatte, und entdeckte in sich, dass er mit dem Ende nichts anzufangen wusste.
Es war alles andere zu tun, als abzuwarten. Ein unsinniger Drang war in Krämer, die Signalpfeife an den Mund zu reißen, durch die Blockreihen zu jagen und mit schrillen Pfiffen das ganze Lager rebellisch zu machen: »Evakuierung, Evakuierung!«
Um seiner Verwirrung Herr zu werden, fragte er: »Weißt du etwas Genaueres?«
Der junge Mensch schüttelte den Kopf.
»Ich wollte es dir nur schnell sagen, oben sprechen sie bereits davon.«
Krämer schnaufte und schob die Hände in die Manteltaschen. Also war es zur Tatsache geworden, was einmal kommen musste. Nur erschien es in seiner erschreckenden Unmittelbarkeit so unwirklich, dass Krämers kühle Nüchternheit im Strudel zerwirbelte. Vor einer knappen Woche noch hatte er zu Schüpp gesagt:
»In 14 Tagen sind wir frei oder tot …«
Welch hohle Phrase war das damals noch gewesen! Jetzt aber stand er vor der Wirklichkeit!
Krämer durchfröstelte ein Schauer. Und was würde aus Höfel werden? Aus Kropinski? Aus den zehn Mann von der Effektenkammer? Pippig! Das Kind! Was würde aus allen werden?
Die Verhafteten waren in das Gefängnis gesperrt worden, das sich die Weimarer Gestapo eigens für ihre Zwecke im Marstall eingerichtet hatte.
Rochus Gay, der SD-Mann, hatte sich Kluttig mit auf sein Zimmer genommen, das sich in der ersten Etage des Vordergebäudes befand. Trostlos kahl war dieser Raum mit seiner zusammengetragenen Einrichtung, die nur aus einigen Stühlen, einem Tisch, einer Schreibmaschine am Fenster und einem hässlichen Rollschrank bestand. Eine vergessene Topfpflanze vegetierte kümmerlich auf dem Fensterbrett.
Helle Vierecke an der vom Alter gebräunten Tapete zeigten {ein freundliches Blumenmuster, das die Sonne nicht hatte ausbleichen können}.
Kluttig hatte sich auf dem Stuhl, der sich neben der Schreibmaschine befand, niedergelassen. Gay, die Zigarre im Mund, stand mitten im Zimmer, den Kopf in die breiten Schultern geduckt. Sein abgetragener Anzug hing ihm lässig um den robusten Körper. Der SD-Mann hatte die Hände in die Taschen der verbeulten Hose vergraben. Die seitlich gerutschte, vom täglichen Binden ausgeleierte Krawatte hing über dem schlaffen Jackett. Mit seiner heiseren Stimme knurrte Gay den Lagerführer an: »Ich möchte wissen, was ihr Weihnachtsmänner da oben auf eurem Berg eigentlich macht? Jetzt sollen wir euch ein kleines Kind herbeischaffen! Wir sind doch keine Kinderbewahranstalt.«
Gay bleckte die Zähne, zwischen denen er die aufgekaute Zigarre hielt.
»Eure Sorgen möchte ich haben …«
Kluttig versuchte, Gay die Zusammenhänge klarzumachen. Die gefährliche Frontlage gestattete keinen Aufschub in der Aufdeckung der geheimen kommunistischen Organisation …
Ungeduldig schlenkerte Gay mit den Ellenbogen, weil die in die Taschen vergrabenen Hände keine freie Bewegung der Arme zuließen. »Fünf Minuten vor zwölf kommt ihr damit angeschissen.«
Kluttig verteidigte sich. »Wir suchen schon lange danach …«
»Ihr Heinis …«, stieß Gay verächtlich aus. »Die ganzen Jahre über habt ihr euch da oben den Arsch gewärmt und Lebeschön gemacht. Wie die Götter seid ihr herumgestelzt …«
Kluttig wollte Einwendungen machen, doch Gay ging ihn scharf an: »Quatsch nicht! Du bist genauso ein Weihnachtsmann wie die anderen!« Er wälzte die Zigarre mit der Zunge. »War ein schönes Spielchen, was? Mützen ab, Mützen auf! Und strammstehen vor euch! Je mehr die Duckmäuser vor euch zusammengekrochen waren, desto mehr habt ihr euch gefühlt: Uns kann keiner! Arschlöcher! In eurer Borniertheit habt ihr gar nicht bemerkt, wie gern die vor euch gekuscht haben. Umso sicherer nämlich konnten sie sich in ihre Maulwurfslöcher verkriechen. Na bitte, was ist nun?«
Kluttig saß wie gescholten.
»Wenn ihr die ganze Zeit über bloß dämlich gewesen wäret, wollte ich gar nichts sagen«, fuhr der SD-Mann fort, »aber gefressen habt ihr, gesoffen, gehurt … größenwahnsinnig seid ihr gewesen! – Und jetzt, wo ihr die Koffer packen müsst, merkt ihr auf einmal, dass die Kommune …« Er brach ab und betrachtete sich ärgerlich den kalt gewordenen Zigarrenstrunk.
Kluttig, der die Vorwürfe als bitteres Unrecht empfand, versuchte, sich zu rechtfertigen.
»Ich gebe dir mein Ehrenwort, dass ich alles getan habe …«
Gay brannte sich den Strunk wieder an und kniff die Augen zusammen, weil der Rauch ihn biss; gelangweilt überhörte er Kluttigs Versicherung.
»Erzähle, was mit dem Schrott los ist, den du mir da gebracht hast!«
Erleichtert, dass der SD-Mann zur Sache überging, berichtete Kluttig ausführlich. Währenddessen ging Gay mit vorgeducktem Kopf im Zimmer umher, anscheinend wenig interessiert, doch hörte er aufmerksam zu und kombinierte bereits.
Der Zusammenhang zwischen dem Kind und der Kommune schien tatsächlich gegeben, auch in der Beurteilung des Pippig und Rose schien Kluttig recht zu haben. So wie die beiden ihm dargestellt wurden, schien der eine ein couragierter, der andere ein feiger Kerl zu sein. In Gay erwachte das Jagdfieber. Er ließ Kluttig reden und dachte über die Taktik nach.
Bei diesen beiden musste die Brechstange angesetzt werden.
{Routine jahrelang erprobter Vernehmungstechnik!}
Kluttig beschwor den SD-Mann: »Wir haben nicht mehr viel Zeit, die Front rückt immer näher …« Aufgescheucht erhob er sich und stellte sich Gay in den Weg. Im Nachdenken gestört, blickte dieser den Lagerführer an, dessen Gesicht die Dringlichkeit der Angelegenheit widerspiegelte. Gay ließ sich von der Zeitnot nicht verwirren, er sah in ihr sogar eine großartige Chance, die verborgenen Spuren im Lager ausfindig zu machen. Allzu oft schon hatte er erfahren, dass der Mensch, vor die Wahl zwischen Leben und Tod gestellt, sich im letzten Augenblick für das Leben entschied, dass er schwach wurde und die Aussagen machte, die er bisher beharrlich verweigert hatte. Die zehn Kerle, die Kluttig ihm gebracht hatte, waren bestimmt schon viele Jahre im Lager. Auch sie wussten, dass das Ende bevorstand. Gay kniff die Augen zusammen, um die Gedanken noch schärfer zu sehen.
Wer würde, kurz vor dem Ende, sein Leben riskieren, wenn er die Möglichkeit fand, durch eine letzte große Gefahr zu schlüpfen? Der SD-Mann rollte die Zigarre und wischte mit ungeduldiger Handbewegung die weiteren Erklärungen Kluttigs hinweg.
»Gut nun, ich weiß Bescheid!«
Wenig später, nachdem Kluttig gegangen war, begab sich Gay nach dem Gefängnis hinüber. Trotz dessen Überfüllung ließ er eine Zelle frei machen und übergab dem Schließer die Namensliste der Buchenwalder mit der Weisung, deren Personalien aufzunehmen und die zehn Mann neu in die einzelnen Zellen zu verteilen.
Sie sollten »gemischt« werden. Für Rose und Pippig ordnete er an, dass sie gemeinsam in die frei gemachte Zelle kommen sollten. »Aber unauffällig, verstanden?! Das muss wie zufällig geschehen! Die Kerle dürfen nicht merken, dass sie absichtlich zusammengelegt werden.«
So kamen Rose und Pippig gemeinsam in die Zelle Nummer 16, und beide ahnten nicht, dass damit die erste Voraussetzung für die Taktik kommender Vernehmungen geschaffen worden war.
Rose war völlig zusammengebrochen. Mit schlaffem Oberkörper saß er auf dem einzigen Schemel der Zelle, hielt die Hände, die sich nervös aneinanderrieben, zwischen den Knien und stierte vor sich hin. Sein Gesicht war kalkweiß, und die Aufregung saß ihm als bleierne Übelkeit im Magen.
Pippig sah sich mit einem Rundblick in dem kahlen Raum um und knuffte dann Rose aufmunternd an die Schulter.
»Reiß dich zusammen, Mensch!«
Rose atmete schwer und fauchte zwischen zitternden Lippen hervor: »Du Hund …«
Pippig sah Rose überrascht an, der in innerer Pein mit dem Oberkörper zu wiegen begann.
»Du Hund … wenn ich jetzt kurz vor Torschluss noch kaputtgehe, dann bist du daran schuld!«
Pippig sah die Qual des Menschen. »Aber August …«
Unvermittelt sprang Rose auf, packte Pippig an der Gurgel. Pippig riss sich aus dem Würgegriff, doch Rose ließ nicht ab, er stürzte sich auf den Gegner, und sie rangen miteinander.
Pippig überwältigte den Rasenden. Der Schemel fiel polternd um, die Zelle wurde aufgeschlossen, und der Schließer kam herein.
»Nanana, was macht ihr denn?«
Er brachte die Verknäulten auseinander. »Wollt ihr euch noch umbringen? Genug schon, dass ihr hier seid. Vertragt euch und seid froh, dass ihr eine Zelle für euch allein habt. In den anderen stecken sie zu 15 Mann zusammen.«
Der alte Schließer erkannte sofort, wer von den beiden die Nerven verloren hatte, darum drückte er Rose auf den Schemel.
»Nu beruhigen Sie sich.«
Er wandte sich an Pippig, der sich die vom Handgemenge aufgerissene Jacke zuknöpfte. »Damit macht ihr es euch nur noch schlimmer.«
Pippig hörte aus den Worten die menschliche Anteilnahme und nickte dem Alten dankbar zu. Der ließ sie wieder allein und schloss die Zelle ab.
So, wie er vom Schließer auf den Schemel gesetzt wurde, war Rose sitzen geblieben. Hilflos und in panischer Angst wimmerte er vor sich hin: »Ich habe damit gar nichts zu tun. Das geht mich nichts an. Ich habe meine Arbeit gemacht und weiter nichts. Ich will nach Hause. Ich will nicht kaputtgehen zu guter Letzt.«
Pippig hatte Mitleid. »Stimmt, mit dem Kind hast du nichts zu tun, August.«
Rose zeterte auf, seine Hände flatterten: »Ich weiß nichts über das Kind! Nichts weiß ich, gar nichts!«
»Na, dann ist es ja gut«, entgegnete Pippig trocken und in plötzlichem Ärger über Roses schlotternde Angst. Er lehnte sich an die Wand und sah auf Roses krummen Buckel mit dem tief eingezogenen Kopf. Aus dem kurzgeschorenen Haar stach die kreisrunde Glatze wie eine Tonsur heraus.
Pippig spürte, dass er für das Schwere, das noch auf sie wartete, in Rose keinen Kameraden finden würde. Mit aufsteigender Verwunderung entdeckte Pippig, wie wenig er über ihn eigentlich wusste. Der sollte für seine Partei noch kassiert haben, das war der Grund seiner Verhaftung gewesen. Mehr wusste Pippig nicht. Mit dem zähen Eifer eines schlechtbezahlten Angestellten hatte Rose die täglichen Schreibereien des Kommandos erledigt, und er hätte an Stelle der gestreiften Häftlingskleidung ebenso gut einen abgeschabten Kammgarnanzug tragen können. In seiner ewigen Angst aufzufallen, war Rose oft das Objekt gutgemeinten Spottes gewesen. Keiner hatte ihn jemals ernst genommen. Zwar galt er im Kommando als zugehörig und hatte auch niemals Anlass zu Misstrauen gegeben, doch führte er unter den anderen ein eigenbrötlerisches Dasein.
Pippig stierte auf den hässlichen Buckel und wusste auf einmal: Hier hockte der Verrat mit ihm zusammen!
Gleichzeitig aber schüttelte Pippig das Misstrauen ab, das ihm mit dieser Erkenntnis gekommen war: Rose war doch im Grunde kein schlechter Kerl. Der hatte nur Angst. Na klar, der hatte nur Angst.
Pippig stieß sich von der Wand ab und ging zu Rose. »Du bist doch kein schlechter Kerl, August.«
Rose antwortete nicht. Er brütete vor sich hin. Pippig zögerte einen Augenblick, dann setzte er sich entschlossen neben dem Schemel auf den Fußboden.
»Hör zu, August! Wegen dem Kind, da hab mal keine Bange. Du weißt eben nichts.«
Rose bellte auf: »Ich weiß es aber!«
»Nee!«, fuhr Pippig auf ihn ein. »Du weißt nichts! Gar nichts! Und wenn du nichts weißt, dann kannst du auch nichts erzählen!« Rose spürte die Beeinflussung und schwieg störrisch. Pippig stieß ihn ans Knie. »Hast du’s gehört? – Ich weiß auch nichts, und von den andern weiß auch keiner was. Und wenn wir alle nichts wissen … na, August …« Rose antwortete nicht. Pippig drang voller Leidenschaft auf den Schweigenden ein.
»Mensch, August! Willst du etwa als Einziger …? Du bist doch unser Kumpel! – Denk jetzt nicht an das Kind! Denk an uns alle! Vielleicht hat uns Zweiling hierhergebracht. Vielleicht war es der Zinker Wurach? – Hör zu, August! Du bist doch kein Zinker!«
Rose keuchte vor Qual. Sein verschlossenes Gesicht riss sich schmerzvoll auf, der Adamsapfel zitterte.
»Ich will nicht kaputtgehen zum Schluss, ich will nicht kaputtgehen …«
Pippig sprang auf die Beine und fluchte: »Gottverdammmich!« Er rüttelte Rose heftig an der Schulter.
»August, Menschenskind! Überleg doch! Glaubst du, dass die fünf Minuten vor Torschluss noch Kantholz machen? So dämlich sind die auch nicht. Sie werden sich hüten! Das ist doch unsere große Chance! Wir müssen nur zusammenhalten!«
Rose äffte: »Zusammenhalten! Die schlagen uns die Knochen im Leibe entzwei.«
Pippig ließ von ihm ab. Er steckte die Hände in die Taschen und ging mit sicheren Schritten durch die Zelle.
»Auf ein paar in die Fresse müssen wir uns gefasst machen{, na, wenn schon} …«
Die Zelle wurde aufgeschlossen. Der Schließer hielt die Tür in der Hand. »Pippig zur Vernehmung!«
Pippig fuhr erschrocken herum, sah auf den alten Beamten, der, in sein unschönes Amt ergeben, an der Tür wartete.
Pippig hob gleichgültig die Schultern hoch und ging. An der Tür drehte er sich noch einmal zu Rose um, lachte: »Na, August, pippst du oder pipp ich? – Ich pippe!«
Rose sah erstarrt auf die Tür, die sich hinter Pippig geschlossen hatte.
Zur gleichen Stunde befand sich Bochow mit Bogorski zusammen. Mit den letzten Zugängen, die das Bad verlassen hatten, war auch der Scharführer gegangen. Die Häftlinge des Kommandos säuberten den Brauseraum.
»Es geht los, Leonid.«
Bochow ließ sich schwer auf einen Schemel nieder.
»Genaues weiß ich nicht, aber – Krämer hat es mir eben gebracht. Sie wollen evakuieren.«
Die Mitteilung schien Bogorski gar nicht so stark zu beeindrucken. Oder verbarg er sich nur vor Bochow? Der stand auf, sah vor sich auf den Boden und hob schließlich den Blick zu Bogorski auf.
»Tja, was nun?« In der Frage lag nicht Ratlosigkeit, sondern sie umfasste das Schicksal der 50 000 Menschen. Umfasste alle seit Monaten immer wieder diskutierten Pläne für diesen Augenblick, der nun gekommen schien. Sollte man evakuieren lassen und 50 000 Menschen unweigerlich in den Tod schicken? Oder sollte man …
Bogorski riss die Schublade des Tisches auf, entnahm ihr eine Landkarte von Deutschland, die er auf dem Tisch ausbreitete, und winkte Bochow zu sich.
Sein Finger fuhr an der Oder entlang und blieb bei Küstrin hängen. »Hier ist Rote Armee.« Er drückte den Finger auf einen Punkt. »Berlin!« Bis dahin sei es nur noch ein kurzer Weg, erklärte er und verglich die östliche mit der westlichen Front. Im Westen zog sich die Linie von Paderborn nach Wildungen, Treysa, Hersfeld, Fulda. Ohne Zweifel, der Stoß ging nach Thüringen hinein, über Kassel, Eisenach, Erfurt. Wieder drückte Bogorski den Finger auf einen Punkt. »Weimar …«, und er ergänzte: »Buchenwald!« Doch vom Westen aus sei der Weg nach Berlin um vieles länger als vom Osten her. Wer Berlin habe, der habe auch den Sieg über Hitlerdeutschland.
»Werden aber {lassen die Amerikaner und Engländer, was sind Länder von Kapitalismus, den Sieg an die Sowjetunion?} Njet.«
Bogorski schaufelte mit breiten Händen die Fronten vom Westen und Osten auf der Karte nach dem Zentrum Berlin zusammen.
»Darum werden Amerikaner sehr schnell, weil sie noch haben weiten Weg bis Berlin und wird sein die Zeit sehr kurz.«
Bochow nickte verstehend. Bogorski wollte in seinem schwerfälligen Deutsch ausdrücken, dass der Amerikaner alles daransetzen würde, zur gleichen Zeit mit der Roten Armee in Berlin zu sein. Mit einem raschen Vordringen auf Thüringen zu musste gerechnet werden. Das würde einen Wettlauf geben. Wer würde schneller sein? Der Amerikaner oder die Faschisten mit der Evakuierung?
»Und wir stecken mittendrin«, lächelte Bochow schmerzvoll und seufzte. – »Das kommt nun alles auf einmal zusammen! Wir müssen uns noch heute Abend mit dem ILK besprechen, denn was wir jetzt zu tun haben, das können wir zwei nicht allein entscheiden.«
Bochow setzte sich auf den Schemel zurück und baute vor Bogorski seine Gedanken auf: »Da kommt so ein kleines Ding ins Lager – ja, ja, ich weiß, Leonid, ich weiß – so meine ich es nicht. Aber überlege doch mal: zuerst gehen Höfel und Kropinski in den Bunker. Deswegen! Wir müssen den ganzen Apparat lahmlegen. Deswegen! Jetzt schleppen sie zehn Mann von der Effektenkammer {zur Gestapo}. Deswegen! Es ist zum Verzweifeln!«
Bogorski hörte wortlos zu, mochte sich Bochow seine Not vom Herzen reden. Der setzte noch einen Gedanken obenauf.
»An dem Kind, Leonid, an dem Kind hängt alles. Solange sie es nicht finden, bleibt Höfel stark und auch Kropinski und auch die zehn Mann. Aber wenn sie das Kind finden …?
Mensch! Du weißt doch, wie es dann geht! Das ist eine alte Weisheit. An dem Kind hat Höfel sich stark gemacht. Sie brauchen es ihm nur zu bringen: Da, wir haben es, nun aber raus mit der Sprache! – Ich sage dir, dann klappt er zusammen. Und dann? Was dann? –«
Bochow presste sich die Hände an die Schläfen. »Es wissen schon viel zu viele um das Kind. Darin liegt die Gefahr! Das ist nicht mehr zu ändern«, sagte er müde, »wir sind nun mal mittendrin und müssen uns bewegen, so gut es geht.« Bochow knöpfte sich den Mantel zu, er war wieder ganz bei der Sache. »Damit du Bescheid weißt, ich rufe das ILK noch heute Abend zusammen.«
Er wollte gehen, verhielt einen Augenblick und meinte resigniert: »Auch das ist gefährlich geworden. Aber wir können darauf keine Rücksicht mehr nehmen.« Sie gaben sich stumm die Hand.
Lange noch, nachdem er allein war, grübelte Bogorski nach einem Ausweg. Es wussten schon zu viele um das Kind. Darin lag wirklich eine ernste Gefahr! Bis zu Zidkowski reichte schon die Kette derer, die mit dem Kind zu tun hatten. Die Kette musste abgerissen werden. Es galt, die Genossen vor sich selbst zu schützen. Abreißen die Kette, dachte Bogorski, aber wie?
Über eine Stunde schon war Pippig fort, und Rose hockte noch immer auf dem Schemel. Wie lange noch, dann war er an der Reihe. {»Rose, zur Vernehmung!«} Eine wilde Angst überkam ihn. Rose sah sich bereits dem Gestapomann gegenüber.
»Herr Kommissar, ich bin eigentlich ganz harmlos. Ich habe meine Arbeit gemacht und weiter nichts.« Weil es ihm angenehm erschien, ließ er sich von dem vorgestellten Kommissar fragen: »Wie lange sind Sie schon im Lager?«
»Acht Jahre, Herr Kommissar.«
»Acht Jahre! {Tststs …} Wie haben Sie das nur ausgehalten?«
Rose genoss die Frage. »Das war eine schlimme Zeit. Wissen Sie, Herr Kommissar, als ich vor acht Jahren hier eingeliefert wurde, da war das Lager noch nicht so wie heute. Damals, im Polizeigefängnis, als ich zum ersten Male den Namen Buchenwald hörte, kam mir das komisch vor, Buchenwald … das klang so nach – ich weiß nicht – aber ich dachte mir damals, da kommst du in ein schönes, sauberes Lager, dort wirst du umgeschult von netten Leuten aus der Partei – hehe –, und nach ein paar Monaten, dann gehst du nach Hause – hehe …«
Das Flüstern {erstarb}, und Rose stierte vor sich hin. Die Ankunft vor acht Jahren auf dem Weimarer Bahnhof rückte in seiner Erinnerung nach vorn. Aus dem Sammeltransportwagen aussteigend, {der als letzter dem Zug angehängt war, waren die} Gefangenen von einer Eskorte SS empfangen worden. Einzelheiten tauchten in der Erinnerung auf. Rose sah wieder die Leute auf dem Bahnsteig stehen, die in einiger Entfernung dem Schauspiel zusahen. Feindselig und schweigend. Ebenso feindselig und schweigend benahmen sich die SS-Leute. Sie hatten fremde, grüngraue Uniformen an. Stahlhelm, Karabiner und einen Totenkopf am schwarzen Spiegel. Es waren alles junge Kerle, nicht älter als etwa 18 Jahre, doch wirkten sie unheimlich und gefährlich.
{Es ging in ein überplantes Lastauto hinein.} Vorn und hinten auf den im Auto aufgestellten Bänken hatten die SS-Leute Platz genommen, den Karabiner zwischen den Knien. Der Führer der Eskorte schwang sich über den hochgezogenen Giebel in den Wagen und sagte mit drohendem Unterton: »Jede Unterhaltung ist verboten. Wer quatscht, kriegt ein paar in die Fresse. Bei Fluchtversuch wird sofort geschossen – abfahren!«
Es ging den Berg hinauf, und als der Wagen hielt, verwandelte sich die schweigende Eskorte in eine wilde und brüllende Meute. Die Giebelwand des Wagens fiel rasselnd herunter, die SS-Leute sprangen von ihren Sitzen hoch und trieben die Gefangenen mit Geschrei und Kolbenstößen vom Wagen und im Laufschritt in die Baracke hinein, vor welcher das Auto gehalten hatte.
Rose sah wieder den langen, halbdunklen Korridor mit seinen vielen Türen. SS-Leute liefen hin und her, ihre Stiefel krachten auf dem hohlen Fußboden. In langer Reihe standen die Gefangenen mit dem Gesicht zur Wand, die Hände hinter dem Kopf gefaltet. Hinter ihrem Rücken schrie und schimpfte die Geschäftigkeit, militärisch, roh. Hin und wieder blieb einer der eiligen SS-Leute stehen. »Was ist das für ein Haufen? – Strammstehen, Drecksau!« Unvermittelt gab es dabei einen Tritt ins Gesäß, einen harten Faustschlag auf den Hinterkopf, dass die Stirn gegen die Wand prallte.
Die Bilder verschwammen, Rose hockte auf dem Schemel mit leerem Gehirn. Allmählich füllte es sich wieder mit den Bildern der Erinnerung, die lebendig und frisch waren wie am ersten Tag. –
Es war Abend geworden, als die Gefangenen von der politischen Abteilung endlich ins Lager gebracht worden waren. Rose sah sich im Haufen der Gefangenen auf einem aufgeweichten Lehmweg ins Unbekannte hineinmarschieren. Ein Scharführer stapfte hinter ihnen her. Pfahlbauartige Wachtürme wurden sichtbar, sie sahen aus wie primitive Jägerhochsitze. Ein Zaun war da aus ungeschälten Stämmen, darum Stacheldraht, wie Notenlinien gezogen.
Aus einem Wetterhäuschen trat ein Posten im Stahlhelm, sein Mantel reichte bis zu den Füßen. Eine wacklige Tür, ebenso primitiv zusammengeschlagen wie der Zaun, knarrte unlustig in rostigen Angeln. Eine weite Fläche spannte sich vor ihnen, nirgends ein Mensch in dem schwarzen Dunkel. Einzelne hochragende Bäume waren zu sehen, deren Äste wie aufgereckte Arme in die regennasse Finsternis stießen, und regellos verstreute Lichtmasten. Im rötlichen Schein der Lampen, die einen Kreis auf den Boden warfen, glitzerte der Nebelregen. Speckig glänzte der Schlamm. Schwarze Baumstümpfe hockten umher, ein paar Bretterbuden … Starr und tot war die gespenstische Landschaft.
»Lauft zu, ihr Vögel!«
Die Hosenbeine hochgezogen und mit den Ellenbogen rudernd, waren sie durch den knöcheltiefen Schlamm gehüpft. Sie stolperten über verborgene Steinbrocken, glitschten in Löcher ab, verloren die Balance, streckten die Arme schützend nach vorn.
»Lauft! Verflucht noch mal!«
»So sah es damals aus, Herr Kommissar. – Was meinen Sie, wie wir die erste Zeit gehaust haben? Waschen gab es nicht, das bisschen Wasser reichte gerade für die Küche. Die Klamotten wurden uns nie trocken. Nass, wie wir sie abends ausgezogen, zogen wir sie frühmorgens wieder an … So aus dem warmen Bett heraus, Herr Kommissar … Wir hatten alle die Scheißerei. Hinter den Baracken waren die stinkenden Latrinen, Gruben, mit einem Querbalken darüber. Nicht mal Papier gab es, um sich den Hintern abzuwischen. Das war uns alles egal. – Ob wir genug zu essen gehabt hatten damals? Haben Sie eine Ahnung, Herr Kommissar! Das muss ich Ihnen genau schildern, sonst begreifen Sie es nicht …«
Statt zu »schildern«, versank Rose wieder ins Brüten und verkroch sich in die Bilder der Vergangenheit. Um 4 Uhr morgens schrillte die Pfeife des Blockältesten. Die Stubendienste schrien in den Schlafsaal: »Aufstehen!«
Draußen schwelte noch die Nacht. Im trüben Licht der Bogenlampen gleißte der Schlamm wie ein See, und auf den Wegen zwischen den Baracken floss er als träger Teig den Berg hinab. Sprühnebel geisterte. Eiskalt und steif waren die Klamotten, knochenhart die nassen Schuhe.
Vorbei Nacht und Schlaf, draußen braute sich ein neuer Tag zusammen. Im Tagesraum schlürfte man eine Tasse lauwarmer Kaffeebrühe, ehe es hinausging in Nässe und Kälte. Oft war der Kaffee die einzige Nahrung für den ganzen Tag. –
»Jaja, Herr Kommissar«, stöhnte Rose, von der Gewalt der Erinnerung bezwungen. »Den Knust Brot für den Tag kriegten wir am Abend vorher, und den hatten wir gewöhnlich mit der Suppe aufgefressen.«
Draußen pfiff der Blockälteste. »Antreten zum Appell!« Raus aus der Bude, rin in Schlamm und Schmodder.
»Rechtsum! Im Gleichschritt marsch!«
Klitsch, pitsch! Links-zwei, links-zwei …
Wenn wir oben ankamen, waren wir schon wieder nass bis auf die Haut. Die Scheinwerfer schrien uns {in die Fresse} und bissen sich in die Augen hinein … Dann streuten sich die Rudel der Blockführer unter uns aus, um uns zu zählen. Wie der Schlamm spritzte unter ihren Tritten, aber die hatten ja feste Stiefel an. – Der Appell nimmt kein Ende! Da oben stimmt was nicht. Es fehlt wieder mal einer! Verfluchte Scheiße!
»Stubendienste in den Wald, Vogel suchen!«, schreit es durch den Lautsprecher. Von allen Blocks stürzen die Stubendienste los, der Lagerälteste vorneweg. –
Nee, nee, das war nicht Krämer; an den war seinerzeit noch nicht zu denken. Der Lagerälteste von damals war ein Grüner, ein BVer, und der ist längst verreckt, der Hund. Und wir stehen und warten, dass sie den Fehlenden finden. Stehen und stieren blöd vor uns hin. Stehen und schlafen im Stehen. Das ging so eine Stunde oder zwei. Wohin mag sich der Kerl nur verkrochen haben? Ist er in die Latrine gekippt und in der Scheiße versoffen? Na, prost Mahlzeit! Dann kann es lange dauern, bis sie ihn herausfischen mit den langen Stangen …
Vielleicht hat er Brot geklaut, es mit der Angst gekriegt und sich im Wald aufgeknüpft. Sie meinen, wegen so ’nem Stückchen Brot? Haben Sie ’ne Ahnung. Nun finde ihn mal im Dunkeln bei den vielen Bäumen …
Zwei Stunden – drei Stunden –
Der Regen weicht uns auf, wir ziehen die Köpfe tiefer zwischen die Schultern und werden den Marabus immer ähnlicher. Es wird langsam hell. Wir stehen, stieren, schlafen. Der Hunger rumort niederträchtig im Gedärm. {Hustengekrächz und Geröchel. Immer dichter dekoriert sich der Standort eines jeden mit gelb-grünen Aulen, manchmal ist Blut drin. O Mensch, wie bist du schön …}
Mancher hält das Stehen nicht aus. Er fängt zu schaukeln an, geht in die Knie, wird von den Nebenmännern hochgezogen und hängt dann wie ein Sack zwischen ihnen. Mancher kippt völlig zusammen, also wird er neben den Block hingelegt, seine zusammengerollte Jacke ihm unter den Kopf geschoben, damit er wenigstens nicht im Schlamm zu liegen kommt.
Die Scheinwerfer sind längst abgedreht.
Manchmal kommt von oben ein Blockführer heruntergestiefelt, um durch die Reihen zu gehen. »Achtsehn!«, flüstert es von Block zu Block. Die Knochen reißen sich hoch, Strammstehen, Vordermann, Seitenrichtung … Ist der Kerl wieder fort, werden die Scharniere wieder locker.
Endlich pfeift es irgendwo dahinten. In die Blocks kommt Leben. Sie haben ihn gefunden! Die steifen Knochen bewegen sich. Vorsichtig werden die Füße aus dem Schlamm gezogen. Das schmatzt und schnalzt.
Einem ist dabei der Schuh steckengeblieben. Auf einem Bein balancierend, patscht er mit der Hand im Schmodder {und im Perlmutter der Bronchien} herum, zerrt den festgesaugten Schuh heraus. Mit der Hand leert er ihn aus. Der Schlamm klatscht wie Kuhfladen zu Boden. {Schokoladenpudding!}
In wildem Galopp kommt die Meute aus dem Wald heraus. Der Lagerälteste vorneweg! Gott sei Dank, sie haben ihn gefunden! An den Beinen schleifen sie ihn über Steine und Stümpfe hinter sich her. Der Kopf schlenkert und springt wie ein Ball über die Hindernisse hinweg. Ob der überhaupt noch lebt? Oben legen sie ihn wie einen apportierten Hasen vor die Füße des Rapportführers! Nun stimmte der Appell!
»Arbeitskommandos antreten!«
Na endlich! Es hat auch sein Gutes gehabt, das Stehen. Wieder sind ein paar Stunden weg vom Tag. Und dann geht’s raus aus dem Lager. – Ein Lied.
oder: »Liegt ein Dörflein mitten im Walde,
überdacht vom Sonnenschein.
Vor dem letzten Haus an der Halde
sitzt ein steinaltes Mütterlein …«
oder:
»O du schönes Sauerland,
du bist ja in der Welt so weit und breit bekannt,
ein jeder möcht dich sehen gern,
drum eilen die Leut von nah und fern …«
Rose kichert. Er möchte sich stundenlang vorerzählen, wie es damals war.
Im Schachtkommando Pumpenhaus Weimar habe ich gearbeitet. Eijeijeijei … was war da los! Rose schnalzt mit der Zunge. Den Berg hinab zog sich ein Graben. Vier Meter tief, vier Meter breit.
Drin lag die Steigleitung für das Wasser, mannsdicke Tonrohre auf der Grabensohle.
Den Graben hatten wir zuzuwerfen, das war unsere Arbeit. Wie harmlos das klingt! Haben Sie eine Ahnung! Die aufgeworfene Erde war steinhart gefroren. Sie musste mit der Picke locker geschlagen werden. Eijeijeijei, wie der Stiel in die Pfoten prellte. Zuerst sind’s Blasen, dann gibt es rohes Fleisch. Und immer druff! Picken – schaufeln, picken – schaufeln. Rückenmuskeln? Nee, mein Lieber, Sensenmesser! Wunden verbinden? Nee, mein Lieber, in Buchenwald gibt’s nur Gesunde oder Tote! Und ein Toter kannst du hier sehr schnell werden. Was meinst du wohl! Wenn der Scharführer auf dich losstürzt, dann buddelst du um dein Leben! In fünf Meter Entfernung steht die Postenkette, junge Burschen, die sich langweilen und frieren, dir aber laufen Schweiß und Regen über die Fresse, dass du kaum noch was sehen kannst. Aber da gibt’s noch Schlimmeres! Die verfluchte Scheißerei! Du möchtest dir die Hosen herunterreißen und an Ort und Stelle … Das ist verboten. Du musst dich beim Posten abmelden und in den Wald gehen. Hahahaaa, in den Wald … Das heißt: über die Postenkette, und wer da drübergeht, wird auf der Flucht erschossen. Nun scheiß mal … Aber der Wanst will dir auseinanderplatzen! Im letzten Moment, wenn es schon in die Hosen abgehen will, ist dir alles egal. Scheißen ist notwendiger als sterben. Du lässt die Picke fallen, stolperst über den Erdhaufen zum Posten, die Sensenmesser zerschneiden dir den Rücken, zitternd ziehst du vor dem Knaben dein Krätzchen. »Häftling bittet austreten zu dürfen …«
Kauerst du dich nun zu nah bei dem nieder, dann springt er auf dich los, kracht dir den Kolben ins Kreuz: »Schwein! Willst du mir deinen Mist vor die Nase setzen?« Gehst du aber einen Meter zu weit, dann reißt er vielleicht den Karabiner an die Backe …
Erschöpft legt Rose den Kopf in den Nacken. Das ist wohltuend für einen Augenblick, aber nur für einen Augenblick, denn das abgesackte Blut jagt wieder hoch.
Rose springt auf und beginnt zu gestikulieren: »Das muss ich Ihnen doch alles erzählen, Herr Kommissar! Sie müssen wissen, was ich hinter mir habe! Wer weiß, was sie jetzt mit Pippig anstellen! – Ich habe mit dem Kind gar nichts zu tun, gar nichts, bitte sehr …«
Rose kam nicht weiter. Das Gerassel des Schlüssels an der Zellentür überraschte ihn. Der Schließer zwängte sich herein, ein Bündel mit sich schleppend – das Bündel war Pippig!
»Halten Sie ihn«, brummte der Schließer Rose an, der in der Zelle stand, als wolle er in deren äußerste Ecke fliehen. Doch Rose gehorchte. Er griff von hinten unter Pippigs Armen durch, während der Schließer das Bett herunterklappte. Sie legten das Bündel darauf. Mit dem leeren Wasserkrug verließ der Schließer die Zelle und brachte ihn gefüllt zurück, warf Rose einen Leinenfetzen zu. »Sie sehen selber, was zu tun ist.« Er ließ die beiden allein.
Pippig lag mit geschlossenen Augen. Eines davon war verquollen. Aus dem linken Ohr zog sich ein brauntrockener Blutstreifen bis zum Hals. Die Nase und der aufgetriebene Mund waren blutverkrustet. Jacke und Hemd aufgerissen, das Hemd zerfetzt.
Roses Hand, die den Leinenlappen hielt, zuckte. Mit der Neugier des Grausens beugte er sich über Pippig. Dessen Augenlider zitterten. Das entstellte Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, es sollte ein Lächeln daraus werden. Rose sah es mit Entsetzen. Unvermittelt begann Pippig zu reden, leise, aber doch mit erschreckend klarer Stimme: »Wisch mir die Visage ab …« Roses Hände bebten, als er den Lappen befeuchtete und das Gesicht abrieb.
Pippig bewegte die schweren Arme und hob sich vorsichtig das Hemd von der Haut ab. Jetzt erst gewahrte Rose auf der Brust große, kreisrunde Stellen verbrannten Fleisches. Brandlöcher! Pippig fühlte durch die Augenlider Roses starren Blick auf seiner Brust.
»Mit der Zigarre«, sagte er nur, um zu erklären, und nach einigen gelähmten Sekunden: »Leg mir den Lappen drauf, recht nass.« Pippig stöhnte, als er Kühlung empfand. Er atmete stark und stieß heftig heraus: »Was zu trinken, los.« Rose sah sich in der Zelle um und entdeckte im Wandspind eine Aluminiumtasse, die er füllte. Er stützte Pippig mit untergeschobenem Arm, der trank gierig die Tasse leer. Jetzt erst schien er »es hinter sich zu haben«. – Mit einem erlösten Stöhnen legte er den Kopf zurück, und sein Gesicht entspannte sich. Pippig konnte das unverletzte Auge nur halb öffnen. Als sei es ihm jetzt das Wichtigste, begann er mit prüfendem Finger seinen Mund zu untersuchen. Einige Zähne fehlten, andere waren locker … Pippig machte sich selbst eine geringwertige Handbewegung: weg mit Schaden …, zog sich den Lappen von der Brust und hielt ihn Rose hin: »Mach’s noch mal kalt.« Er schien sich zu kräftigen. Nach einer Weile sagte er ganz klar: »Man keine Bange, mit dir macht er das nicht. Ich weiß nun, was los ist.« Er sprach mit stolpernder Zunge, musste sich erst an die Zahnlücken gewöhnen. »Wir sind nicht zufällig in einer Zelle zusammen. Die denken nämlich, sie sind schlau. Wir sind es auch. – Hör zu, August!« Er richtete sich mühsam auf, schob Roses helfende Hand hinweg und verschnaufte. »Hör zu, August, das ist wichtig. Der Bulle hat mich nicht deswegen zusammengedroschen, weil ich nichts gesagt habe, der weiß schon, dass er aus mir nichts rauskriegt, sondern weil … Also hör zu, das ist {Methode} …« Das Sprechen strengte Pippig an, er atmete spitz. »Reg dich nicht auf«, bat Rose. Pippig zwang sich zu einem Lächeln. »Ich rege mich doch gar nicht auf …« Er schwieg und {gab sich der wohltätigen Kühlung seiner Wunden hin}. »Das tut gut«, seufzte er. Er musste sich auf den Rücken zurücklegen. Eine Weile lag er so und sagte nichts. Rose stellte zögernd eine Frage. »Warum – warum wird er – das – nicht mit mir machen? – Hat er es dir gesagt?« Pippig gab keine Antwort! Erbärmliche Frage! Schließlich aber sagte er: »Du Dunselmann …« Rose schämte sich, saß mit gesenktem Blick. Pippig fuhr fort: »Der Bulle weiß, dass du ein – weiches Gemüt hast. Darum hat er uns in eine Zelle zusammengesteckt. Du sollst vor Angst in die Hosen scheißen, wenn du mich siehst. So spekuliert er. Und dann – verlass dich darauf –, dann versucht er es bei dir mit der süßen Tour. Wenn du nicht auch noch Prügel beziehen willst, dann musst du schwer auf Draht sein …«
»Was soll ich denn machen?« Roses Gesicht wurde hässlich schief.
»Die Schnauze sollst du halten, weiter nichts.«
»Du weißt eben von nichts, und dabei hast du zu bleiben, selbst wenn er dir ein paar in die Fresse knallt. – Gottverdammmich, das wirst du doch noch aushalten können!«
Die Schmerzen wurden unerträglich. Pippig ächzte und warf den Kopf unruhig hin und her. Er war so grauenhaft allein in seiner Not.
»Mensch, gib mir noch was zu trinken«, stöhnte er, richtete sich auf den Ellenbogen hoch, als Rose ihm zitternd die Tasse an die Lippen hielt, und sank erschöpft wieder zurück.
Rose sah auf dem Gesicht des Gequälten die Anstrengung, mit der dieser die Schmerzen bezwang. Plötzlich übermannte ihn die Scham. Leise sprach er und mehr in sich selbst hinein: »Nun gut, Rudi, nun gut, also ich weiß von nichts …«
Pippig lebte auf.
»Siehste, siehste«, frohlockte er. »Und dabei musst du bleiben. Verplappere dich nicht, August, hörst du? Wenn der Bulle merkt, dass du was weißt, dann macht er Schinkenklopfen mit dir, verstehste? Aber wenn du stur bleibst, verstehste … Ich habe ihm nämlich schon beigebracht, dass du gar nichts von der Geschichte weißt.«
»Hast du alles auf dich genommen?«
»Du hast wohl ’nen Vogel?«, sagte Pippig plötzlich, als wäre er ganz gesund. »Ich habe ihm gesagt, wenn wir alle nichts wissen, dann weißt du erst recht nichts, weil du ein … Dunselmann bist …« Pippigs Kraft war zu Ende. Er streckte sich, und seine Muskeln waren wie aufgeweicht vor Schmerzen. Rose sah betreten vor sich hin. Das also war die Meinung über ihn. Pippig hatte ihn nicht beschworen, hatte ihn nicht gebeten, tapfer und mutig zu sein. »… weil du ein Dunselmann bist …«
Rose verbarg sich vor sich selbst mit hängendem Kopf, so sehr schämte er sich. –
Nach Pippig hatte sich Gay einige andere von den Buchenwaldern geholt. Nicht in der Absicht, eine Vernehmung durchzuführen. Nur abtasten wollte er sie. Er richtete sich in der Art, sie zu befragen, nach dem Eindruck, den er von dem Mann hatte, der jeweils vor ihm stand, und bald merkte er, dass es alle hartgesottene Brüder waren. Keiner wusste etwas.
Nun gut, dachte Gay, lassen wir es vorläufig so, ihr werdet schon noch singen wie die Nachtigallen.
Jetzt konzentrierte sich seine Aufmerksamkeit auf Rose, für den er Pippig lecker zurechtgemacht hatte. Es war schon spät am Nachmittag, als er sich Rose kommen ließ.
»Na, mein Lieber, nun setzen Sie sich mal. Rose war Ihr Name, nicht wahr?«
»Jawohl.«
Gay brannte sich eine Zigarre an und legte das Streichholz bedächtig auf den Ascher. Mit einem sorgenvollen Seufzer bemerkte er dabei: »Da sind Sie in eine dumme Geschichte hineingeraten. {Jajaja …} Wie lange sind Sie denn schon im Lager?«
»Acht Jahre«, antwortete Rose, verblüfft darüber, dass die Vernehmung so begann, wie er sie sich zusammenphantasiert hatte. Gay wiegte bedauernd den Kopf. »Acht Jahre! Jejeje … acht Jahre! Das hätte ich nicht ausgehalten.«
Wie unheimlich das war in seiner Folgerichtigkeit! Rose antwortete nicht und wollte nur ängstlich bemüht sein, den Bullen nicht zu reizen, sonst schlug der zu.
Gay schien dergleichen nicht im Sinn zu haben. Er zog an der Zigarre, und Rose sah auf die leuchtende Glut. Damit hatte der Bulle die Brandlöcher gemacht … Gay lehnte sich im Stuhl zurück, kreuzte gemütlich die Arme über der Brust und sah Rose freundlich an.
»Ihr Buchenwalder seid ein komisches Volk. Wegen eines kleinen Kindes lasst ihr euch erst windelweich prügeln. Wenn ihr die Schnauze halten wollt, dann müsst ihr auch konsequent sein. Aber wenn ihr euch erst zusammendreschen lasst und dann trotzdem quatscht, dann braucht ihr euch nicht zu wundern, wenn man euch nicht mehr als vernünftige Menschen behandelt.«
Gay beugte sich vertraulich Rose zu.
»Der Pippig, das ist ein braver Kerl, bestimmt! Alle Achtung! Konnte er es mir nicht gleich gesagt haben: Na schön, Herr Kommissar, da haben wir so ein kleines Wurm gefunden. – Dann wäre alles gut gewesen. Nee, erst muss man ihn in die Pfanne hauen, und dann sagt er es doch. Ist das noch ein vernünftiger Mensch?«
Gay lehnte sich wieder zurück und bemerkte nebenhin: »Gott sei Dank waren die anderen von Ihren Kumpels gescheiter und haben es gleich zugegeben. – Was hat nun der Pippig davon?«
Rose saß gedrückt auf dem Stuhl, und Gay spürte den sich anbahnenden Erfolg der Taktik. Er erhob sich und ging im Selbstgespräch durch das Zimmer.
»Was ihr da oben im Lager macht, das interessiert mich nicht, ich habe andere Sorgen. Euer Kluttig ist nun mal ein Bürokrat. Kommt zu mir gelaufen und ringt die Hände: Hilf mir! Oben im Lager ist ein Kind angekommen, das ist noch nicht registriert, und nun stimmt der Häftlingsbestand nicht!«
Gay meckerte. »Als ob es darauf ankäme! – In ein paar Tagen ist der Amerikaner hier, und wir müssen abhauen. Wir und nicht ihr! Nun stellen Sie sich den dämlichen Pippig vor! Fünf Minuten vor zwölf riskiert der Idiot wegen so einer Bagatelle noch sein Leben. – Ich hätte ihn totschlagen können. – Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«
In Rose ging Furchtbares vor sich. Was der Bulle erzählte, ging weit über die »süße Tour« hinaus. Der schien viel zu wissen. Hatte Pippig tatsächlich zugegeben und es ihm nur verschwiegen? Hatten die anderen …? Ehe Rose die Gedanken klären konnte, stand der Bulle vor ihm und stippte ihn aufmunternd an die Schulter.
»Was habt ihr euch dabei gedacht?« Rose blieb sitzen, wie er saß, mit hängendem Kopf.
»Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun«, kam es leise aus ihm heraus.
»Das weiß ich! Pippig hat mir alles erzählt«, beeilte sich Gay zu versichern. »Wo – in Gottes Namen – habt ihr aber das arme Wurm hingeschleppt?« Rose schwieg. Gay stand am Fenster und trommelte gegen die Scheibe. Sekundenschnell wägte er ab und entschied sich. Er ging zu Rose. Freundlich, doch mit unverkennbar hartem Griff packte er ihn vor der Brust und zog ihn hoch. An Roses Kraftlosigkeit merkte er, dass es so richtig war. Er nahm die Zigarre aus dem Mund, tippte die Asche ab und hielt Rose die Glut wie zufällig unter die Nase. Die ätzende Hitze biss Rose in die Schleimhäute.
Väterlich sagte Gay: »Nun, seien Sie vernünftig, Rose.«
Rose sah dem Bullen ins Auge, darin glitzerte unergründliche Gefahr. – Rose schluckte, er fühlte, dass sich der ziehende Griff an seiner Brust lockerte. Gay klopfte Rose auf die Schulter.
»Ich habe keine Lust, mit Ihnen dasselbe zu veranstalten wie mit Pippig, ich mach’s nicht gern. Aber wenn Sie mich zwingen … Rose, Mann Gottes, ich tue doch auch nur meine Pflicht!«
Wenn der merkt, dass ich etwas weiß …
Rose ließ den Blick nicht von dem Bullen.
»Also, wohin habt ihr das arme Wurm gebracht?« Roses Blick flackerte. Er riss allen Mut zusammen.
»Ich weiß es nicht«, stotterte er, der Faust des Bullen gewärtig. Doch Gay seufzte nur und hob bedauernd die Arme.
»Na schön, es tut mir leid um Sie. Gehen Sie jetzt in Ihre Zelle und besprechen Sie sich mit Pippig. Ich muss Sie mir in dieser Nacht noch einmal rüberholen …«
Es war schon dunkel, als Rose vom Schließer in die Zelle zurückgebracht wurde. Pippig lag im Fieber und war nicht bei Verstand. Der Schließer legte ihm den feuchten Lappen auf die Stirn und brummte im Hinausgehen zu Rose hin: »Nun machen Sie keine Dummheiten, es ist genug mit dem einen hier.«
Rose kauerte sich auf den Schemel. Das ganze Elend der Welt kroch in dieser Zelle zusammen. Gern hätte Rose jetzt ein Wort gesprochen.
»Rudi …«
Pippig rührte sich nicht, sein Atem ging heiß und ziehend.
»Rudi …«
Rose schüttelte ihn an der Schulter.
Der Fiebernde stöhnte. Rose ließ von ihm ab. Klein und krumm hockte er auf dem Schemel. Nun war er ganz mit sich allein! –
Der ätzende Rauch der Zigarre klebte ihm noch in den Nasenlöchern, und der gefährliche Griff des Bullen zog noch an der Brust. Die Kälte in der Zelle kroch fröstelnd über die Haut.
Die vergitterte Glühbirne an der Zellendecke brannte rötlich und arm.
Bald würde die Nacht kommen …
Der Kommandant hatte den gesamten Stab zu sich befohlen, und deshalb ging der Abendappell sehr rasch vorüber. Kluttig war nicht da, an seiner Stelle nahm der ewig besoffene Weisangk den Appell ab. Reineboth baute sich vor dem ersten Lagerführer auf und machte seine Meldung.
Dann: »Abrücken!« Das ging heute schnell. Es lag etwas in der Luft. Die Zehntausende wussten es! Wie ein Gas hatte sich das Gerücht von der Evakuierung mit der Atmosphäre des Lagers vermischt. {Wie sonst immer war das äußere Bild des Abmarsches.} Block um Block schwenkte um und marschierte im Gleichschritt den abfallenden Platz hinunter. Wie sonst kam es in den schmalen Durchgängen zwischen den Baracken zu Stauungen und Gedränge. {Wie sonst löste sich die Marschordnung} hier auf, weil jeder bestrebt war, so schnell wie möglich in die Baracke zu kommen.
Kleinigkeiten nur waren es, die anzeigten, dass es anders war als sonst. Rapportführer, Lagerführer, Blockführer warteten nicht wie üblich, bis sich der Appellplatz geleert hatte, sondern verschwanden eilig durchs Tor. Die Posten, die sonst gleichgültig auf der Galerie des Hauptturms hin und her stapften, standen neben den Maschinengewehren, den Kopf in den hochgeschlagenen Mantelkragen gezogen, um sich gegen den scharfen Märzwind zu schützen, der um die Ecken des Turmes pfiff, und blickten den abziehenden Blocks nach.
Unmittelbar nach dem Appell rückten auch die Kommandierten, die für gewöhnlich bis zum späten Abend zu arbeiten hatten, aus den verschiedenen SS-Gebäuden ins Lager ein. Es lag etwas in der Luft!
In den Blocks rumorte es wie immer. Um die Suppenkübel drängten sich die Häftlinge, gleichmütig wie immer teilten die Stubendienste die karge Brühe aus, die Schüsseln klapperten. Wie immer zwängten sich die Männer auf die Bänke an den langen Tischen, Mann an Mann, so dass kaum noch Bewegungsfreiheit vorhanden war, um mit dem Löffel zu hantieren. Wie immer knabberten sie nach der Suppe an der noch kleiner gewordenen Brotration für den anderen Tag. Aber es war dennoch anders als sonst. –
Die Gespräche, bisher umherschwirrend wie Fliegen, nahmen Richtung an, Zehntausende Gehirne formierten sich, Zehntausende Gedanken schwenkten ein und vereinigten sich zu einem Riesenzug, der mit den Fahnen der Hoffnung und Fahnen der Erwartung auf das Ende zumarschierte, das mit erschreckender Plötzlichkeit durch die zerrissene Wolkenwand brach!
In allen Blocks gab es nur ein Gespräch: die Evakuierung! – So mancher, dem die Jahre der Haft die Sicht in die Zukunft genommen hatten, sah jetzt das Ende der Zeit – seiner Zeit. Was aber würde kommen? Der Tod oder die Freiheit? – Es gab keine klare Sicht. Die Ereignisse liefen nicht gleichmäßig ab, sie schlingerten, verwirrten und verfitzten sich. Tod oder Leben? Wer wusste es?
In allen Blocks diskutierten sie darüber. Das Lager konnte in letzter, in allerletzter Minute noch zusammengeschossen werden. Sie hatten ja alles! Bomben, Giftgas, Flugzeuge! Ein Telefongespräch des Kommandanten mit dem nahe gelegenen Flugplatz … und in einer halben Stunde gab es kein Lager Buchenwald mehr, gab es nur noch eine rauchschwelende Öde. Aus der Traum dann, Kumpel! Und dabei hattest du zehn Jahre lang auf etwas ganz anderes gewartet! Keiner mochte sterben kurz vor dem Ende! – Verflucht! Vor welchem Ende? Wüsste man es nur! Auf einmal entdeckte so mancher, dass die Hornhaut, mit der sich die Brust in all den Jahren gepanzert hatte, dem, was da drinnen pochte, nicht mehr genug Widerstand entgegenzusetzen vermochte, und mancher entdeckte, dass er sich die Gewöhnung an den Tod, der all die Jahre hinter ihm gestanden hatte, wie ein Posten mit dem Gewehr, dass er sich die Gewöhnung nur eingebildet hatte, dass es ein Trugschluss gewesen war, erhaben über den Tod zu sein.
Das unheimliche Gespenst kicherte bereits schadenfroh: Wer zuletzt lacht, lacht am besten!
Was da drinnen gegen den Panzer pochte, sei nur nicht so erhaben, Kumpel … Jaja, du hast den Tod bisher mit dem Finger weggeschnippt. Vergiss nur nicht in deiner Erhabenheit, dass es ein ganz anderer Tod war, den du mit der Fingerspitze … es war dein Tod, und der gehörte ins Lager wie du selbst!
Den Tod aber, der jetzt da draußen kichert, mein Lieber, den schnippst du mir nicht mit dem Finger weg! Das ist der hinterhältigste, der verruchteste aller Tode! Das ist der Zyniker, der dir noch einen Blumenstrauß unter die Nase hält, wenn du deinen letzten Japser machst. Und was für Blumen: Häuser, Straßen, Menschen, ein Dorf, ein Stück Wald, eine Stadt, Autos, {Pferdewagen,} Radfahrer, {Ein sauberes, frisch gebügeltes Hemd, ein Glas Bier,} eine Frau, ein Bett, eine Stube mit richtigen Möbeln und Gardinen vor den Fenstern, kleine Kinder …
Eine ganze, schöne Welt hält er dir unter die Nase: Schnuppre mal … Rede nicht, Kumpel! Da will keiner gern sterben, selbst wenn er früher mit einem Schnipser gestorben wäre.
Und so ist es: Der Tod im Lager war dein Geselle. Der Tod vor dem Zaun ist dein Feind!
Mit dem Gerücht zusammen hatte er sich ins Lager eingeschlichen und hockte überall dort, wo die Menschen in den Baracken zusammensaßen. Er hockte auch unter der kleinen Versammlung in der Fundamentgrube der Revierbaracke, war mit hinuntergestiegen durch den Schlupf und über die Steinbrocken gestolpert bis nach hinten, wo die Kerze brannte, und jeder, sei es Bogorski oder Bochow, Riomand oder Pribula, Kodiczek oder van Dalen, jeder wusste, dass er als schweigender Gast zugegen war.
Bochow hatte seinen Situationsbericht gegeben. Verschleppung der zehn Mann aus der Effektenkammer, drohende Evakuierung, Vorrücken der Front auf Thüringen, Möglichkeit sich schnell entwickelnder Ereignisse. Riomand ergänzte den Bericht. Er hatte von der Besprechung beim Kommandanten erfahren, und es gab keine Zweifel darüber, um was es da oben gehen würde. Der ungestüme Pribula wollte die Evakuierung mit Gewalt verhindert wissen. Er forderte Alarmbereitschaft für die Widerstandsgruppen und die Freigabe der Waffen.
»Bist du verrückt?«, rief ihm Bogorski auf Polnisch zu.
3000 SS-Leute lagen in den Kasernen, das hatte Köhn von den Streifen des Sanitrupps, der fast täglich »draußen« war, mitgebracht. Kassel, wo die Front sich bewegte, war nah und noch viel zu weit. Jeder Tag konnte Neues bringen, jeder Tag war ein Gewinn. Weil es so war, weil Unsicherheit und Rettung wie unruhige Wellen noch schaukelten, konnte keine voreilige Entscheidung erzwungen werden. Es blieb bei der alten Taktik des Abwartens und – falls die Evakuierungen einsetzten – des Verzögerns und Hinhaltens, um an Menschen zu retten, was zu retten möglich war. Doch sie wussten, dass die große Stunde reifte und der Kreis sich schloss. Was dann zu geschehen hatte … Bochow sagte es mit tiefem Ernst: »… was dann zu geschehen hat, Genossen, das entscheidet über Leben und Tod. Und wir müssen leben! – Ich kann nicht große Worte machen, aber heute möchte ich es einmal sagen: Was an Menschen den Stacheldraht der Konzentrationslager lebend hinter sich lässt, das wird der Vortrupp einer gerechteren Welt sein! Wir wissen nicht, was kommt. Gleich, wie die Welt nach dem aussehen mag, sie wird eine gerechtere sein, oder wir müssen verzweifeln an der Vernunft der Menschheit. Wir sind kein Dünger, wir sind keine Märtyrer, wir sind keine Opfer. Wir sind die Träger der höchsten Pflicht!« Als ob er sich des Pathos schäme, verstummte er schnell und zog sich in sich selbst zurück. Bogorskis Blick war warm auf ihn gerichtet. Karg und kühl, wie es seine Art war, fuhr Bochow fort:
»Wir haben noch etwas anderes zu besprechen, Genossen. Die Sache mit dem Kind. So geht es nicht weiter! – {Ich will Höfel keinen Vorwurf machen, aber} Das Kind wächst sich allmählich zu einer Gefahr aus. Kluttig ist hinter ihm her wie der Teufel. Er will zu uns gelangen. Selbstverständlich tappt er im Dunkeln, denn wir haben mit dem Kind nichts zu tun. Wohl aber Höfel …«
Bochow blickte zu Bogorski, als erwarte er von ihm Widerspruch. Der aber schwieg. Da fuhr Bochow fort: »Bei Höfel und nur bei ihm kann die Bresche geschlagen werden. Ich weiß, Genossen, dass er tapfer durchhält, ich weiß es ganz sicher, das soll uns Ruhe geben. Aber Vertrauen ist gut, Vorsicht besser. Sie brauchen das Kind nur zu finden … wissen wir, was dann aus Höfels Kraft wird? Und nicht nur bei Höfel ist die Gefahr. Es sind bereits zu viele, die um das Kind wissen.
Das Kind muss darum von Zidkowski weg, und er darf nicht wissen, wohin es gebracht wird. Dann reißt die Kette ab. Wohin nun mit dem Kind? – Ich habe es mir überlegt. Wir bringen es hierher in die Grube.«
Der Vorschlag schien ungeheuerlich, und sie rumorten alle dagegen. Nur Bogorski schwieg. Bochow ließ sich nicht beirren.
»Ruhe, Genossen!« Mit knappen Worten setzte er auseinander, was er sich ausgedacht hatte. Dem Kind müsse in der Ecke der Grube ein weiches Nest eingerichtet werden.
Täglich einige Male müsste ein zuverlässiger Kumpel zu dem Kind gelangen – unter Anwendung aller Vorsichtsmaßregeln natürlich –, er müsste ihm Nahrung bringen. Das Kind sei es gewohnt, versteckt gehalten zu werden.
Van Dalen schüttelte skeptisch mit dem Kopf. »Du reißt die Kette nur ab, um sie an anderer Stelle neu zu knüpfen.« Bochow schwollen die Adern an den Schläfen.
»Was sonst?«, brauste er auf. »Sollen wir es totschlagen? Bringe einen besseren Vorschlag, wenn du ihn weißt.« Van Dalen hob die Schultern, auch die andern wussten keinen Rat. {Bogorski lächelte vor sich hin, er schien sich Bochows Gedanken zu ergeben. »Bei Zidkowski reißt die Kette? Stimmts? Na also! Zur neuen Kette führt kein Glied. Stimmts?«}
Sie schwiegen. Vielleicht war es so am besten. Auch Bochow mochte fühlen, dass der Ausweg nur ein unvollkommener war.
»Außer Pippig und Kropinski, die nicht mehr da sind, kennt Zidkowski nur noch Krämer, der um das Kind weiß. Also muss es Krämer sein, der das Kind von ihm holt.« Das aber wollte keiner zulassen. »Ausgerechnet Krämer«, protestierten sie alle.
»Ruhe, Genossen!«, fuhr Bochow unwirsch dazwischen. »Ich weiß, was ich will! Dass bei Krämer die Kette nicht geflickt werden kann, ist wohl selbstverständlich, falls … falls Zidkowski verraten sollte. – Ich glaube es nicht …«
»So ist es gut«, sagte Bogorski plötzlich, »wir werden machen weiches Bettchen für kleines Kind, und wird es bringen Krämer hierher. Charascho. Nicht viel diskutieren darüber, Genossen, wir nicht haben dazu Zeit. Wann Krämer holen das Kind?«
Mit seinem bestimmten Eintreten für Bochows Plan hatte Bogorski den allgemeinen Widerspruch abgeschnitten, und Bochow war dessen froh. Er antwortete: »Für heute ist es zu spät. Morgen bereite ich alles vor.«
Schwahl hatte Kluttig zu sich befohlen. Er befürchtete mit dem Lagerführer Zusammenstöße auf der Besprechung mit dem Stab, die unmittelbar bevorstand. Auf dem Tisch lag das Fernschreiben Himmlers, das die Räumung des Lagers anordnete.
Die Evakuierung war dem Ermessen der Lagerführung überlassen. Ein Befehl, der Panik in sich trug. Rette sich, wer kann. Schwahl hatte also freie Hand. Der Einzige, der ihn hindern konnte, so geschickt wie nur möglich zu manövrieren, war der Fanatiker Kluttig, darum musste Schwahl mit ihm ins Reine kommen.
Obwohl Schwahl mit Kluttig nicht gern allein war, hatte er sich zu dieser Unterredung entschlossen. Er vertraute auf sein diplomatisches Geschick. Kluttig betrat Schwahls Dienstzimmer in steifer Haltung.
Schwahl empfing ihn mit jovialem Vorwurf: »Aber mein Lieber, was machen Sie da hinter meinem Rücken für Geschichten?«
Kluttig horchte auf. Der Ton war ihm willkommen. Kampflustig hob er den Adamsapfel aus dem Kragen. »Für das, was ich tue, trage ich die volle Verantwortung!«
»Bahbahbah …Verantwortung! – Sie bringen mir damit im Lager nur alles durcheinander. Unruhe können wir jetzt nicht gebrauchen.« Kluttig stützte die Fäuste in die Hüften. Eine gefährliche Geste! Schwahl zog sich vorsichtshalber hinter den Schreibtisch zurück. »Warum machen Sie eines jüdischen Wechselbalges wegen so ein Getös?« In Kluttigs Augen lag Gift, und seine Backenknochen arbeiteten. Er ging einen Schritt auf den Schreibtisch zu. »Hören Sie zu, Standartenführer. – Wir sind nie Freunde gewesen und werden es zuletzt auch nicht sein. Der Klimbim hier ist bald zu Ende. Wir sind allein und ohne Zeugen, und ich rate Ihnen: Pfuschen Sie mir nicht in meinen Kram.« Schwahl verzog das Gesicht. Einen Augenblick lang war er versucht, die Herausforderung anzunehmen, doch er besann sich.
»Gut«, entgegnete er, verließ den schützenden Schreibtisch und ging referierend hin und her.
»Wir sind allein und ohne Zeugen. Sprechen wir darum offen miteinander. Sie halten mich für einen Feigling, der sich beim Amerikaner anbiedern will. Irrtum, mein Lieber. Ich bin nur kein Fanatiker wie Sie, sondern Realpolitiker … Jawohl, Realpolitiker«, fuhr er zu Kluttig herum, der widersprechen wollte.
Schwahl nahm das Fernschreiben zur Hand und demonstrierte es wie ein Referent beim Vortrag.
»Evakuierung! Befehl von Reichsführer SS! – Wollen Sie sich dem Befehl widersetzen?«, fragte er lauernd.
Die Antwort, die Kluttig darauf zu geben versucht war, wäre offene Meuterei gewesen, darum schwieg er verbissen.
Schwahl nutzte seinen Vorteil.
»Die Evakuierung wird dem Ermessen der Lagerführung überlassen. Na bitte! Die Kommandogewalt liegt in meiner Hand, oder etwa nicht? …« Auch hierzu schwieg Kluttig, und Schwahl stieß weiter vor. »Unter vier Augen, Hauptsturmführer, wer kann uns noch helfen? Der Führer? Oder Reichsführer SS?« Schwahl meckerte. »Wir sitzen in der Falle. Die Zeit für große Taten ist vorbei. – Vorbei!«, wiederholte er mit Nachdruck. »Jetzt geht es um die Krawatte.«
Kluttig wollte aufbrausen, doch Schwahl hatte schon zu sehr das Wort.
»Treten wir hier ab und lassen einen Leichenhaufen zurück, dann haben wir zwar die Ehre, treu geblieben zu sein bis zum Tode, aber – was kaufen wir uns dafür?«
»Feigling!«, zischte Kluttig.
Schwahl lächelte nachsichtig.
»Ich will mir die Krawatte locker halten. Hätten wir den Krieg gewonnen, dann würde ich im Lager schon aus reinem Vergnügen ein fröhliches Scheibenschießen veranstalten. Leider haben wir – unter vier Augen gesprochen –, leider haben wir den Krieg verloren, und das verändert die Situation.«
Kluttigs verbissene Wut brach durch: »Ich mache das nicht mit! Hören Sie, Standartenführer? Ich mache das nicht mit! Dieses erbärmliche Davonschleichen, dieses … dieses …«
Seine Stimme hatte den schneidenden Trompetenton, doch diesmal verfehlte er seine Wirkung auf Schwahl, der ruckte sich in den Schultern zurecht, schob den Bauch vor und verschränkte die Arme über der Brust.
»Aha! Sie wollen mit dem bekannten Knall die Tür hinter sich zuschlagen. Mein Lieber, das lässt sich vom Mikrophon aus mit viel Bravour verkünden. Wir sitzen hier aber nicht im Propagandaministerium, sondern auf dem Ettersberg und haben die Front vor der Nase. Wenn wir knallen, dann knallt es zurück.«
Kluttig kreischte auf: »Dann knallen wir eben!«
»Auf wen, wenn ich bitten darf? – Auf den Amerikaner? Machen Sie sich doch nicht lächerlich.«
Kluttig ging mit steifen Schritten an Schwahl vorbei und warf sich in einen der schweren Ledersessel am Konferenztisch, er bot ein Bild ratloser Wut. Schwahl betrachtete sich den Gegner.
»Was wollen Sie eigentlich?«, sagte er nach einer Weile. »Ich glaube, Sie wissen es selbst nicht. Sie wollen das Lager zusammenschießen. Dann wollen Sie die geheime Organisation der Kommunisten aufspüren, jetzt jagen Sie einem jüdischen Wechselbalg nach und sperren Leute ein. – Sie haben die Nerven verloren, das ist alles.«
Kluttig riss es hoch, er schrie Schwahl an: »Ich weiß genau, was ich will!« Mit zitternden Fingern zerrte er die Liste aus der Tasche und streckte sie Schwahl hin. »Da!«
Schwahl betrachtete sich das Blatt.
»Was ist das?« –
»Der führende Kopf der Organisation!«, antwortete Kluttig schneidend.
Schwahl hob die Augenbrauen.
»Das ist sehr interessant …« Es konnte Überraschung, aber auch Spott sein. Aufmerksam las er die Namen.
»Es sind sogar sehr viele Köpfe. – Wie haben Sie diese denn aufgefunden?«
»Auf meiner ›Jagd nach dem Wechselbalg!‹«, erwiderte Kluttig voll Zynismus. Schwahl geriet nicht aus dem Gleichgewicht.
»Und was wollen Sie mit den vielen Köpfen machen?« –
»Abschlagen, Standartenführer!«
»Soso …«, bemerkte Schwahl nur, legte die Hände auf den Rücken und ging nachdenklich hin und her. Kluttig wartete, jetzt kam die Entscheidung! – Die Pause war lang. Schwahl überlegte viel. Endlich schien er alles beisammenzuhaben. Er blieb vor Kluttig stehen. Sie sahen sich an.
»Hören Sie zu, Hauptsturmführer. Ich bin mit dem, was Sie hier unternehmen, nicht einverstanden. – Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Sie sollen mir zuhören. Es ist nun einmal geschehen, und Ihre Aktion ist viel zu massiv, als dass ich sie rückgängig machen könnte, ohne dem Lager unsere Schwäche zu zeigen …«
»Schwäche?«, begehrte Kluttig lärmend auf.
»Ja«, entgegnete Schwahl knapp und wusste im gleichen Augenblick, dass er der Klügere war. Er überließ Kluttig wieder sich selbst und machte seinen Rundgang um den Schreibtisch, den er so liebte, wenn er Wichtiges zu sagen hatte.
»Sprechen wir über etwas anderes. Der Befehl Reichsführer SS liegt vor, er wird durchgeführt. Das Lager wird evakuiert! Wir sind unter vier Augen, Kluttig, ich will ganz offen mit Ihnen sprechen. Was werden wird, wissen wir nicht. Vielleicht muss ich eines Tages dem Reichsführer SS Rechenschaft geben, darum führe ich seinen Befehl durch. Vielleicht muss ich mich eines Tages vor dem Amerikaner verantworten! {Ich! Sie! Wir alle!}«
Er blieb hinter dem Schreibtisch stehen.
»Ich fürchte mich nicht!«, schnitt Kluttig in Schwahls Rede hinein und schob das Kinn vor.
»Weiß ich«, entgegnete Schwahl, und in seinem Gesicht lag wieder der Zug, welcher offenließ, ob es Anerkennung oder Spott war. Schwahl kam hinter dem Schreibtisch vor, pflanzte sich vor Kluttig auf und stützte die Hände in die Seiten.
»Ich stehe Ihnen im Wege. Wenn es nach Ihnen ginge, dann wäre ich die längste Zeit Kommandant gewesen. Aber so einfach ist es nicht, mich …«
Er machte die Bewegung des Halsumdrehens, legte einige dramatische Schritte ein, um darauf unvermittelt zu Kluttig herumzufahren: »Es ist auch nicht so einfach, Sie …«, wieder die Geste.
Schwahl sprach mit einer Offenheit, gegen die Kluttig keine Waffen hatte.
Schwahl nutzte dies. »Darum meine ich, Klugheit und Mut sollten nicht gegeneinander, sondern miteinander … Verstehen Sie …?«
»Soll es heißen, dass Sie mir gnädig erlauben …«
Schwahl hieb jäh in die Bresche, die er sich geschlagen. Mit scharfem Schritt trat er an Kluttig heran, tippte ihm mit leichtem Finger gegen die Brust. »Mehr noch! – Ich erteile Ihnen den Befehl, die Organisation unschädlich zu machen!«
Kluttig verschlug es die Sprache. Er starrte den Kommandanten an, und aus seinen dicken Brillengläsern stach ein misstrauisches Licht. Schwahl, der es bemerkte, schien Kluttigs Gedanken zu erraten.
»Nein, nein, mein Lieber«, sagte er, »es steckt nichts dahinter. Sie dürfen sich auch nicht einbilden, dass ich vor Ihnen kapituliere. Mein Befehl entspringt nur der Einsicht in die augenblickliche Lage. Ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen und erwarte keine durch Sie. So kommt jeder zu dem Seinen. Klar?!«
Schwahl las die Liste nochmals durch. Lange und aufmerksam, schließlich fragte er: »Sind Sie fest davon überzeugt, dass Sie mit diesen hier den führenden Kopf der …«
»Ich bin fest davon überzeugt«, entgegnete Kluttig, seine eigene Unsicherheit übertönend. Schwahl trat zum Schreibtisch, ergriff den Federhalter und strich einen der aufgeführten Namen durch, reichte darauf Kluttig die Liste.
»Erschießen! Ohne Aufsehen und in aller Stille!«
Kluttig, glaubend, Schwahl habe signiert, nahm die Liste entgegen und entdeckte, dass der Kommandant Krämers Namen durchgestrichen hatte.
»Herr Standartenführer!«, fuhr er auf.
»Den brauche ich noch!«, stoppte Schwahl ab, keinen Widerspruch duldend, hob aber gleichzeitig die Schultern. »Tja, mein Lieber, so ist das nun mal. Die ganzen Jahre über haben wir es uns mit der Verwaltung des Lagers bequem gemacht und sie den Häftlingen überlassen. Nun sind wir auf sie angewiesen. Ohne einen gut eingespielten Lagerältesten kann ich die Evakuierung nicht durchführen!«
»Aber Standartenführer! Krämer ist doch der wichtigste Mann …«
Schwahl lächelte wissend: »So was wie ein General, nicht wahr? – Na bitte schön. Umso besser für uns. Wie setzt man einen General matt? Man nimmt ihm die Offiziere. Legen Sie die anderen um, und Ihr Krämer frisst mir aus der Hand. Leuchtet Ihnen das ein?« Schwahl, von seiner eigenen Klugheit geschmeichelt, klopfte Kluttig gönnerhaft auf die Schulter.
»Wenn es Ihr Vergnügen sein sollte, dann können Sie Krämer meinetwegen noch als Letztem den Genickschuss verpassen. Jetzt aber brauche ich ihn noch.«
Kluttig musste sich damit zufriedengeben.
Kluttig saß, nachdem sich der Führerstab versammelt hatte, in einer Ecke des Dienstzimmers und hatte das fatale Gefühl, von dem schlauen Schwahl übertölpelt worden zu sein, der ihm einen Brocken hingehalten, nach dem er geschnappt hatte. Argwöhnisch beobachtete Kluttig den Kommandanten. Wie eitel sich der feiste Kerl spreizte. Schwahl ging referierend hin und her, Himmlers Fernschreiben in der Hand. »Der Befehl ist klar und wird selbstverständlich durchgeführt!« Mit stechenden Blicken beobachtete Kluttig die Wirkung von Schwahls Worten auf den Gesichtern der anderen. Neben Schwahls Schreibtisch saß der versoffene Weisangk, trüb vor sich hin stierend. Offensichtlich fehlte ihm der Schnaps, mit dem der Kommandant geizte, wenn der Stab versammelt war.
Sturmbannführer Kamloth, der Befehlshaber der SS-Truppe, stand in der Mitte des Zimmers, ein Bein vorgestreckt und die Hände vorn verschränkt. Am Konferenztisch saßen der Arbeitsdienstführer, der Verwaltungsführer und der Ordonnanzoffizier des Kommandanten. Die vielen Blockführer standen entsprechend ihrer niedrigen Charge hinter den Offizieren.
Auch Reineboth hatte es für richtig befunden, gemäß seinem geringeren Dienstgrad in diesem Kreis zu stehen.
Kluttigs Blick ging von einem zum andern. Auf allen Gesichtern lagen Ergebenheit und Einverständnis mit dem Kommandanten.
{In Kluttig knurrte Hundewut.} Was waren sie alle für feige Gesellen! Sie schienen Himmlers Befehl als willkommene Gelegenheit zu betrachten, sich gefahrlos davonzuschleichen, alle zusammen! Selbst Reineboth schien lammfromm zu sein.
Keiner beachtete Kluttig, {als hätten sie sich gegen ihn abgesprochen, und} sie hörten andächtig dem Kommandanten zu.
»Der Zeitpunkt der Evakuierung liegt bei uns, wir müssen uns nach der Frontlage richten.« Schwahl trat, ganz Feldherr, an die Karte und strich mit breiter Hand über Süddeutschland hinweg. »Nur nach hier werden wir uns noch durchschlagen können.«
Weisangk grunzte. Theatralisch breitete Schwahl die Arme aus. »Ein anderer Weg bleibt uns nicht mehr offen …«
In Kluttig zerrte es. Er war versucht, aufzuspringen und loszutrompeten, aber die Gemeinsamkeit des Einverständnisses aller hielt ihn nieder. Schwahl stellte sich in der Mitte des Zimmers auf, und als wollte er Kluttig verhöhnen, sagte er: »Selbstverständlich besteht im Lager eine geheime Organisation. Wir sind nicht so dumm, diesen Umstand zu übersehen. Aber es ist eben nur ein Umstand.« Er wandte sich Kamloth zu: »Glauben Sie, Herr Sturmbannführer, dass Ihre Truppe von dieser Organisation ernstlich bedroht werden könnte?« Der Sturmbannführer beantwortete die Frage mit einem geringschätzigen Lachen, und Schwahl beeilte sich zu sekundieren: »Ganz Ihrer Meinung. Mit ein paar Salven ins Lager hinein wird jeder Widerstand augenblicklich gebrochen, und ich würde nicht zögern, von dieser Maßnahme Gebrauch zu machen, wenn sie sich als notwendig erweisen müsste.« Er schaltete eine imposante Pause ein, legte die Hände auf den Rücken und schwenkte wieder um den Schreibtisch herum, den Kopf erhoben. Dann fuhr er fort: »Aber darauf kommt es jetzt nicht an. Meine Herren, ich bin für Ihrer aller Sicherheit verantwortlich. Nicht nur für jetzt, sondern auch für die Zukunft.« Er sagte es mit besonderer Betonung, der Zustimmung aller sicher, denn er kannte seine Leute.
»Ja, auch für die Zukunft«, wiederholte er. »Sie verstehen mich.« Keiner bemühte sich, alle versteckten sich voreinander mit ihrem Schweigen. Jetzt war es für Schwahl so weit. Mit offenem Triumph sagte er: »Der Tatkraft von Hauptsturmführer Kluttig verdanken wir, dass es ihm – ich möchte sagen – in letzter Minute gelungen ist, die Rädelsführer der geheimen Organisation im Lager aufzuspüren. Damit hat er uns einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Ich habe ihm Befehl erteilt, das Konsortium der Verschwörer erschießen zu lassen, und bin überzeugt, dass er meinen Befehl mit aller Klugheit und Umsicht ausführen wird.«
»Und was kommt hinterher?«, fragte der bis jetzt schweigsame Kamloth. Höchst verwundert zog Schwahl die Augenbrauen hoch. »Durchführung des Befehls von Reichsführer SS«, entgegnete er. Kamloth bewegte sich träg. »Himmler? Quatsch! Der sitzt weit vom Schuss und hat gut befehlen. Ich aber soll mich mit der Bagage herumplagen? Den Haufen zusammenknallen bis aufs letzte Arschloch. Das ist meine Parole.«
Schwahl fuhr unruhig herum. »Und die Amerikaner?«
Kamloth schob gelangweilt die Hände in die Hosentaschen.
»Reden Sie nicht so ’nen Stuss, Schwahl, ehe der rankommt, habe ich hier Kleinholz gemacht und bin längst über alle Berge.« Er lachte roh. Schwahl lief weiß an, seine schwammigen Backen zitterten.
Plötzlich schrie er hysterisch: »Im Namen Reichsführer SS, Sie haben mir zu gehorchen! Wer ist hier Kommandant?«
»Wer befehligt die Truppe? Sie oder ich?«, schlug Kamloth zurück.
Kluttig war aufgesprungen. Mit ein paar Sätzen stand er neben dem Sturmbannführer, bei ihm Deckung suchend. Die Erregung versagte ihm die Sprache, er sah nur wirr auf Schwahl. Auch die anderen hatten sich erhoben. Sie witterten Sensation. Doch Schwahl nahm dem gefährlichen Moment die Spitze: »Ein Komplott? Eine Verschwörung?«
Kamloth hatte nichts dergleichen im Sinn und entgegnete harmlos: »Quatschen Sie doch nicht. Verschwörung? Blödsinn! Ich habe nur keine Lust, mich mit dem Gesindel abzuschleppen. Bei mir knallt’s.« Er setzte sich in einen der Ledersessel am Konferenztisch und zündete sich eine Zigarette an. Im Schutz dieses mächtigen Bundesgenossen fühlte sich Kluttig plötzlich stark.
»Schießen! Das ist auch meine Parole«, trompetete er und stellte sich herausfordernd neben Kamloth auf.
Der Zwischenfall scheuchte alle aus ihrem Schweigen heraus und brachte sie durcheinander. Wild und wirr redeten und gestikulierten sie aufeinander los. Ohne Rücksicht auf Schwahl, ihren obersten Befehlshaber, nahmen die rüdesten unter den Blockführern für Kamloth Partei.
Wittig, der Ordonnanzoffizier des Kommandanten, brüllte sie an, sie brüllten zurück. Mützen wurden ins Genick geschoben, Arme fuchtelten. Jeder Rangunterschied, sonst peinlich beachtet, verschwand. Wittig stellte sich schützend vor Schwahl und schrie in den Aufruhr hinein:
»Herr Kommandant, befehlen Sie augenblicklich Schweigen!«
Sofort riss der Lärm ab.
Einige Blockführer, vor dem Kommandanten stehend, nahmen, über sich selbst erschrocken, sogar Haltung an. Der Einzige, der sich nicht beteiligt hatte, war Reineboth. Obwohl der sprunghafte Wechsel der Situation ihn sehr erregt hatte, weil er spürte, dass eine Entscheidung zwischen zwei gegensätzlichen Kräften bevorstand, war es ihm großartig gelungen, sich zu beherrschen. Jetzt schien der Kommandant wieder die Oberhand zu gewinnen.
Weisangk, die eingetretene Stille benutzend, schlug mit der Faust auf den Schreibtisch und grölte erbost: »Verdammte Zucht, umanand! Was der Schwahl sagt, dös wird gemacht! Dös is unser Kommandant und koa andrer nich!« Keiner achtete auf ihn. Reineboth kniff die Augen zusammen, was würde nun geschehen? Kamloth drückte den Zigarettenrest aus und stand auf. Der Ausbruch, den er verursacht hatte, war ihm keineswegs recht. Er untergrub die Autorität des hierarchischen Kreises, dem er als hoher Offizier angehörte. Seine Meinungsverschiedenheit entsprang auch nicht politischen Erwägungen, sondern dem Bestreben, seine Haut in Sicherheit zu bringen. Hierbei war ihm die Häftlingsmasse im Wege. Was kümmerte ihn der Amerikaner? Schließlich war man sich selbst der Nächste. Er begriff den Kommandanten nicht. Es lag ihm gar nichts daran, dessen Kommandogewalt zu untergraben. Aber warum sollte man sich auf der Flucht noch mit diesem Lagerpack belasten, wenn man es viel einfacher haben konnte? Was lag näher, als alles, was sich hinter dem Stacheldraht befand, zusammenzuschießen, sich ins Auto zu setzen und …
»Sie haben nun gesehen, wie die Leute denken«, sagte er zu Schwahl, »warum sträuben Sie sich zu schießen?«
Schwahl, in die Enge getrieben, zog sich hinter den Schreibtisch zurück.
»Wer sagt, dass ich nicht schießen will? Wenn es sein muss, fliegt innerhalb einer halben Stunde das ganze Lager in die Luft!«
»Dann lassen Sie es doch in die Luft fliegen!«, schrie Kluttig. »Nach uns die Sintflut! Wenn wir gehen, soll auch kein bolschewistischer Schweinehund am Leben bleiben!«
Die Blockführer begannen aufs Neue zu randalieren.
»Abknallen das Gesindel!«, riefen sie. Das auflebende Gewirr der Meinungen drohte Schwahls wohldurchdachte Konzeption erneut durcheinanderzubringen.
Mit harten Schritten trat er unter die Streitenden.
»Ich gebiete augenblicklich Schweigen!« Die Schärfe des Befehls verfehlte ihre Wirkung nicht. Mit Genugtuung stellte Schwahl fest, dass sie ihm noch gehorchten. Die sofort eingetretene Stille gab ihm die Sicherheit zurück, und blitzartig erkannte er, dass es galt, durch unerschrockenes Auftreten die wankende Autorität zu festigen. Angriffsmutig stemmte er die Fäuste in die Hüften und sah grimmig reihum. Wunderbar war es, in diese Erstarrung hineinzusprechen. Schwahl wiederholte, was er eben gesagt hatte. »Wer sagt, dass ich nicht schießen will?« Es war wie ein Schuss auf den Spiegel der Zielscheibe. Doch ins Schwarze schien Schwahl trotzdem nicht getroffen zu haben.
Sofort nämlich reagierte Kamloth.
»Standartenführer!« In seinem Anruf lag ein unverhältnismäßig harter Zwang. Schwahl fuhr zu dem Sturmbannführer herum, für einen kurzen Moment prüften sie sich mit Blicken.
»Geben Sie mir Ihr Offizierswort darauf?«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!«, antwortete Schwahl, ebenso peitschend, wie Kamloth gefragt hatte. Es war wirklich wie ein Schusswechsel zwischen den beiden, und an dem Verhalten aller erkannte Schwahl, dass er das Schwarze getroffen hatte.
Achtung, aufpassen, dachte Reineboth, der Diplomat ist in der Klemme, aber für jetzt hat er gesiegt.
»Bitte, nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein.«
Schwahl wartete, bis die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt war.
Selbst Kamloth hatte sich hingesetzt.
Schwahl genoss die erwartungsvolle Stille. Die Krise war überwunden. Jetzt war er wieder ganz Rang und Kommandant, er stand neben Weisangk. Der hatte sich im Stuhl zurückgelehnt und die Arme breit ausgelegt und setzte seinen Stolz darein, für seinen Standartenführer ein grimmiges Gesicht zu machen.
Schwahl trat hinter den Schreibtisch.
»Ich gebe Ihnen das Fernschreiben Reichsführer SS bekannt.«
Er las vor: »In Anbetracht der Bedrohung Thüringens durch 3. Amerikanische Armee General Patton befehle ich: Mir unterstelltes Konzentrationslager Buchenwald ist zu evakuieren. Zeitpunkt und Durchführung der Aktion im Ermessen der Lagerführung. Alleinige Kommandogewalt Lagerkommandant. Treue dem Führer. Heil Hitler. Reichsführer SS Himmler.«
Schweigen.
Wie großartig sich das gelesen hatte. Schwahl schob das Kinn aus dem Kragen, hatte den Eindruck, als hätte er mit der Stimme Himmlers gesprochen. Kamloth sah auf seine wippende Schuhspitze. Weisangk hatte die Fäuste auf die Schenkel gestemmt und sich vorgebeugt. Er blinzelte mit vertränten Hundeaugen. So also. Na, dös wäre gelacht. – Die Wirkung auf seine Zuhörer war unverkennbar, und Schwahl nützte sie aus.
»Das Lager geht in Etappen. Täglich 15 000 Mann. Zuerst die Juden. Richtung Hof, Nürnberg, München, Sturmbannführer Kamloth teilt die Begleitmannschaften ein!«
»Und was macht meine SS, wenn sie mit dem Gesindel in München angekommen ist?«, fragte Kamloth. Schwahl lächelte im Mundwinkel. »Wie viel von dem Gesindel in München ankommt, ist Ihre Sache, Sturmbannführer. Meine Sache ist, keine Toten im Lager zurückzulassen.«
»Aha, ich verstehe«, höhnte Kamloth. »Sie wollen vor dem Amerikaner den loyalen Mann spielen und überlassen den Abwasch mir.«
»Sie verstehen mich eben nicht, Sturmbannführer«, belehrte Schwahl. »Was von den Häftlingen bis München stirbt, liegt außerhalb Ihrer Verantwortlichkeit. Von mir aus erhalten Sie jedenfalls keinen Befehl, Häftlinge zu töten, wobei der Fangschuss wohlgemerkt keine Tötung ist, sondern als humane Behandlung anzusehen ist.«
Kamloth kreuzte die Arme vor der Brust: »Schlau, sehr schlau.«
Schwahl entgegnete liebenswürdig: »Sie schießen ja gern, Sturmbannführer …«
»Worauf Sie sich verlassen können«, spottete Kamloth.
Mit diesem Rededuell hatten sie sich genügend verständigt.
»Über den Beginn der Aktion behalte ich mir noch weitere Befehle vor. Von heute an haben sich Kommandantur und Truppe stündlich einsatzbereit zu halten. Ausgangs- und Urlaubssperre ab sofort!« Schwahl stemmte die Arme in die Hüften, ruckte sich in den Schultern und schob den Bauch vor. In privatem Ton wandte er sich an die Versammelten: »Meine Herren, ich empfehle Ihnen, Ihre persönlichen Angelegenheiten zu ordnen und sich und Ihre Angehörigen abmarschbereit zu halten.«
Der Schließer hatte Rose einen Strohsack und eine Decke für die Nacht gebracht. Auf der einzigen Pritsche in der Zelle lag Pippig, dessen Zustand sich von Stunde zu Stunde verschlimmerte. Solange Rose mit dem Gequälten noch hatte sprechen können, war Halt und Hoffnung in ihm. Jetzt antwortete Pippig nicht mehr, sein Körper war fieberheiß, und Rose kauerte, erbärmlich anzusehen, auf dem Strohsack in der Ecke. Er bangte der nächtlichen Vernehmung entgegen. Die Angst hockte daneben wie sein zweites, verknülltes Ich.
Es hatte sich auf dem Kommando nicht ganz verheimlichen lassen, dass das Kind nach dem Block 61 gebracht worden war. Durch die Gespräche unter den Häftlingen war Rose zum Mitwisser geworden. Das widerwärtige Wissen quälte ihn so stark, dass er sich am liebsten noch nachträglich die Ohren zugestopft hätte. Aber nun war es zu spät, und er saß hier, mit einer Sache belastet, die ihn besser nichts anging.
Die Nacht war klar. An der kalkigen Zellendecke spreizten sich die Schatten der Gitterstäbe des Fensters wie Finger einer geöffneten Hand. {Wie spät konnte es sein?} Rose mochte sich nicht hinlegen, um zu schlafen. Jeden Augenblick konnte er geholt werden.
Rose lauschte. Draußen war es totenstill, und grabeskalt war es in der dunklen Zelle.
»Rudi …«
Von gegenüber kam keine Antwort.
»Rudi …« Rose lauschte seinem eigenen Ruf nach. Plötzlich stand er auf und schlich auf Zehenspitzen zu Pippig. Der lag mit angekrümmten Beinen. Sein Kopf war über das Keilkissen gekippt.
Wenn der nun stirbt? – Rose schluckte.
»Rudi …«
Rose hielt es nicht mehr aus. Er wollte schreien, dazu war er zu furchtsam. Er wollte mit den Fäusten gegen die Tür trommeln, dazu war er zu feig. Er verschloss sich nur mit den geballten Händen den Mund und krümmte sich ganz zusammen.
Im Augenblick, als er sich umwandte, um auf seinen Strohsack zu kriechen, erstarrte er. Rücksichtslos gegen die Stille knallte ein Schlüssel ins Schloss, die Zellentür wurde geöffnet, der harte Strahl einer Stablampe schrie in die Zelle und traf Rose unbarmherzig ins Gesicht. Ein junger SA-Mann vom Nachtdienst trat herein.
»Raus hier!« Mit herrischer Faust stieß er den verkrümmten Rose aus der Zelle.
Um die gleiche Stunde hockte eine dunkle Gestalt an einer Bretterbude des Schweinegeheges der SS, das sich am Nordhang des Lagers befand. Hier war noch freies Gelände mit geringem Baumbestand des einstigen Bergwaldes. Vor dem Schweinegehege lagen die Gebäude des Häftlingsreviers, ihnen gegenüber, vom sogenannten Revierweg getrennt, das Kleine Lager.
Die Gestalt im Schutz der Bretterbude verhielt sich reglos, lange Zeit. Sie schien zu lauschen. Nicht weit vom Schweinegehege entfernt zog sich der elektrisch geladene Stacheldrahtzaun ums Lager. An den nach oben eingebogenen Betonsäulen des Zaunes brannten die roten Birnen. Auf den Türmen standen die Posten. Offenbar galt ihnen die Aufmerksamkeit der reglosen Gestalt, die die Türme unausgesetzt beobachtete. Sie schien Augen eines Nachtvogels zu haben. Schwarz ragten die Maschinengewehre über die Brüstung der Türme. Die Gestalt rührte sich nicht. Auch die Posten standen still in ihre Mäntel gehüllt und ließen die Blicke über das Lager streifen. Manchmal knarrten die Dielen unter ihren Stiefeln, wenn sie sich die Füße vertraten. – Plötzlich duckte sich die Gestalt und huschte schattenhaft schnell und lautlos zu einem Baumstumpf. Hier verhielt sie kauernd, schaute sich nach allen Seiten um und berechnete den nächsten Husch zu einem Baum in der Nähe. Als der Augenblick günstig erschien, genügten ein paar Sprünge, um dorthin zu gelangen, ohne Geräusch. Die Gestalt trug keine Schuhe, sondern nur Strümpfe an den Füßen. Ein Häftling war es. Er bewegte sich mit der Gewandtheit eines Artisten. Jetzt drückte er sich eng an den Baum und wartete erneut seine Zeit ab. Das Gefährlichste, die Überquerung des breiten Revierwegs, stand ihm bevor. Lange zögernd beobachtete er die Türme und die Umgebung.
Dann duckte er sich, und wieselflink lief er über den Weg, warf sich drüben in dem freien Gelände zwischen Bäumen und Stümpfen auf die Erde. Abwartend, regungslos, mit dem Boden verschmelzend, lag er eine Weile, dann robbte er von Baum zu Baum an das Kleine Lager heran. Vorsichtig hob er die unterste Zeile des Stacheldrahts hoch und kroch durch den Zaun. Jetzt war er genügend weit von den Türmen entfernt, um sich mit größerer Sicherheit zwischen den Latrinen hinter den Baracken, zwischen Gerümpel und Abfalltonnen, die überall umherstanden, an Block 61 heranzupirschen. Eng an die Wand der Baracke gepresst, drückte er Millimeter um Millimeter die Türklinke nieder. Nur so weit, um eben noch hindurchschlüpfen zu können, öffnete er die Tür.
Draußen war es windstill, er ersparte es sich, die Tür zu schließen, stand eine Weile, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann orientierte er sich. Dort war der Verschlag. Zu ihm schlich sich der Häftling. Die Tür war nur angelehnt. Behend schlüpfte er hinein. Auf der Bettstatt schlief Zidkowski. Seine drei Helfer lagen auf Strohsäcken zu ebener Erde. Zidkowski schnarchte, an seinen Rücken geschmiegt schlief das Kind. Vorsichtig stieg der Häftling an den schlafenden Pflegern vorbei, jeden Schritt abtastend, bis zu Zidkowski. Behutsam schob er die Hände unter das Kind und nahm es auf. So vorsichtig tat er dies, dass das Kind nicht erwachte. Katzenleis verließ er mit seiner Beute den Verschlag und die Baracke. Die Tür ließ er angelehnt.
Draußen verweilte er überlegend. Er musste das Kind wecken, damit es nicht erschrecken und gar schreien würde. Zart rüttelte er das Schlafende. Das Kind erwachte mit einem Schrecklaut. Der Häftling drückte ihm rasch die Hand vor den Mund und sprach beruhigende polnische Worte, wiegte und drückte das Kleine zärtlich an sich. Aus der ungewöhnlichen Situation heraus, in der es sich befand, spürte das Kind gelehrig die Gefahr und verhielt sich still. Die polnischen, stark russisch gefärbten Laute wirkten beruhigend. Es legte, wie es der Häftling ihm zeigte, die Ärmchen um dessen Hals und hielt sich fest. Der Häftling drückte das Kind an sich, duckte sich zusammen und huschte davon. –
Noch verkrümmter, als er gegangen war, kehrte Rose nach einer knappen Stunde in die Zelle zurück. Der SA-Mann lächelte spöttisch über die armselige Figur.
Ohne sich um Pippig zu kümmern, schlich sich Rose auf den Strohsack und verkroch sich unter der Decke, ein erbärmliches Minderwertigkeitsgefühl im Leibe. –
Kluttig schreckte aus dem Schlaf, als das Telefon neben seinem Bett schrillte. Gay war am Apparat. Noch verschlafen, hörte Kluttig dessen knarrende Stimme: »Hallo, ihr Heinis da oben. Holt euch euer Judenbalg aus Block 61 im Kleinen Lager.«
»Mensch, Gay, wie hast du das rausgekriegt?« –
»Mit ein bisschen Intelligenz«, knarrte es am anderen Ende. Es knackte im Apparat, Gay hatte aufgelegt.
Kluttig saß auf dem Bettrand, starrte vor sich hin, fuhr sich mit der Hand unter die Jacke des Schlafanzugs und kratzte sich nervös unter der Achsel. Sofort musste gehandelt werden. In aller Eile zerrte sich Kluttig die Uniform über und jagte zum Lager. Durch die Torwache ließ er die Posten auf den Türmen davon verständigen, dass er das Lager betreten würde, nahm sich einen Blockführer mit, den er eiligst instruierte, und stürzte nach Block 61. Er stürmte in den Verschlag, ließ die Stablampe aufgrellen und kreischte: »Aufstehen!«
Verstört fuhren die Polen aus dem Schlaf und sprangen vom Lager hoch. Instinktiv warf Zidkowski die Decke über die Bettstatt, neben die er sich hinstellte.
Kluttig hatte die Bewegung blitzschnell gewahrt und riss mit der Stablampe die Decke herunter. In kaltem Schreck starrten Zidkowski und seine Helfer auf das leere Bett. Kluttig ahnte nichts von den Reaktionen, die in den Polen vor sich gingen. In getriebener Hast suchte er den Raum ab, schleuderte mit wütenden Stiefeltritten die Strohsäcke der Pfleger beiseite. Aus Furcht vor Ansteckung wagte er nichts mit den Händen zu berühren, stöberte deshalb mit Füßen und Augen überall umher, fand nichts, trieb die Polen vor sich her in den Krankenraum, ließ den Strahl der Lampe hin und her gleiten, kreischte: »Alles aufstehen!«
In den Obsthürden rumorten aufgescheucht die »Leichteren«, und auf den Strohsäcken lagen teilnahmslos die »Schweren«.
Kluttig stieß Zidkowski den Strahl der Lampe ins Gesicht.
»Verstehst du Deutsch, du Hund?«
Zidkowski nickte: »Ich ein wenig.«
»Alles soll aufstehen! Los, los, sag’s!«, fuchtelte Kluttig mit den Armen. Zidkowski gab den Befehl in Polnisch weiter. Aus den Obsthürden quollen die Kranken heraus und stellten sich auf. Angehörige anderer Nationalitäten begriffen die Anweisung und krochen aus den Verschlägen. Kluttig leuchtete in die Fächer hinein.
»Was ist mit denen da?«, schnauzte der Blockführer barsch und wies auf die Strohsäcke.
Zidkowski hob die Arme. »Sind sterben oder schon tot …«
Kluttig{, der in seiner Hast nicht wusste, wo er zuerst suchen sollte,} schrie Zidkowski an: »Scheiße! Runter mit dem Gelumpe!« Er trat mit dem Stiefel einen der Zunächstliegenden vorn Strohsack. Die Polen machten sich daran, die Schwerkranken von den Säcken zu heben, sie mussten {sie übereinanderstapeln, weil kein Platz vorhanden war. Die Kranken, aus ihrer Lethargie gerissen, stöhnten und wimmerten}. Kluttig trampelte sinnlos auf den Strohsäcken herum und stieß mit dem Stiefel darunter. {Er kapitulierte aber vor der Unmöglichkeit, Hunderte von Strohsäcken zu untersuchen.}
Kreischend trieb er Zidkowski und die Pfleger wieder in den Verschlag zurück und schrie sie an: »Wo habt ihr das Kind? Raus mit ihm, ihr Sauhunde!« Vor seinen wütenden Tritten flüchteten die Pfleger in die Ecken. Zidkowski, noch voll des Staunens über das unerklärliche Verschwinden des Kindes, stammelte: »Kein Kind. Wo ist Kind?« Ohne Furcht vor Kluttig und dem Blockführer riss er Decke und Strohsack von seiner Bettstatt. »Wo ist Kind?«, rief er und sah sich verzweifelt im Raume um.
Kluttig gab es auf. In höchster Wut kreischend, versetzte er Zidkowski einen Tritt und verließ, vom Blockführer gefolgt, in überstürzter Hast die Seuchenbaracke.
Soweit sie sich im Dunkeln zurechtfinden und erkennen konnten, verständigten sich die vier Polen untereinander. Hastig stellten sie im Krankensaal die Ordnung her, schickten die verstörten »Leichteren« wieder in ihre Verschläge und legten die Schwerkranken auf die Strohsäcke zurück. In ihrem Raum aber standen sie dann fassungslos. Wo war das Kind? Welch ein Wunder hatte sich ereignet! Noch am Abend hatte Zidkowski das Kleine zu sich genommen, und jetzt war es verschwunden!
Unmöglich, dass es die Baracke verlassen hatte. Hier war ein Gotteswunder geschehen. Ratlos standen sich die vier Menschen gegenüber und hatten keine Erklärung. Zidkowski ließ sich langsam auf die Knie, faltete die Hände, neigte den Kopf und schloss die Augen.
»Heilige Jungfrau Maria …«
Die drei Pfleger folgten seinem Beispiel.
So überhastet, wie Kluttig ins Lager gestürzt, eilte er in seine Wohnung zurück und stellte sofort eine telefonische Verbindung mit Gay her. Doch der befand sich schon in seiner Privatwohnung, die im Gebäude des Marstalls lag. Er hatte sich noch nicht zu Bett gelegt, denn auch er traf bereits Vorbereitungen zur Flucht. In seinem Arbeitszimmer sortierte er Papiere, verbrannte Stöße von Akten und Unterlagen. Da erreichte ihn der Anruf von Kluttig, der sich mit der Privatwohnung hatte verbinden lassen. »Was sagst du?«, schrie Gay in den Hörer, »nicht zu finden?« In Gay schoss helle Wut hoch.
»Verdammtes Gesindel!« Er knallte den Hörer auf. –
Pippig bewegte sich. Er streckte die gekrümmten Beine aus. Der kurze Augenblick des Erwachens war wohltuend, doch nur so lange, als sich das wiederkehrende Bewusstsein orientierte und Pippig erkannte, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war. Zugleich auch kamen die Schmerzen wieder, die wie Feuer überall im Körper brannten. Sie drohten das Wachsein erneut im Delirium zu ertränken, und Pippig raffte im stillen Kampf dagegen seine ganze Kraft zusammen, um sich die Klarheit des Verstandes zu erhalten, denn er wusste, dass es mit ihm zu Ende ging.
Pippig kontrollierte die Denkfunktion. Er hatte noch Gedanken, ganz deutlich erkannte er sie. Doch sie waren ohne Zusammenhang untereinander. Der Gaumen war ihm trocken und wie mit Papier ausgeklebt. Doch das gehörte jetzt mit zu seinem Zustand, und Pippig verspürte nicht das Bedürfnis nach einer Erfrischung. Lange lag er reglos und lauschte mit Neugier in seine Schmerzen hinein. Der Bulle hatte ihn, als er am Boden lag, mit der Stiefelspitze in Hüften und Kreuz getreten. Mit den Nieren musste etwas nicht stimmen. Hier schien der Brandherd des Feuers zu sitzen. Kann man an kaputten Nieren sterben? Darüber wunderte sich Pippig. Doch der Gedanke schwamm fort, und neue tauchten auf. Wie gut, dass ich die Pistolen … noch rechtzeitig … einen Tag später, und …
Pippig stöhnte. Plötzlich fiel ihm Rose ein. War er nicht zur Vernehmung geholt worden? Ein Lichtstrahl hatte in der Zelle herumgegeistert, das wusste Pippig noch. Eine Stimme hatte er gehört. Dann war Stille gewesen, eine große Stille. Pippig erschrak. Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? – Das Dunkel in der Zelle stand reglos und starr um ihn wie etwas Abgestorbenes. Wo war Rose? Was war inzwischen geschehen? Pippig fühlte, wie sein Bewusstsein sich wieder trübte, als sähe er durch eine regennasse Scheibe, die ihn nichts mehr erkennen ließ. {Angst, heiß und drängend.}
»August!« Der Ruf war ein entsetzlicher Schrei, aber nur in Pippigs Innerem, wie in einem Gewölbe. Tatsächlich kam er nur noch als gequälter Hauch aus trockenem Mund.
Rose, im schwebenden Zustand zwischen Wachen und Schlaf, schreckte auf, saß mit einem Ruck steif auf dem Strohsack und lauschte angststarr, nicht wissend, ob er den Ruf gehört oder geträumt hatte. Da vernahm er wieder seinen Namen, so schwach und vertrocknet, als wäre er in die einzelnen Buchstaben zerbröckelt. Mit einem Satz war Rose neben Pippig. Der fühlte Lebendiges und bemühte sich, durch das Verschwimmende vor seinen Augen zu dringen. Es gelang ihm nicht. {In dem hohlen Gewölbe war alles voller Widerhall, und die Worte, die er sprechen wollte, taumelten schreiend von einem Echo zum anderen.} Pippig brachte keinen Laut mehr aus sich heraus. War es das Blut, das in ihm raste, oder das Wildpochende in der Brust? Sein Atem flackerte.
Auf einmal war draußen im Gang ein hastiges Laufen zu hören, es kam schnell heran. Der Schlüssel krachte ins Schloss, die trübe Lampe an der Decke flackerte auf, und an dem SA-Mann vorbei, der die Tür aufgestoßen hatte, stürzte Gay in die Zelle, mit beiden Fäusten auf Rose losboxend, dass dieser rückwärtstaumelnd den Halt verlor.
»Du Schweinehund, du verfluchter! Angeschwindelt hast du mich!« Gay schüttelte Rose wie einen Ast. Hinter den Zellentüren war aufgescheuchtes Wachsein. Die übrigen acht Häftlinge der Effektenkammer, durch den Lärm jäh aus dem Schlaf gerüttelt, standen angstgepresst an den Türen.
Gays Wut ging rasend mit ihm durch. Er riss und beutelte Rose hin und her, schrie, schlug, trat. Rose fuchtelte wie unter einer herabstürzenden Lawine mit den Armen über dem eingezogenen Kopf, erbärmlich jammernd:
»Ich habe Ihnen alles gesagt, Herr Kommissar. Bitte, bitte! Mehr weiß ich nicht!«
»Wer weiß es?«, schrie Gay und trommelte Rose in eine Ecke hinein.
»Nicht schlagen, Herr Kommissar! Pippig weiß es, der weiß alles. Ich habe damit nichts zu tun.«
Blindwütig riss Gay Pippig von der Pritsche herunter, der Körper blieb reglos liegen. In feiger Angst schrie Rose kreischend um Hilfe.
Der SA-Mann, den Gummiknüppel in der Faust, sprang Rose prügelnd an: »Willst du die Schnauze halten!«
Brüllend trat Gay auf den Reglosen ein. Wahllos, wohin der Stiefel traf.
»Rede, Mensch, ich zertrample dich!« Wie ein Irrsinniger bearbeitete er den Körper mit den Stiefeln.
Doch der Tod war wohltätig. Längst schon hatte er die schützende Hand auf das einst so fröhliche Herz gelegt …
Die Häftlinge in den verschiedenen Zellen klebten an den Türen. Sie hörten, wie jene Zelle verschlossen wurde, und sprangen zurück, als heftige Schritte vorbeikamen. Dann standen sie schweratmend, suchten sich im Dunkeln mit den Blicken, als sich der entsetzliche Riss der Nachtstille geschlossen hatte, und sprachen kein Wort miteinander. Aber ihre Gedanken rumorten. –
Schon am frühen Morgen gluckten die Blockältesten bei Krämer herum, dem sie ihre Bestandsmeldung für den Appell brachten.
»Was war heute Nacht im Kleinen Lager los?«
»Kluttig soll auf Block 61 …«
»Stimmt’s, dass er nach dem Kind gesucht hat?«
Bochow, der, um mit Krämer sprechen zu können, für Runki die Bestandsmeldung gebracht hatte, beteiligte sich an der allseitigen Neugier und benutzte sie, um durch Krämer Informationen einholen zu lassen.
»Geh mal ins Kleine Lager und erkundige dich, was dort los gewesen ist.«
Krämer hörte den versteckten Auftrag heraus, knurrte, um ihn zu überdecken, und tat, als sei er desinteressiert. Doch bohrten Unruhe und Ungewissheit in ihm ebenso wie in Bochow, denn an dem Netz, das sich über Höfel-Kropinski, über Pippig und die anderen Verhafteten, über die vier armen Polen im Block 61 und nicht zuletzt über das ILK und den gesamten Apparat spannte, war in dieser Nacht wieder einmal gezerrt worden, und sie alle, die unter dem schützenden Geflecht verborgen waren, mussten Gewissheit erlangen, ob es etwa einen Riss erhalten hatte.
Wie immer vollzog sich auch an diesem Morgen der Aufmarsch zum Appell. Wie immer stand das Riesenquadrat exakt auf Vordermann und Seitenrichtung ausgerichtet, und wie immer zerfiel es nach Reineboths Befehl: »Arbeitskommandos antreten!«, wimmelnd und wirrend in die vielen großen und kleinen Gruppen der Kommandos, die dann mit »Mützen ab« durchs Tor marschierten, von karabinerbewaffneten Posten begleitet, oder sich den Appellplatz hinunter in die Lagerwerkstätten und Verwaltungsstellen verteilten.
Doch seit gestern ging es wie ein neuer Luftstrom über den Gipfel des Berges hinweg, und er wurde von tausend und abertausend Lungen eingesogen. Irgendwo in der Ferne geschah etwas. Von irgendwo rumpelten Panzer heran und erschütterten den Boden, dessen Vibrieren die Tausende auf dem Berggipfel zu spüren vermeinten wie die Ausläufer eines Erdbebens. Was sie bisher nur von den zerkratzten Landkarten abgelesen, als Frontberichte aus den Blocklautsprechern abgehört hatten {wie eine fern liegende Wirklichkeit, von der sie ausgeschlossen waren}, verwandelte sich mit einem Schlage, seit {gestern nämlich, da} das Gerücht von der Evakuierung ins Lager gesprungen war, in eine Wirklichkeit, an der sie unmittelbar beteiligt waren.
Kluttig und Reineboth, der Arbeitsdienstführer und ein Rudel der Blockführer standen außerhalb des schmiedeeisernen Lagertores und ließen stumm, die Beine gegrätscht, die Fäuste in die Hüften gestemmt oder auf den Rücken gelegt, den Strom der ausrückenden Arbeitskommandos an sich vorbeidefilieren. In ihren prüfenden Blicken, die über die kahlen Köpfe hinwegstrichen, glommen verborgene Gedanken. –
Kommando um Kommando zog vorbei, die Mütze in der Hand, die Arme straff am Körper, den Blick geradeaus in Marschrichtung.
Im Schutz der Masse und ihrer gestreiften Anonymität marschierten viele Angehörige der geheimen Widerstandsgruppen. Ihre Finger, die den Spatenstiel fassten, hatten an so manchem heimlichen Abend in der Fundamentgrube den Kolben eines Karabiners umspannt, wie es sie ihr Ausbilder gelehrt hatte, an dessen Bunkerzelle sie jetzt vorbeimarschierten, und sie trugen ihre strenge Stirn wie Schilde vor sich her, hinter denen sich ihre Gedanken verbargen. In tiefster Heimlichkeit noch und doch waren sie schon Tat einer Zukunft, die so nah war, dass man mit ausgestrecktem Arm in sie hätte hinübergreifen können. – Aber noch lagen die Arme straff am Körper. Die Männer kannten die Gedanken hinter jenen Augen, von denen sie im Vorbeimarsch gemustert wurden. – Dieses Denken und das ihre waren getrennt wie Körper im Weltenraum, doch wenn sie aufeinanderstoßen würden …
»O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unsre Zukunft sei,
wir wollen trotzdem Ja zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei …«
Wie immer, so auch heute schwang das Lied des Lagers über den kahlen Köpfen und wurde wie eine heimliche Fahne vorangetragen, wenn die Kommandos zur Arbeit ausrückten. –
Noch ehe das letzte Arbeitskommando vorbeimarschiert war, zog sich Kluttig mit Reineboth in dessen Rapportführerstube zurück. Sie ließen niemanden herein. Kluttig fiel ächzend auf einen Stuhl nieder und brütete über seinen nächtlichen Misserfolg.
»Das Gesindel muss es spitzgekriegt haben, als ich ins Lager ging«, sagte er mürrisch. »Kann ich mich unsichtbar machen?« Reineboth legte das Rapportbuch auf den Tisch.
»Vielleicht haben sie auch deinen Gay angeschissen, und mit Block 61 stimmt es gar nicht.«
Kluttig riss den Oberkörper nach vorn und keifte: »Wer hat mich denn auf die Gestapo gehetzt?«
Reineboth verteidigte sich: »Habe ich dir nicht auch gesagt, dass sie sich den Wechselbalg wie einen Ball zuwerfen und du rennst im Kreise herum wie ein blinder Schäferhund?«
Er zündete sich eine Zigarette an.
»Leg die Kerls auf der Liste um, wie es dir Schwahl befohlen hat, dann hast du wenigstens etwas Greifbares.«
»Damit hat der Lahmarsch mich eingewickelt«, knurrte Kluttig böse. »Ich helfe ihm noch dabei, den Schrott ohne Aufsehen fortzuschaffen.«
»Was gar nicht so dumm von ihm ist«, meinte Reineboth und trat zur Landkarte. Er betrachtete sie sich angelegentlich, zog eine der buntköpfigen Nadeln heraus, die auf dem Ort Treysa steckte, und drückte sie in den Punkt der Karte, der als Hersfeld bezeichnet war. Seiner Gewohnheit folgend, schob er den Daumen hinter die Knopfleiste und trommelte nachdenklich mit den Fingern.
Daraufhin drehte er sich zu Kluttig um und sah ihn an. Der hatte das Umstecken der Nadel beobachtet. Reineboth setzte sich lässig hinter den Tisch, grätschte die Beine und stemmte die Arme gegen die Tischplatte.
»Im Übrigen bin ich der Meinung, dass unser Diplomat nicht so unrecht hat …«
Kluttig ruckte mit dem Kopf so heftig hoch, dass es ihn im Genick schmerzte. Er erhob sich und ging auf Reineboth zu, baute sich vor dem Tisch auf.
»Willst du damit sagen …«
»Aha«, höhnte Kluttig, »Diplomat Nummer zwei …«
Reineboth lächelte mokant. Kluttig kläffte ihn an: »Und wer hat sich vor kurzem noch an die Jacke geklopft: Solange ich diese Uniform trage …«
Reineboth entgegnete: »Tja, wie lange noch …«
Kluttig schob giftig das Kinn vor, die Reflexe auf seinen dicken Brillengläsern wurden spitz. »Also, der mutige Kämpfer lässt mich nun auch im Stich …«
Er schlug mit der Faust auf die Tischplatte. »Ich bleibe, wer ich bin, solange ich lebe!«
Reineboth zerdrückte die Zigarette im Ascher und erhob sich, elegant und geschmeidig.
»Ich auch, Herr Hauptsturmführer, nur …«, er schob schlau die Augenbrauen hoch, »nur – unter veränderten Bedingungen.«
Dabei tippte er auf die Landkarte. »Hersfeld – Erfurt – Weimar …« Er lächelte Kluttig zynisch an. »Heute haben wir den 2. April. Wie viel Tage werden uns noch bleiben? So viel?«
Vor Kluttigs Augen spreizte er wie ein Taschenspieler die zehn Finger aus.
»Oder so viel?« Er drückte die rechte Hand zu.
»Oder so viel?«, und knickte Finger um Finger der linken Hand um. »Englisch lernen und auf dem Kien sein«, sagte er, wie schon einmal.
»Du aalglatter Hund«, zischte Kluttig.
Reineboth lachte, er fühlte sich nicht beleidigt. Sich alleingelassen wähnend, fauchte Kluttig: »Dann bleiben nur noch Kamloth und ich.«
»Kamloth?«, Reineboth legte skeptisch den Kopf schief, »verlass dich nicht auf den. Der will so bequem wie möglich abhauen.«
Kluttig kreischte seine Ohnmacht aus sich heraus. »Dann bleibe ich!«
»Wieso«, fragte Reineboth, Kluttig absichtlich falsch verstehend, »willst du hierbleiben?«
Kluttig knirschte: »Seit Wochen spüre ich der Bande nach, und jetzt, wo ich eine Spur habe, soll ich mich feige davonmachen?« Er riss die Liste aus der Tasche und ging zum Lautsprecheraggregat.
Reineboth stutzte. »Was willst du?«
Kluttig fuchtelte mit der Liste. »Die hole ich mir jetzt ran, schaffe sie nach dem Steinbruch und lasse sie abknallen!«
»Vor allen Leuten? Im Steinbruch arbeiten 300 Häftlinge, Mensch!«
»Das ist mir egal!«, schrie Kluttig.
Reineboth nahm Kluttig die Liste weg. »Befehl mit aller Vorsicht und Klugheit durchführen, Herr Lagerführer.«
{»Ach was«, belferte Kluttig.} »Soll ich sie etwa heimlich, still und leise …«
»Durchaus nicht«, erwiderte Reineboth mit überlegener Klugheit, »Sache geht ganz offiziell. Die Liste wandert nach der Schreibstube, ganz offiziell, verstanden, Herr Lagerführer? Alle genannten Häftlinge haben morgen früh am Schild 2 anzutreten.«
Reineboth kniff ein Auge zu. »Entlassung, you understand, Mister? Parole Heimat! Auto, Eskorte, Wald, Salve – aus.«
Reineboth legte die Liste in das Rapportbuch.
»Mit aller Vorsicht und Klugheit, so hat es unser Diplomat gemeint.«
Wie so oft musste sich Kluttig der größeren Schlauheit des Jünglings unterlegen bekennen, er tat es mit einer giftigen Bemerkung: »Du hast dich dem Diplomaten gut angepasst.«
»Im Gegenteil«, widersprach Reineboth mit der ihm eigenen Glätte, »ich bin nur um einiges klüger geworden, seit gestern Abend.«
Das Telefon läutete.
Kluttig wurde verlangt. Reineboth übergab ihm den Hörer.
Gay war am Apparat. Reineboth stand neben Kluttig und konnte hören, was gesprochen wurde, da die Stimme durchdrang.
Gay wollte mit der Kindergeschichte nichts mehr zu tun haben. Einer von dem Gesindel sei ihm in der Nacht unter den Händen gestorben. Den übrigen Schrott wolle er nicht mehr bei sich sehen.
Kluttig stotterte.
Reineboth nahm ihm den Hörer weg, meldete sich.
»Selbstverständlich, Kamerad Gay, wir holen das Gelumpe wieder ab, ich schicke Transportwagen. Gewiss, den sanft Entschlafenen nehmen wir auch mit, der wird bei uns geräuchert.« Er legte auf.
»Nun haben wir alle wieder beisammen. Bleiben noch Höfel und der Dingsda. Oder hast du die zwei vergessen?«
»Was nützen sie uns noch?«, knurrte Kluttig. Reineboth öffnete die Tür und rief in den Korridor hinaus:
»Hauptscharführer Mandrak zum Rapportführer!« Sein Befehl wurde durch die Torwache weitergegeben.
Reineboth hielt dem Mandrill die Zigarettenschachtel hin, als dieser eingetreten war.
»Glauben Sie, dass Sie aus Höfel und dem Polen noch was rausquetschen können?«
Der Mandrill nahm eine Zigarette und schob sie sich hinters Ohr, in seinem Gesicht lag keine Anteilnahme an der Frage.
Er antwortete gelangweilt: »Ich kann sie nur noch kaltmachen.«
»Einverstanden, wir brauchen sie nicht mehr. Machen Sie damit, was Sie wollen. Viel Vergnügen dabei.«
Um den blutleeren Mund des Mandrill flackerte es höhnisch.
Zidkowski war noch immer verstört. Er schwor Krämer, der zu ihm gekommen war, dass das Kind neben ihm gelegen habe, ganz deutlich habe er es an seinem Rücken gefühlt. Um Krämer das Wunder zu demonstrieren, schlug er die Decke auf seiner Lagerstatt zurück. »Hat Kluttig die Decke weggezogen, und auf einmal war das Kind fort.« Die Erregung machte ihm die Lippen zittern, seine Augen flehten: »Wohin ist Kind?«
Krämer stieß einen kurzen Laut der Verlegenheit aus. »Ha, wenn ich es wüsste … Vielleicht hat es sich irgendwohin verkrochen? Habt ihr überall nachgesehen?«
»Überall.«
Nachdenklich schob Krämer die Unterlippe vor.
»Ist jemand bei euch gewesen? Oder hat sich einer vor eurem Block herumgetrieben, der hier nichts zu suchen hat?«
Zidkowski verneinte.
Krämer wusste nichts mehr zu fragen. Er hatte selbst keine Erklärung für das seltsame Verschwinden des Kindes. Dunkel ahnte er, dass hier das ILK … Aber diese Vermutung fasste nicht Fuß, dann würde Bochow davon gewusst haben und hätte ihn nicht so dringlich aufgefordert, nach dem Verbleib des Kindes zu forschen.
Bochow war nicht minder ratlos, als ihn Krämer im Block aufsuchte und von seinen ergebnislosen Nachforschungen berichtete. Das Kind war verschwunden, mit dieser Tatsache galt es sich abzufinden. Wer aber hatte hier seine Hand im Spiel?
Weniger das rätselhafte Verschwinden des Kindes, sondern mehr die Tatsache, dass es ohne Wissen des ILK geschehen war, beunruhigte Bochow. Es konnte nur ein Genosse aus diesem Kreis gewesen sein. Wer aber? Etwa der ewig unruhige Pribula? Oder der behäbige van Dalen? Oder der verstandesklare Bogorski? {Es widerstrebte seiner Korrektheit, dass irgendeiner der Genossen auf eigene Faust sich ein Husarenstück geleistet und es sträflich unterlassen hatte, das ILK zu verständigen. Das widersprach aller Gepflogenheit und konnte nicht geduldet werden.} Mochte einer der Genossen ein besseres Versteck als die Fundamentgrube ausfindig gemacht haben, so wäre es trotzdem seine Pflicht gewesen, dem ILK davon Mitteilung zu machen. Die eigenmächtige Handlung war Disziplinlosigkeit, und Bochow konnte Krämers Genugtuung über Kluttigs Reinfall nicht teilen.
»Woher weiß er, dass das Kind auf Block 61 ist?«, fragte Bochow herrisch.
»Dort war es mal«, antwortete Krämer, und seine Augen lächelten aus den Fältchenkronen heraus. »Knurrst du über Disziplinbruch? – Sei lieber darüber froh, dass euer unbekannter Mann das Gras hat wachsen hören. Was wäre geworden, wenn Kluttig das Wurm erwischt hätte …? {Es hat keinen Zweck, darüber zu grübeln. Da glaube ich eher an das Wunder Zidkowskis und freue mich über die – Disziplinlosigkeit in eurer Leitung.«
In} freundlicher Schadenfreude zog er die Schultern hoch. »Nun weiß keiner mehr, wohin das Wurm geraten ist. Ist das gut?«, fragte er den finster schweigenden Bochow und nickte die Antwort dazu: »Es ist gut so.«
Bochow sah Krämer nach, dem die Freude über Kluttigs Reinfall im Gesicht geschrieben stand.
Aber es ging doch nicht nur um das Kind. Verdammt! Es ging um das Zerreißen der Kette! Bochow presste die Lippen zusammen. Wer, wenn nicht Bogorski, hatte sie zerrissen? Immer wieder hakte sich dieser Verdacht fest, für den Bochow keinerlei Beweise hatte. Ebenso gut hätte es ein anderer tun können. – Und wenn er es nun selbst getan hätte? – Den Gedanken festhaltend, betrachtete er sich wie in einem Spiegel. Wem durfte er davon sagen? Niemandem! Nur in seiner eigenen Brust konnte dann die Kette versenkt werden und ihr Anker Halt finden auf dem tiefen Grund der Schweigsamkeit.
Disziplinbruch?
Ja, es war und blieb einer!
Doch der Ärger darüber verwandelte sich jetzt in Bochow, und er sah, dass die Tat jenes schweigenden Unbekannten gut war und tief menschlich, und er sah, dass der schweigende Unbekannte schützend die Hand vorgehalten hatte vor sie alle. Sah, dass jener die Disziplin hatte durchbrechen müssen. Weil in der Wahl zwischen zwei Pflichten stets die höhere und dringendere entschied.
Bochow atmete tief auf. Er schob die Hände in die Taschen und stand noch lange sinnend vor der Tür. Dann ging er langsam in den Block zurück.
Mit Besorgnis hatte Förste den Mandrill zu Reineboth gehen sehen. Ging es um etwas, das seine beiden Schützlinge betraf? Er schlich sich zu deren Zelle und lugte durch den Spion.
Höfel und Kropinski standen unbeweglich in der Zelle mit dem Gesicht zur Tür. Wenn sich Höfel auch so weit erholt hatte, dass er wieder stehen konnte, so war es ihm anzusehen, wie er unter dieser Tortur litt. In jeder Minute schien er Unmengen von körperlichen und seelischen Energien zu verbrauchen, um sich aufrecht zu halten. Förste sah es an dem leisen Schwanken des Körpers. Der Mandrill hatte die Tortur noch dadurch verschärft, dass er um die Füße der beiden Farbpulver gestreut hatte. Wehe, wenn auf ihm zu sehen war, dass sich die Füße bewegt hatten! Dann prügelte er die beiden erbarmungslos zusammen und – was noch schrecklicher war – entzog ihnen für Tage die Nahrung.
Förste schloss den Spion wieder, wissend, dass sich die beiden, wenn sie sicher waren, nicht beobachtet zu werden, vorsichtig aneinanderlehnen würden, um sich zu stützen. Er konnte ihnen nicht einmal eine Ermunterung zurufen, denn gegenüber im Gang lagen einige SS-Leute von der Truppe in den Zellen, die ihre Arreststrafe verbüßten. Vor denen musste sich Förste in Acht nehmen.
Was war in Reineboths Zimmer besprochen worden?
Misstrauisch verfolgte Förste das Tun des Mandrill, nachdem dieser zurückgekommen war. Der ging in seine Stube und blieb dort eine ganze Weile. Mit Bedacht hatte sich Förste das Ausfegen des Bunkerganges bis zur Rückkehr des Mandrill aufgehoben, um ihn besser beobachten zu können. Jetzt fegte der Kalfaktor in der Nähe von Höfels Zelle. Der Mandrill kam heraus, in seiner Hand baumelten zwei Schlingen aus starkem Seil. –
Förste blieb das Herz stehen. Mit äußerem Gleichmut, aber voll innerer Aufmerksamkeit verrichtete er seinen Dienst.
Der Mandrill hatte die Zelle betreten. Förste fegte und lauschte. Der Mandrill umging die beiden Arrestanten und kontrollierte das Farbpulver nach Spuren. Er konnte nichts entdecken.
Mit den Hanfstricken gegen die Stiefel schlagend, umwanderte er die beiden und blieb schließlich vor ihnen stehen. In Kropinskis Zügen zeichnete sich das Entsetzen ab, seine Augen waren geweitet, und er schluckte die Erregung immer wieder hinunter. Der Mandrill studierte das Gesicht des Polen mit dem kalten Interesse eines Unbeteiligten. Höfel war erbleicht. Die Adern an den Schläfen pulsten heiß und stechend, dort, wo die Zwinge gesessen hatte. Die Knie drohten ihm zu knicken, auch er hatte die Schlingen gesehen.
Grausam – und wie mit kalter Schrift geschrieben – stand hinter seiner Stirn der Gedanke: Jetzt sterbe ich! Und Höfel erschauerte in der frostigen Kälte, die mit dem unheimlichen Menschen in die Zelle gekommen war. Der Mandrill betrachtete sich Höfel – wortlos – eine geraume Weile. Ob der sich wohl wehrt, wenn ich ihm die Schlinge um den Hals lege?, dachte der Mandrill. Unvermittelt begann er zu sprechen. Was er sagte, war mehr als seltsam.
»Hitler«, sagte er, »ist ein Arschloch. Er hat uns den Krieg vermasselt. In ein paar Tagen sind die Amerikaner hier.« Dabei lachte er tonlos in sich hinein, ohne eine Spur des Lachens auf dem Gesicht.
»Was ihr euch mit dem Amerikaner denkt – ist nicht. Ich lege noch alles um hier im Bunker. – Ihr zwei kommt zuletzt dran.« Es schien ihm schon zu viel, was er gesagt hatte. Wortlos legte er den beiden die Schlinge über den Kopf und zog sie fest, wie man eine Krawatte bindet.
»Die behaltet ihr um, bis zuletzt. Fünf Minuten vorher, ehe ich abhaue, komme ich und – kcks …«, quetschte er mit einer bezeichnenden Handbewegung durch die Zähne. Er schwieg wieder und begutachtete die mit dem Strick Dekorierten, hatte aber das Bedürfnis, noch etwas zu sagen.
»Wenn ihr euch vorher aufhängt, dann trete ich euch noch in den Arsch, weil ihr mich um mein letztes Vergnügen gebracht habt.« Mehr brachte er nicht aus sich heraus.
So unheimlich langsam, wie er die Zelle betreten hatte, verließ er sie wieder. Draußen nahm er die Zigarette vom Ohr und zündete sie an. Gedankenlos sah er dem Kalfaktor zu und zog sich schließlich in seine Stube zurück.
Förste fegte den zusammengekehrten Schmutz auf die Kehrichtschaufel und warf ihn in die Kiste, die in der Ecke des Ganges stand.
Das in seinem schweigenden Ablauf so grauenvolle Erleben hielt die Sinne der beiden noch im Bann, nachdem sie bereits geraume Zeit allein mit sich waren. Langsam nur schien in Höfel das Blut wieder zu kreisen, und es war wohltuend, zu fühlen, wie der furchtbare Gedanke, der alle Lebensfunktionen gehemmt hatte, sich auflöste und verschwand. Jetzt wurde es Höfel auch wieder bewusst, dass er atmete, und er zog befreit den Zellengestank ein wie frische Luft.
»Bruder …«, flüsterte Kropinski, der hinter Höfel stand.
Das schlichte Wort fand den Weg zu Höfels Herzen, er konnte nicht antworten, aber dankbar streckte er die Hand nach hinten aus, still umschloss sie der Pole. Das warme Lebensgefühl strömte über von einem zum andern, und ihr Schweigen war größer als alle Worte.
Bereits um die Mittagszeit befahl Reineboth durch den Lagerlautsprecher den Kapo der Häftlingsschreibstube zu sich. Er übergab ihm die Liste.
»Die Vögel treten morgen früh am Schild 2 an. Mit sauber gescheuerten Füßen, verstanden? Man soll uns nicht nachreden, dass wir die Leute dreckig nach Hause schicken.«
Entlassungen? –
Seit Jahr und Tag war kein Politischer entlassen worden. In die Schreibstube zurückgekehrt, studierte der Kapo die Liste. Sie enthielt 46 Namen von Blockältesten, Kapos und anderen Lagerfunktionären, die alle langjährige, zuverlässige und im Lager bekannte Häftlinge waren. Auch seinen eigenen Namen und den des zweiten Lagerältesten Pröll fand der Kapo vor.
Hier stimmte etwas nicht.
Der Kapo ging zu Krämer hinüber, Pröll war mit anwesend. Krämer lachte grimmig auf, nachdem er die Liste gelesen hatte.
»Entlassungen? Gleich ein ganzes Rudel und das kurz vor der Evakuierung? – Ein Banditenstreich ist das!«, polterte er. »Eine gottverfluchte Zinkerei!«
»Ich muss die Bestellscheine für Schild 2 ausschreiben, was soll ich machen?«, fragte der Kapo. In Pröll stieg eine Ahnung auf. »Ob die uns umlegen wollen?«
Er sah Krämer bedeutungsvoll an. Der wollte es nicht bestätigen, obwohl er den gleichen Gedanken hatte.
»Abwarten«, sagte er neutral, »du unternimmst nichts, bevor du von mir Anweisung bekommst«, wandte er sich an den Kapo. »Lies mir die Namen vor, ich schreibe sie mir auf.«
Seine Hand zitterte trotz unerhörter Erregung nicht, als er schrieb. Er wusste es plötzlich ganz klar, und es bedurfte keines Beweises, dass diese 46 erschossen werden sollten. Warum aber stand er nicht mit auf der Liste, obwohl er bei jenen da oben als der führende Kopf galt? Gehörten die 46 dem ILK an? Bochow musste es wissen, mit ihm hatte er jetzt zu sprechen. Er ging zu ihm auf den Block.
Es fügte sich günstig, dass die Stubendienste mit den leeren Essenkübeln zur Küche unterwegs waren, vor Runki brauchten sie sich nicht zu verbergen.
»Euern Bettenbau will ich mir mal ansehen«, sagte Krämer, »komm mit in den Schlafsaal, Herbert.« Ein Vorwand. Falls der Blockführer unverhofft auftauchen sollte, galt er als Stichwort für Krämers Anwesenheit. Im Schlafsaal verständigte sich Krämer mit Bochow in knappen Worten und reichte ihm die abgeschriebene Liste. Bochow las sie wortlos.
»Ist einer von euch dabei?«, fragte Krämer. Bochow schüttelte den Kopf. »Nicht einer.«
»Gut«, entgegnete Krämer beruhigt. Sie gingen langsam bis zum hinteren Ende des Schlafsaals, Krämer musterte die Betten.
»Was nun? – Die sollen umgelegt werden, das ist klar.«
Krämer strich eine Decke glatt. Bochow sog schwer den Atem ein. Nun fügte sich ein neues Glied an die Kette der Gefahren. – Wer hatte die 46 verzinkt? Aus welcher Richtung kam das? Kluttig – Reineboth – Zweiling?
Oder hatte der Zinker aus der Effektenkammer …
»Was nun, sag doch«, drängte Krämer. Sie blieben stehen.
»Ja, was nun?«, seufzte Bochow. Das Stück Papier in seiner Hand forderte Entscheidungen, wie sie vielleicht in all den Jahren seiner Haft noch nicht gefällt worden waren, und sie drängten sich auf den engen Raum weniger Stunden zusammen. Morgen früh war alles schon zu spät. Jetzt musste er mit den Genossen des ILK sprechen. Wie aber sie verständigen? In dieser Stunde noch musste das ILK zusammenkommen. Und nicht in der Fundamentgrube, die nur im Schutze der Dunkelheit betreten werden konnte.
Bochow rieb sich die Stirn, das Nachdenken quälte ihn. »Ich muss mit den Genossen sprechen, jetzt, sofort«, sagte er. »Wir müssen den Fliegeralarm ausnutzen, anders geht es nicht.«
Immer um die Mittagszeit, nicht früher, nicht später, flogen amerikanische Bomberverbände nach Thüringen, Sachsen und Brandenburg ein, seit Wochen schon. Man konnte die Uhr danach stellen, so pünktlich zogen sie über das Lager. Bei Sonnenschein blinkten die Schwärme hoch oben am Himmel, wie Vögel, nur ihr sonores Singen verkündete, wie gefährlich sie waren. Jeden Tag gab es darum Alarm. Für die Arbeitskommandos war es zur Gewohnheit geworden, sich zum schnellen Abmarsch ins Lager bereitzuhalten, noch im Jaulen der Sirene rannten sie über den Appellplatz. Bereits wenige Minuten später war das Lager wie ausgefegt. Auf den Türmen nur standen die Posten und spähten in den Himmel hinein. Oft erst nach Stunden heulte die Sirene ihre Entwarnung {und ihr nach oben schrill werdender Ton klang wie Schadenfreude. Ätsch, wieder mal gut abgegangen}.
Dann belebte sich das Lager aufs Neue.
Bochow schien mit etwas fertigwerden zu müssen. Er sah Krämer an. »Du musst mir dabei helfen. – Ich darf eigentlich keinen Namen der Genossen preisgeben, aber … was bleibt mir übrig?«
Krämer empfand, wie schwer es Bochow fiel, und sagte: »Habe keine Bange, ich merke mir die Namen nicht. Ich begreife dich, und die Genossen werden es auch verstehen. Es geht um Leben und Tod.«
Bochow nickte Krämer dankbar zu.
»Also höre. Ich gehe sofort nach dem Revier und spreche mit dem Kapo, der weiß Bescheid. Er muss uns einen Raum frei halten, in dem wir ungestört sein können, das teile ich dir dann mit, und du musst für mich … siehst du, so ist das nun … also, du musst für mich nach dem Bad gehen – ich kann mich dort nicht sehen lassen.«
»Nun sag schon, wen soll ich bestellen?«
»Bogorski.« Leise nannte Bochow den Namen. »Er soll bei Alarm nicht in seinen Block gehen, sondern nach dem Revier kommen.«
»Gut«, nickte Krämer.
»Wie verständigen wir uns, damit ich dir den Raum angeben kann?«, überlegte Bochow und meinte:
»In zehn Minuten treffen wir uns auf dem Revierweg in der Nähe meiner Blockreihe.«
Krämer war einverstanden.
Auf Riomand, der bei Alarm »draußen« blieb, musste für diese Besprechung verzichtet werden. Van Dalen war leicht zu benachrichtigen, Kodiczek und Pribula konnten unterwegs abgefangen werden.
Krämer kam Bochow schon entgegen, als dieser, vom Revier kommend, zu seinem Block zurückging. Auf einen kurzen Gruß blieben sie beieinander stehen.
»OP 2«, sagte Bochow flüchtig, Krämer nickte, und jeder ging seinen Weg. OP 2 war der zweite Operationsraum, und da er im oberen Geschoss des vor Jahren erbauten Erweiterungsbaus vom Revier lag, blieb er bei Alarm unbesucht.
Pünktlich, fast auf die Minute, heulte die Sirene. Es gab das übliche Durcheinander auf dem Appellplatz und auf den Wegen zwischen den Blocks.
Bochow stand auf seinem Posten und spähte nach Kodiczek und Pribula aus. Er erwischte sie, als sie gemeinsam ihren Blocks zustrebten.
»Mitkommen«, raunte Bochow ihnen zu.
»Was ist?«
»Mitkommen«, suggerierte Bochow und rannte los.
Die beiden hatten gestutzt, eilten aber dann Bochow nach, der im Gewimmel der Häftlinge den Revierweg hinunterlief.
Noch niemals hatten die Genossen des ILK so unter dem Druck einer Spannung gestanden wie heute.
Glogau war gefallen! Beiderseits Tecklenburg im Teutoburger Wald tobten heftige Kämpfe. Auf Herford zu war den Alliierten ein tiefer Einbruch gelungen. Im Raum von Warburg und an der Werra sollten sie schon bis nördlich von Eisenach vorgedrungen sein … Wenn sich diese Meldungen, die Kodiczek und Pribula mitgebracht hatten, bestätigten, dann gab es keinen Zweifel mehr, dass die Erschießung der 46 die Vorbereitung zur Evakuierung war. Jede Stunde konnte sie einsetzen!
Plötzlich jaulte die Sirene und gab nochmals Alarm. Die Genossen, in einer Ecke des Operationsraumes zusammengedrängt, horchten nach außen. Der sonore Gesang der Motoren zog über das schweigende Lager hinweg. Es musste diesmal ein mächtiger Angriff auf das Land sein. Keiner der Männer sprach.
Bogorski musterte ihre verschlossenen und unbewegten Gesichter. Bochow hatte den Kopf in die Fäuste gestützt und sah vor sich hin. Van Dalen lehnte mit dem Kopf gegen die Wand, auf seinem breiten Gesicht spielten die Gedanken wie Lichtkringel.
Pribulas Augen waren hart und starr, sein Mund verbissen. Kodiczek fing Bogorskis wandernden Blick auf und schlug die Augen nieder. Was verbarg sich hinter dem gemeinsamen Schweigen? Bogorski blickte zu Bochow, auch er schwieg.
Das Gedröhn der Bomberverbände war in der Ferne verschwunden. Irgendwo zwischen den Häusern der Städte rasselte und knatterte jetzt die von den herabsausenden Bomben zerrissene Luft, quoll die braungelbe Lohe der Einschläge träg zum Himmel, Zerrissenes und Geborstenes mit einem Hagel von Steinen auf die Erde zurückschüttend.
Irgendwo tobte und raste jetzt die Furie unter schreienden und irrenden Menschen, irgendwo, fern vom Lager.
Aber hier, über den sich duckenden Baracken, hier, in der Ecke eines Operationsraumes, hockte eine kleine Gruppe von Männern, und zwischen sie und die 50 000 des Lagers hatte das Schicksal eine Handvoll Menschen geschoben, 46 an der Zahl, um die fünf, die hier in der Ecke hockten, zu versuchen wie weiland der Teufel jenen Christus auf dem Berg. Denn wenn morgen früh die 46 starben, dann …
Bogorski wartete nicht, dass einer redete, er zog die Decke des Schweigens weg und sprach aus, was sie alle dachten: Wenn morgen früh die 46 erschossen werden, so sagte er, dann wird das vermeintliche ILK erschossen!
Dann, fuhr er fort, glauben die Faschisten, den führenden Kopf zertreten und für ihre Evakuierung freie Hand zu haben. Wir aber, Genossen, sind noch da, und der Apparat ist nicht führerlos geworden. Wir können Menschen retten, viele Menschen, weil 46 für uns gestorben sind, für uns und 50 000!
Ist das nicht gut so? –
Van Dalen schob die Augenbrauen hoch. Kodiczek senkte wieder den Blick, Pribula fluchte, es litt ihn nicht, still zu hocken. Da er nicht aufspringen durfte, um am Fenster nicht gesehen zu werden, rutschte er unruhig hin und her.
»Nein«, sagte Bochow unvermittelt und blickte Bogorski starr ins Gesicht. Das »Nein« war wie ein Schlüssel in die Herzen aller gefahren. Pribula musste so vieles sagen, aber er vermochte nur, das deutsche »Nein« auf Polnisch zu wiederholen: »Nje! Nje, nje!«, zischte er heiß. Jetzt lehnte sich auch Bogorski gegen die Wand und schloss die Augen, erschöpft und erlöst. –
Bochow begann von etwas anderem zu sprechen.
»Mit dem Kind, Genossen«, sagte er, »ist das Unheil zwischen uns gefahren. Jetzt ist das Kind spurlos verschwunden. Wer hat es weggebracht? Einer von uns nur kann es gewesen sein. Es ist ein polnisches Kind. Warst du es, Josef?«, fragte er Pribula. Der junge Pole warf entsetzt die Arme hoch. »Ich? – Ich fragen selber, wo ist das Kind?«
»Warst du es, Leonid?«
Bogorski öffnete die Augen und antwortete mit überzeugendem Ton: »Ich haben das Kind nicht fortgeschafft.«
Auch van Dalen und Kodiczek versicherten von sich das Gleiche. Aus jedem Mund sprach die Wahrheit, Bochow hatte dafür ein feines Ohr. Es blieb somit der Verdacht an dem abwesenden Riomand hängen. Alle, selbst Bochow, waren aber der Meinung, dass es der Franzose nicht gewesen sein konnte. Bochow hob resigniert die Hände. »Nun gut, vielleicht hat es Krämer beiseitegeschafft. Mag das Kind stecken, wo es will, mag es einer getan haben, wer es auch sei, es ist fort, verschwunden, aus. – Ich muss euch etwas sagen.« Bochow legte die Hände an die Brust. »In mir ist vieles anders geworden. Mein Herz, Genossen …« Er überwand sich zu einem Geständnis.
»Als ich hier eingeliefert wurde, da habe ich mein Herz mit den Effekten auf der Kammer abgegeben, ein unnütz und gefährliches Ding schien es mir, das ich hier nicht gebrauchen konnte. Das Herz macht nur schwach und weich, glaubte ich, und ich wollte es Höfel nie verzeihen, dass er …« Bochow hielt inne und dachte nach. »Ich bin der Vertreter der deutschen Kameraden im ILK, ich bin außerdem der militärisch Verantwortliche der internationalen Widerstandsgruppen. Ihr habt mich mit dieser Funktion ausgezeichnet. Ich bin ein guter Genosse, nicht wahr? Ich bin ein schlechter Genosse!«
Abwehrend hob er die Hände gegen die anderen, die sein Bekenntnis nicht annehmen wollten.
»Das habe ich euch zu sagen, ihr müsst es wissen! Wissen müßt ihr, dass ich hochmütig war. Eingebildet auf die Überlegenheit meines Verstandes. Dünkel war es und Härte, seelenlose Härte! Seit das Kind im Lager ist und immer mehr Menschen ihr Herz wie einen Wall schützend um das kleine Leben gelegt haben … Höfel, Kropinski, Walter Krämer, Pippig und seine Kameraden, die polnischen Pfleger auf 61, ihr selbst, jener Unbekannte … seit dies alles durch sie geschieht, Genossen, und kein Kluttig oder Reineboth es vermögen, den Wall zu durchbrechen, weiß ich, dass ich ein schlechter Genosse bin, weiß ich, wie groß wir sind in unserer Erniedrigung, weiß ich, dass Höfel und Kropinski stärker sind als der Tod.«
Bochows Bekenntnis war zu Ende. Alle schwiegen erschüttert – Bogorskis Kopf war auf die Brust gesunken, er saß da wie schlafend. Pribula, mit heiß aufwallendem Herzen, rutschte auf den Knien zu Bochow. Er umarmte ihn und weinte an seiner Schulter. Bochow drückte den jungen Polen an seine Brust.
Draußen war es totenstill. Der Alarm lastete auf dem Lager.
Bochow löste sich von Pribula und wurde wieder sachlich und kühl. »Wir haben eine Entscheidung zu treffen«, sagte er. »Ehe wir einen Beschluss fassen, wollen wir gründlich überlegen. – Gibt es eine Möglichkeit, die 46 Kameraden zu retten? – Nicht wahr, Leonid, so meinst du es doch auch?«
Bogorski hob wie erwachend den Kopf. »So haben ich gemeint«, antwortete er einfach. »Aber ich haben gemusst steigen tief in unser Herz hinein, wo ist gewesen zugeschüttet Mut und Menschentum. Nicht sterben sollen 46 Kameraden. Leben! Oder sterben mit uns zusammen. So ich meine.«
Van Dalen bekannte: »Auch ich habe daran gedacht, wenn sie sterben, dann …«, er beendete den Satz nicht, nickte stumm Bogorski zu und fuhr entschlossen fort: »Wir stellen die 46 Kameraden unter den Schutz des ILK! Wir verstecken sie! Im Revier können wir viele von ihnen unterbringen. Die Übrigen verbergen wir im Lager. Es gibt Schlupfwinkel genug.«
»Und dann? Was wird sein dann?«, fragte Kodiczek. Nicht aus Angst, sondern mit Besorgnis, doch Pribula verstand ihn falsch.
»Willst du sein feig?«, rief er.
Bochow legte den Arm um die Schulter des Polen.
»Junger polnischer Genosse, müssen wir feig sein, weil wir vorsichtig sind? – Ja, Genossen, die 46 stehen unter dem Schutz des ILK! Wir liefern sie nicht aus!«
»Zehn von ihnen bringe ich im Revier unter«, versprach van Dalen. »Wir geben ihnen eine Fieberspritze, und sie fallen unter den Kranken nicht auf.«
»Warum nicht alle 46 zusammen verstecken in Fundamentgrube?«, fragte Kodiczek, »dort ist Platz genug.«
»Njet«, widersprach Bogorski. Sand auf dem Haufen, so meinte er, könne man mit einem einzigen Schaufelstich aufnehmen. Man müsse hingegen den Sand breit machen, damit er verschwinde. Höchstens zwei der Todeskandidaten wolle er auf die von van Dalen vorgeschlagene Weise im Revier untergebracht wissen, die anderen müssten im Lager verteilt werden.
»Und wenn sie dennoch einen von ihnen finden?« Es war Kodiczek, der wieder fragte, sollte man ihn dann seinem Schicksal überlassen? Die Frage lag wie ein Felsblock vor ihnen.
»Wir liefern keinen aus«, sagte Bochow schlicht. »Bisher sind wir immer um die Gefahren herumgegangen. Gut war es, sehr gut. Wir haben es verstanden, uns mit Klugheit und Geschick, mit Glück und Zufall vor den Gefahren zu ducken. So war unser Weg in allen Jahren. Wir haben unser Menschsein mit der Schlauheit des Tieres geschützt und verteidigt, wir haben den Menschen oft tief in uns verbergen müssen. So war es doch, Genossen, nicht wahr? Jetzt gehen wir die letzte Strecke unseres Weges. Freiheit oder Tod! Es gibt kein Ausweichen mehr. Diesen Raum verlassen wir nicht mehr als Häftlinge! Von dieser Stunde an wollen wir Menschen sein! Nun und immerdar bis zum Ende der letzten Strecke.
Dem Häftling war es erlaubt, die Gefahr zu umgehen. Der Mensch hat nur einen Weg, und der führt geradeaus, mitten auf die Gefahr zu! Das sei unser Wille und unser Stolz. Ich weiß, was ich sage, Genossen! Finden sie auch nur einen Einzigen, dann muss er verteidigt werden, wenn es gilt, mit der Waffe! Das sei Beschluss! Dann aber beginnt der Aufstand. Freiheit oder Tod! Seit Spartakus hat die Geschichte mehr als einmal den Beweis gegeben vom Stolz und der Größe des Menschen. – Beschließen wir den Aufstand?«
Bochow streckte die Hand vor.
In tiefem Schweigen fanden sich alle Hände ineinander, fanden sich die Blicke der Männer, und auf ihren Gesichtern zuckte das erste Licht jenes Lebens, das von nun an ein anderes war.
Es wurde beschlossen, an die Führer der Widerstandsgruppen Alarmstufe 2 auszugeben{. Beschlossen}, dass in den Blocks Wachen eingerichtet werden{. Beschlossen, dass} die Waffenverstecke von den dafür vorgesehenen Angehörigen des Lagerschutzes zu besetzen seien und {beschlossen,} dass unverzüglich bis zum Abend die Verstecke für die 46 ausfindig gemacht und vorbereitet werden sollten. – Von dieser Stunde an musste der gesamte illegale Apparat auf der Lauer liegen, dem Wissen des Lagers zwar verborgen, doch in jeder Minute bereit, aufzuspringen. Es wurde aber auch der Beschluss gefasst, den Kampf nur dann aufzunehmen, wenn er dem Lager aufgezwungen werden sollte. Die Evakuierung sollte verzögert werden, um an Menschen zu retten, was möglich war.
Jeder Tag und jede Stunde konnten Gewinn bedeuten, die Front rückte immer näher.
»Ich habe euch noch einen Vorschlag zu machen«, sagte Bochow. »Zentralisieren wir unsere Anweisungen in der Person von Walter Krämer. In seiner Hand laufen alle Fäden zusammen. Es ist zu erwarten, dass die kommende Evakuierung die bisherige Ordnung des Lagers verändern, wenn nicht gar aufheben wird.
Damit kann mir, der ich als Einziger vom ILK die direkte Verbindung zu Krämer habe, mehr Bewegungsfreiheit gegeben sein.«
Seinem Vorschlag stimmten die Genossen zu.
Mit Unruhe hatte Krämer das Ende des Alarms erwartet. Erst nach zwei Stunden heulte die Sirene, und er eilte sofort den Revierweg hinunter, um Bochow zu begegnen.
»Was ist?«, fragte er, als er ihn abgefangen hatte. Sie gingen zusammen den Weg hinauf, gedämpft und unauffällig miteinander sprechend.
»Bis heute Abend müssen alle 46 verschwinden. Keiner von ihnen darf am Schild 2 antreten.«
Mit einer anderen Entscheidung hatte Krämer nicht gerechnet.
»Wohin mit ihnen?«, fragte er nur.
»Überallhin, wo es sichere Verstecke gibt«, entgegnete Bochow, »in den Kohlenkeller des Bades, in den Kartoffelkeller der Küche, in eine Kiste oder einen Bretterverschlag! Kohlen drauf, Kartoffeln drauf! Verbergen wir sie in den Fundamentgruben der Blocks. Sie müssen in die Abflusskanäle der Entwässerung kriechen. Wir müssen sie in den Pferdeställen des Kleinen Lagers untertauchen lassen und geben ihnen falsche Nummern. Sie müssen die gleichen zerlumpten Klamotten tragen wie die übrigen Insassen.«
Bochow machte eine umfassende Bewegung. »Überallhin, verstehst du? Nach dem Abendappell, wenn es finster ist, muss alles erledigt sein. Wer sich von den 46 selbst helfen kann, soll es tun.«
Krämer hatte wortlos zugehört, er schnaufte. Das war keine leichte Sache.
»Und wenn sie einen von ihnen finden?«, fragte er besorgt.
Bochow blieb stehen. »Hör zu, Walter …« Noch verhaltener sprach Bochow jetzt. Krämer nahm mit tiefem Ernst den schicksalsschweren Beschluss entgegen. Auch dieser überraschte ihn nicht, sondern bestätigte nur die Zwangsläufigkeit der Entwicklung.
Als ihm Bochow eröffnete, dass er von nun an das unmittelbare Verbindungsglied zwischen dem ILK und dem Lager sein werde, nickte er nur. Sie gingen weiter.
»Hast du das Kind beiseitegeschafft?«, fragte Bochow unvermittelt. »Sag es mir, wenn du es gewesen bist.«
Die Frage überraschte Krämer, er hatte angenommen, dass sich hinter dem Verschwinden des Kindes das ILK verbarg.
»Nein«, antwortete er darum nur und fügte hinzu: »Ich hätte vorher mit dir gesprochen, offen und ehrlich.«
Bochow musste ihm glauben.
»Wieso?«, stutzte Krämer, in dem Bochows Frage jetzt erst lebendig wurde. »Weißt du … wisst ihr wirklich nicht, wo das Kind geblieben ist?«
Bochow schüttelte den Kopf, er lächelte müde.
Am frühen Abend, eine kurze Stunde vor dem Appell, ereignete sich Unerwartetes. Die saloppe Stimme Reineboths schallte durch die Lautsprecher über das Lager: »Lagerältester herhören! Mit sämtlichen Blockältesten am Tor antreten! Im Laufschritt!« Eine Anzahl von Blockältesten war in Krämers Raum versammelt, als die Durchsage kam. Krämer hatte sich die Kumpels kommen lassen, um mit ihnen das Verbergen der Bedrohten zu besprechen. In Bochows Block waren Runki, der ebenfalls auf der Liste stand, und Bochow dabei, unter dem Pult Dielenbretter zu lösen, um einen Schlupf in die Fundamentgrube zu schaffen, in die sich Runki verstecken sollte.
Jetzt horchten sie auf, als sie Reineboths Stimme hörten. Überall horchten die Häftlinge auf, in den Blocks, in den Lagerwerkstätten …
Die Durchsage wiederholte sich.
Aus den Blocks herbeieilend, versammelten sich die Gerufenen an der Schreibstube vor Krämers Raum, von neugierigen Häftlingen, die sich um diese Zeit im Lager befanden, umringt. Was war los? Warum mussten die Blockältesten zum Tor? Evakuierung? Heute{? Jetzt? Morgen}?
Krämer kam mit den übrigen Blockältesten heraus. Sie reihten sich ein.
»Kameraden«, rief Krämer, »wie immer Ruhe, Ordnung, Disziplin, versteht ihr?«
Kluttig, am Fenster in Reineboths Zimmer stehend, sah den Trupp den Appellplatz heraufkommen.
»Affentheater«, knurrte er.
»Diplomatie, Geschick«, höhnte Reineboth den Lagerführer an.
Kluttig wandte sich schroff vom Fenster weg, mit »Schissarsch« bezeichnete er den Kommandanten, auf dessen Befehl die Blockältesten angetreten waren.
»Klugarsch«, korrigierte Reineboth und machte ein hohnvolles Gesicht.
»Ich höre mir seinen Klamauk nicht mit an«, zischte Kluttig und wollte das Zimmer verlassen.
»Er will dich auch gar nicht dabeihaben, du störst ihn nur.« Reineboth lachte hässlich auf. »Jedem das Seine. Morgen früh hast du dein Vergnügen.« Er krümmte vielsagend den Zeigefinger.
Wütend schlug Kluttig die Tür hinter sich zu.
Die Blockältesten warteten am Tor. Niemand ließ sich sehen, nicht einmal Reineboth kam. Krämer beobachtete den Weg vor dem schmiedeeisernen Tor. Er sah Kluttig mit weiten Schritten den Weg entlanggehen und hinter dem Dienstgebäude des Kommandanten verschwinden. Am Fenster lungerte der diensttuende Blockführer herum.
Ein überplantes Lastauto kam den Weg entlanggefahren und hielt am Tor. Zuerst entstiegen dem Wagen einige SS-Leute, ihnen folgten Häftlinge. Krämers Augen wurden weit. Gespannt starrten die Blockältesten durch das Tor, das waren doch …
Krämers Herz begann heftig zu schlagen. Es waren die verhafteten Häftlinge der Effektenkammer, die vom Blockführer in Empfang genommen wurden. Reineboth erschien und wollte sich der Angekommenen bemächtigen. In diesem Augenblick trat Schwahl, von Weisangk und Wittig, der Ordonnanz, begleitet, aus seinem Gebäude und ging auf das Tor zu. Reineboth hatte nicht mehr Zeit, sich um die Häftlinge zu kümmern, ließ sie an der Mauer des Tores antreten und ging dem Kommandanten entgegen.
Schwahl blieb vor den Häftlingen stehen.
»Was ist das hier?«
Reineboth meldete: »Auf Befehl Hauptsturmführer Kluttigs neun Häftlinge und ein Toter von Gestapo Weimar ins Lager zurück.«
»Ah«, machte Schwahl interessiert. Er betrachtete sich die Häftlinge, die neben sich eine Last niedergelegt hatten, in eine Decke eingehüllt.
Krämer wollte das Herz stillstehen, unter den Angekommenen hatte er Pippig nicht entdeckt … Da aber lag ein Toter …
Schwahl sprach die Häftlinge an, so deutlich, dass seine Worte auch von den Blockältesten verstanden werden konnten.
»Danken Sie Ihrem Schöpfer, dass Sie mir in die Finger gelaufen sind.« Er wandte sich Reineboth zu. »Die Leute sind ins Lager zu entlassen!« Reineboth schlug die Hacken zusammen. Der Blockführer schloss das Tor auf. An Krämer und den Blockältesten vorbei rannten die Häftlinge über den Appellplatz. An der Mauer blieb der Tote zurück.
Krämer verwirrte das Ereignis, aber schon trat der Kommandant durchs Tor, und Krämer musste seine lästige Pflicht erfüllen. »Blockälteste, stillgestanden! Mützen ab!«, kommandierte er. Schwahl winkte: »Rühren!«
Reineboth verhielt sich im Hintergrund, den Daumen hinter die Knopfleiste geschoben, und trommelte mit den Fingern. –
Schwahl ging einige Schritte hin und her, dann blieb er stehen. Er stützte die Fäuste in die Seiten, schob den Bauch vor und ruckte sich in den Schultern zurecht.
»Ich habe die Leute ins Lager entlassen. Haben Sie das gesehen?« Er blickte Krämer dabei an. »Jawohl«, antwortete dieser.
»Es wird ihnen somit nichts mehr geschehen. Ist Ihnen das klar?« Wieder musste Krämer antworten.
Schwahl postierte sich malerisch vor Weisangk und Wittig auf. »Es wird ihnen überhaupt nichts mehr geschehen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Offizier, dass das Lager nicht evakuiert wird. Ich werde bis zum Schluss bleiben. Wenn ich beim Eintreffen der Alliierten noch am Leben bin, werde ich das Lager ordnungsgemäß übergeben.« Er machte eine Pause und ließ den Blick über die Gruppe gehen.
»Haben Sie mich alle verstanden?« Das gemurmelte »Jawohl« der Blockältesten plumpste dumpf wie ein Sack zu Boden.
Schwahl ging referierend auf und ab.
»Ausländische Sender verbreiten, dass sich die Verhältnisse in Buchenwald, seit ich Kommandant bin, gebessert haben. Es gereicht mir zur Genugtuung, dass die Öffentlichkeit davon Kenntnis hat. Was die nächsten Tage bringen werden, wissen wir nicht. Sie erhalten Vollmacht, Ihren Leuten auf den Blocks mitzuteilen, was ich Ihnen gesagt habe, und im Vertrauen auf mein Ehrenwort sie zur Ruhe und Disziplin anzuhalten, was auch geschehen mag. Von Reichsführer SS habe ich Befehl, in die umliegenden Ortschaften Häftlinge als Aufräumungskommandos zu entsenden. Die Häftlinge erhalten volle Zivilverpflegung, befinden sich bei Angriffen in bombensicheren Unterständen und kehren nach Beendigung ihrer Aufgabe ins Lager zurück. Ich erwarte, dass die Häftlinge ihre Pflicht tun.« Er blieb vor der Gruppe stehen, musterte einzelne von den Blockältesten und schien damit alles gesagt zu haben. »Lagerältester, lassen Sie wegtreten!«
Kein Muskel in Krämers Gesicht verzog sich, als er sich zu der Gruppe umdrehte und Kommando gab.
»Mützen auf! Abteilung kehrt! Im Gleichschritt, marsch!«
Er ging als Letzter hinter der Gruppe. Ein Eisenring schnürte ihm die Brust ab. Oben lag Pippig …
Schwahl sah den Abziehenden nach. Im Abgehen wandte er sich an Reineboth. »Was ist Ihre Meinung?«
Reineboth salutierte. »Bewundere diplomatische Klugheit, Herr Kommandant.«
Schwahl schob das Kinn aus dem Kragen. Weisangk, dem Kommandanten folgend, stippte Reineboth im Vorbeigehen in den Bauch. »Dös is oaner, was moanst?«
Reineboth grinste. –
Höfel und Kropinski hatten deutlich hören können, was draußen gesprochen worden war. Seit Tagen ließ der Mandrill sie in der Zelle stehen. Vom frühen Morgen an. Erst nach dem Abendappell durften sie sich niederlegen. Dann krochen die beiden auf dem eiskalten Zementboden eng aneinander. Aber die Nachtkälte trieb ihnen den Schlaf aus den Körpern. Vom ewigen Hunger geschwächt, gepeinigt von den Schmerzensqualen der zerschundenen Glieder, verdämmerten sie die endlose Nacht, die um 5 Uhr morgens abriss, wenn der Mandrill die Zellen aufschloss.
Dann begann auf dem Korridor und im Waschraum des Bunkers ein wildes Inferno. Innerhalb von 3 Minuten mussten sämtliche Häftlinge des Bunkers sich entkleidet, gewaschen, wieder angekleidet, die Zellen ausgefegt und die Klosetteimer entleert haben. Wie im Veitstanz quirlten die Körper durcheinander, wie von einem satanischen Geist geritten, schossen die Arrestanten hin und her. Lautlos, schemenhaft. Nur die Schuhe klapperten. In diesem gespenstischen Gewirr der Leiber stand der Mandrill und hieb mit dem ledernen Vierkant auf die Menschen ein, die in ihre Zellen zurückschossen. Hier zogen sie sich in wildgetriebener Hast die Hemden über den Kopf, stopften sie in die Hosen hinein und fuhren in die Jacken, um Zeit zu gewinnen, die Zellen zu reinigen. Welch ein Glück für Höfel und Kropinski, dass sie von diesem Hexentanz ausgeschlossen waren. Sie durften sich nicht waschen und auch ihren Klosettkübel nicht entleeren. Dieser, ein verbeulter Marmeladeneimer, stand in der Zellenecke, und da er seit Tagen nicht geleert worden war, quoll sein Inhalt über und verpestete die Luft. Nun standen die beiden schon wieder den ganzen Tag. Zweimal bereits hatte der Mandrill sämtliche Bunkerinsassen während des Tages aus ihren Zellen getrieben, um sie auf dem Korridor bis zur Erschöpfung hüpfen und Kniebeuge machen zu lassen. Höfel und Kropinski waren viel zu sehr die Gequälten ihrer eigenen Not, um unter dem, was sich draußen abspielte, noch zu erschauern. Dumpf und stumpf nahmen sie das Rumoren auf dem Korridor wahr, die klatschenden Schläge des Mandrill und das Wimmern der Erschöpften. Ihre Sinne hatten die Grenze des Aufnehmens erreicht. Solange der Mandrill draußen tobte, konnten sie sicher sein, dass er sie durch den Spion nicht beobachtete. Darum taten sie vorsichtig ihre Schultern aneinander, um sich zu stützen. Als draußen aber Ruhe eingetreten war, mussten sie sich voneinander lösen, und nun standen sie schon lange. Stunden um Stunden. Die Kraft verzehrte sich. Der Schmerz der Erschöpfung saß ihnen wie Messer im Rücken. Immer wieder musste sich Höfel hochreißen, dennoch fiel er aufs Neue in sich zusammen.
Er wimmerte hilflos in sich hinein, hatte keine Kraft mehr, zu denken. Kropinski, der selbst die Reste seiner Energie verbrauchte, versuchte zu trösten.
»Bald wird sein Appell, und wir können schlafen. Viel schlafen und tüchtig schlafen.« Höfel nahm den Trost nicht mehr an. Er zerfiel immer mehr.
»Ich mache Schluss«, wimmerte er, »ich hänge mich auf … es hat keinen Zweck mehr …« Kropinski erschrak, er bettelte flehend: »Nicht, Bruder, nicht. Noch ein bisschen, und ist bald Appell.« Höfel stöhnte. Der Kopf sank ihm vornüber, in den Adern grimmte das ausgelaugte Blut, und der Körper schaukelte und schwankte. Auf einmal flüsterte Kropinski:
»Du hören! Draußen! Wer spricht?« Höfel, aus seinem Hindämmern erwachend, hob den Kopf, hörte Kommandos. Das war Krämers Stimme … Zum ersten Male, seit er im Bunker saß, vernahm er sie wieder. – Losgerissen von der Gemeinschaft der Freunde im Lager, alleingelassen in grausamer Hilflosigkeit, saugte Höfel den heimatlich-vertrauten Klang der Stimme in sich ein. Von jedem Wort, das Krämer draußen sprach, nahm Höfel einsamen Abschied, inbrünstig liebend.
Doch dann wurde seine Aufmerksamkeit wacher und heller. Er hörte den Kommandanten sprechen. Höfels Augen weiteten sich.
»Marian?«
»Tak?«
»Es wird nicht evakuiert. Das Lager wird übergeben …«
»Ist wahr?«
»So hör doch …!«
Höfel war voller Spannung. »Wenn das wahr ist«, flüsterte er erregt, »wenn das wahr ist …« Kropinskis Gesicht überzog sich mit einem Schein.
»Mutter Gottes«, hauchte er, und seine Worte waren wie ein dünner Faden, »wir dann – vielleicht – nicht sterben …?«
Vor der Schreibstube diskutierten die erregten Blockältesten noch lange. Der Kommandant hatte sie mit seiner seltsamen Ansprache durcheinandergebracht. Ihre Meinungen über die Echtheit seiner Versicherungen durchkreuzten sich und gerieten in Unordnung. Obwohl kaum einer von ihnen glauben mochte, was der Kommandant versprochen, klammerten sie sich dennoch – aus dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit heraus – an die vage Hoffnung, dass das nahende Ende ohne Gefahr vorübergehen möge. Vielleicht wurde das Lager wirklich dem Amerikaner unversehrt übergeben? Andere Blockälteste lachten über die Hirngespinste. Mit seiner Ansprache hatte ihnen der Kommandant nur Sand in die Augen gestreut.
Krämer, inmitten des Haufens der Erregten, hätte das Gewirr der Meinungen mit ein paar Worten klären können.
Gleich jener Gruppe der Zweifler hatte auch er die Demagogie des Kommandanten durchschaut, aber in ihrer Gesamtheit waren die Blockältesten nicht einheitlich gesinnt, und es gab unter ihnen so manche, deren politische und charakterliche Beschaffenheit zur Vorsicht mahnte. Darum konnte Krämer das offene Wort, dessen die Situation gerade jetzt bedurfte, nicht sprechen.
Wie immer in solchen Fällen blieb er neutral: »Abwarten, Kameraden.« Zwei Blockführer kamen. »Was ist hier los?«
Einige Häftlinge, die sich neugierig unter die Blockältesten gemischt hatten, verkrümelten sich schleunigst. Krämer und die Blockältesten zogen die Mützen. »Wir waren am Tor. Der Kommandant hat mit uns gesprochen«, erklärte Krämer. »Das Lager soll übergeben werden«, riefen einige Blockälteste. Die Blockführer ließen sich nicht auf Diskussionen mit den Häftlingen ein. »Schert euch auseinander, dalli! In die Blocks!«, herrschten sie. Dem Befehl gehorchend, zerstreute sich der Haufen. –
Lustlos saß Zweiling am Schreibtisch. Die Sache mit dem Judenbalg war ihm schiefgegangen. Der schlaue Reineboth hatte ihm alle Figuren vom Brett genommen. Höfel und Kropinski saßen im Bunker. Pippig, den er sich als Ersatz für Höfel warmhalten wollte, war fort. Der Rest des Kommandos schlich seit dem Tage, da die zehn Mann nach Weimar gebracht worden waren, um ihn herum mit Gesichtern, von denen er deutlich ablesen konnte, was sie über ihn dachten. Am meisten zuwider war Zweiling die plumpe Vertraulichkeit des Wurach. Vom ersten Tag an hatte dieser versucht, sich beim Kommando anzuschmieren. Doch die Kerle da draußen hatten einen viel zu feinen Instinkt, sie schienen das fremde Element unter sich sehr bald herausgeschnuppert zu haben und machten einen Bogen um Wurach und ließen ihn nicht an sich heran.
Seit Wurach ihm die Liste mit den 46 gegeben hatte, wurde er immer zudringlicher. Vor einer Stunde noch war er bei ihm im Zimmer gewesen.
»Wie ist es, Hauptscharführer, haben Sie mit dem Kommandanten gesprochen?«
Zweiling hatte ihn angezischt: »Kommen Sie nicht so oft zu mir, das fällt auf. Wenn es Zeit ist, wird sich schon was tun für Sie.«
»Ist aber nicht mehr viel Zeit, Hauptscharführer. Ich kann nicht im Lager bleiben. Wenn es mit der Liste rauskommt, dann schlagen sie mich tot.«
Dieser Mensch hing an Zweiling wie ein Klotz.
»Sie müssen mir helfen, Hauptscharführer. Ich habe Ihnen auch geholfen. Mit der Entlassung ist es Essig, daran glaube ich nicht mehr. Jeden Tag kann der Teufel hier losgelassen werden. Wollen Sie mich kaputtgehen lassen?«
Um den Zudringlichen loszuwerden, hatte ihm Zweiling die unsinnigsten Versprechungen gemacht. Er wollte ihn rechtzeitig aus dem Lager schaffen und ihn bei der Truppe unterbringen. Mit halbem Glauben hatte Wurach die Versicherungen entgegengenommen und sich in der Bedrängnis trotzdem an sie geklammert. Nun hockte Zweiling schon eine geraume Zeit hinter dem Schreibtisch und grübelte. Der Mund klaffte ihm auf, und die Zunge hing an der Unterlippe. Der Schlupf, den er sich hatte offenhalten wollen, war verstopft. Aus der Uniform, die er trug, kam er nicht mehr heraus. Mitgegangen, mitgefangen, mitge…
Zweiling war es nicht wohl zumute …
Draußen gab es Lärm. Ein Hinundherlaufen und Rumoren war zu hören. Zweiling schreckte hoch. Er trat rasch aus dem Zimmer und blieb verblüfft an der Tür stehen. Von den Häftlingen freudig begrüßt, standen die nach Weimar Verschleppten im Raum vor der langen Tafel. Sie wurden umarmt und gedrückt. Am überraschtesten gebärdete sich Wurach. Er griff nach jeder Hand und rief überlaut: »Großartig, Kumpels, dass ihr wieder da seid.«
Zweiling, mit einem faden Zug im Gesicht, stakte näher.
»Wo kommt ihr denn her?«
Die Häftlinge schwiegen betreten. Wurach machte sich zum Sprecher. »Die Gestapo hat sie laufenlassen, Hauptscharführer.« Dem peinlichen Schweigen war Zweiling nicht gewachsen, er fand sich in der überraschenden Situation nur mit einer vagen Bemerkung zurecht: »Da seid ihr also wieder … Lasst euch rasieren. Dreckig seht ihr aus.« Die Häftlinge antworteten nicht. Sie mochten ihre Freude mit dem da nicht teilen. Das wäre auch sonderbar gewesen.
Zweiling zog sich in sein Zimmer zurück. Eine ganze Weile hörte er auf das erregte Gelärm, fand sich in den Zusammenhängen nicht zurecht, die zu der überraschenden Entlassung geführt hatten. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er ging nach dem Schreibbüro hinüber, in dem sich die Häftlinge befanden. Sie nahmen bei seinem Eintritt Haltung an und verstummten. Zweiling stand vor Rose, der den Hauptscharführer noch mit der wilden Angst im Gesicht, in der er bisher gelebt hatte, anstarrte. Zweilings Augen wanderten über die stummen Häftlinge hinweg.
»Wo … ist denn der Pippig?«
Alle blickten zu Boden und schwiegen. Nur Wurachs Augen gingen verstohlen hin und her. Zweiling wandte sich Rose zu.
»Na, wo ist er denn?« Roses Gesicht verzerrte sich zu einer hässlichen, weinerlichen Grimasse. Er schluckte ein paarmal und öffnete den Mund zur Antwort. Da knackte es im Lautsprecher. Reineboths Stimme: »Zwei Leichenträger mit einer Bahre ans Tor!« Roses Gesicht veränderte sich, er stotterte: »Herr Hauptscharführer … ich … der Pippig … der …«
»Zwei Leichenträger mit einer Bahre ans Tor!«, wiederholte sich der Befehl. Die Häftlinge hoben die Augen zu Zweiling. Keiner sagte etwas. Rose schluckte. Zweiling schien zu begreifen. Er schob die Zunge vor.
»Wieso denn?«, fragte er blöd. Und nach einer Weile, da keiner ihm antwortete: »Na, so was …«
Er zuckte mit den Schultern und zog sich in sein Zimmer zurück.
Langsam und schwer bewegten sich die Häftlinge, und Rose, {der noch mit dem gleichen zerrissenen Gesicht dastand, hatte das Gefühl, als ob sie sich von ihm abwendeten.} »Ich … ich … kann doch nichts dafür …«{, sagte er kläglich.}
Die anderen beachteten seine hilflose Rechtfertigung nicht und überließen ihn schweigend seiner Erbärmlichkeit.
Krämer und Pröll standen am Fenster ihres Raumes und blickten zum Tor. Die untergehende Sonne tauchte das langgestreckte Gebäude in rotes Licht und warf lange Schatten.
Zwei Leichenträger, in farblosem Drillich, rannten vom Krematorium zum Tor. Die Bahre schaukelte zwischen ihnen. Der diensttuende Blockführer öffnete die schmiedeeiserne Tür, und sie huschten hindurch.
Krämer und Pröll warteten stumm. Nicht lange dauerte es, und die Leichenträger kamen wieder ins Lager herein. Die graue Wolldecke hing zu beiden Seiten der Bahre herab.
In Krämers Gesicht bewegte sich nichts. Als die Leichenträger zum Krematorium einschwenkten, zog er die Mütze vom Kopf und verkrampfte sie zwischen den Händen. Seine Augen nahmen Abschied.
Langsam gingen die Leichenträger mit ihrer Last über den leeren Appellplatz, und ihre langgezogenen Schatten geisterten vor ihnen her, als wiesen sie hüpfend die letzte kurze Strecke des Weges, die dem Toten auf dieser Erde noch übriggeblieben war …
Als sich die frühe Dunkelheit des Abends über das Lager senkte, vollzog sich, was am Mittag im Operationsraum des Reviers beschlossen worden war. Schnell und huschend spielte der Apparat. Die Verbindungsleute benachrichtigten in den Blocks die Führer der Widerstandsgruppen. Unauffällig geschah es – ein paar Worte, die jeder hören konnte, doch zwischendurch wurden die Weisungen des ILK gegeben.
Alarmstufe zwei! Kein Angehöriger der Widerstandsgruppen durfte mehr den Block verlassen, alle mussten sich in Bereitschaft halten. Sie wussten, worum es ging. –
Blockälteste in den Pferdeställen des Kleinen Lagers waren vorbereitet worden. Unter ihren sich in der Enge der Überfüllung drängenden Insassen tauchten neue auf. Sie kamen vom Revier. Köhn und seine Sanitäter hatten sie mit Kopfverbänden unkenntlich gemacht. In ihren zerschlissenen Klamotten unterschieden sie sich in nichts von den Übrigen. Andere der 46 Todeskandidaten hatten sich auf eigene Faust Verstecke ausfindig gemacht. Pröll war bereits am Nachmittag im Kleinen Lager gewesen, hatte sich umgesehen. Jetzt verabschiedete er sich von Krämer. »Geh, Junge«, sagte dieser, »es dauert bestimmt nicht lange, dann holen wir euch heraus …«
Ein deutscher Blockschreiber und zwei polnische Stubendienste aus einem der Pferdeställe des Kleinen Lagers warteten auf Pröll. Auf einer freien Stelle im Gelände, abseits der Baracken, hatte Pröll unter dem aufgeworfenen Schotter einen Kanalschacht entdeckt. Ein aufgerissener Strohsack, von Exkrementenunrat verschmutzt, lag in der Nähe, irgendwann einmal aus einem der Ställe herausgeworfen und vergessen. Sofort hatte Pröll hier das geeignete Versteck erkannt. Der Blockschreiber wollte nichts davon wissen, doch Pröll hatte darauf bestanden, hier unterzutauchen, und nun warteten seine Helfer in der Dunkelheit auf ihn. Sie hatten den Deckel vom Schacht schon abgehoben, und als Pröll erschien, war sein Verschwinden das Werk weniger Minuten. Der Schacht, in den Pröll stieg, war eine senkrechte, eineinhalb Meter tiefe Öffnung über der Abortabflussleitung, die vom Lager zur Kläranlage führte. Pröll konnte sich nur mit gegrätschten Beinen auf die Kanten der Abflussrinne stellen, er musste den Kopf einziehen, damit der Deckel aufgelegt werden konnte. Hastig warfen die Polen Schottersteine darüber und legten den Strohsack auf, dann huschten die Helfer in ihren Pferdestall zurück. Nun war Pröll allein und sich selbst überlassen. Er hatte das Gefühl absoluter Sicherheit und probierte die bequemste Stellung aus. In jeder Tasche seines Mantels steckte ein Knust Brot.
Zwischen seinen Beinen gluckste das jauchige Abwasser, und wenn der Gestank nicht gewesen wäre, dann hätte es Pröll lieblich klingen können wie das Gezwitscher eines munteren Bächleins. In einem Anflug von Galgenhumor machte sich Pröll mit seinem wenig angenehmen Verlies vertraut. »Fürs Scheißen hast du es jedenfalls bequem«, sagte er zu sich und richtete sich auf längere Zeit ein.
Krämer hatte dafür gesorgt und auch mitgeholfen, einige der Bedrohten zu verbergen. Auf seine Veranlassung hin hatte Bogorski von Häftlingen des Badekommandos am Nachmittag im Kohlenkeller das Versteck vorbereiten lassen. Im Kohlenberg war ein Hohlraum ausgeschachtet worden, der einen schnell zusammengezimmerten Lattenkäfig aufnehmen konnte. Klug und geschickt hatten die Häftlinge mit einem alten Tonrohr eine gut getarnte Luftzufuhr konstruiert. In diesen Lattenkäfig kroch einer der Bedrohten. Das Versteck wurde durch aufgeschichtete Kohlen unkenntlich gemacht. Im Kartoffelkeller der Küche war es einfacher. Hier genügte es, eine große Kiste unter den Kartoffelberg zu schieben. Die Entlüftungsanlage des Kellers sorgte für Atemluft. Als Krämer später durchs Lager ging und zur Nacht abpfiff, war die Aktion allerorts beendet. Sämtliche Todeskandidaten waren verschwunden. Matt an Nerven und Gliedern, betrat Krämer dann den Block 3 der Kommandierten, auf dem er seine Schlafstatt hatte. Die hier untergebrachten Häftlinge waren noch nicht schlafen gegangen. Voller Spannung umringten sie Krämer, der sich schwerfällig auf die Bank am Tisch niederließ.
»Hat es geklappt?«, fragte Wunderlich. Krämer antwortete nicht. Er knotete die Verschnürung seiner Schuhe auf. Sein Schweigen hatte etwas Mürrisches an sich. Doch die Häftlinge kannten ihn viel zu gut, um sein Verhalten nicht zu missdeuten, das nur die Reaktion auf die vorangegangene Anspannung war. Erst nach einer Weile sagte Krämer: »Wenn wir den Tag morgen gut überstehen …« Der Rest ging unter in einem schweren Seufzer. Krämer schob die Schuhe unter die Bank. Wunderlich stand vor ihm. »Ob es stimmt, weiß ich nicht, Walter, aber oben erzählen sie sich, dass morgen die Evakuierung losgehen soll …« Krämer sah Wunderlich fragend an, der zog unbestimmt die Schultern hoch. Keiner der Häftlinge, die Krämer umstanden, sprach. Was sie empfinden mochten, drückte sich in ihrem Schweigen aus. Woher auch hätten sie Worte nehmen sollen, um das Unbegreifliche zu sagen? Nicht die Evakuierung selbst machte die Menschen stumm, sondern die kaum vorstellbare Tatsache, dass die bevorstehenden Ereignisse das Ende in sich bargen. Wie viele tausend Tage und Nächte hatten erst in die Zeitlosigkeit ihres Lagerdaseins versinken müssen, damit eine einzige Nacht urplötzlich den Strom ins Nichts blockieren konnte? Weil dafür die Vorstellungskraft nicht ausreichte, war auch die Sprache zu arm. Selbst Krämer fand kein Wort, welches groß genug war, das Unvorstellbare auszudrücken. »Einmal muss es ja kommen …«, sagte er nur, als er sich erhob und die Jacke ablegte. Da sich nichts weiter sagen ließ, meinte Krämer: »Gehen wir schlafen, es ist das Beste …«
Noch lange wälzte sich Bochow in dieser Nacht ruhelos auf seinem Lager. Nun war es geschehen. Unter ihm in der Fundamentgrube befand sich Runki, und an vielen heimlichen Orten des Lagers die Übrigen. Nun war es geschehen, unwiderruflich und nicht rückführbar. Aus seinem Mund war der Entschluss zum Aufstand gekommen, folgenschwer und ebenso unwiderruflich! – Bochow schloss die Augen und befahl den Schlaf herbei, der ihn narrte. Er horchte in sich hinein. Habe ich Angst? Zittere ich? Was ist? Haben sich nicht die Hände der Genossen in eins zusammengefunden? War nicht sein Wille zum Willen aller geworden? Aller! Das waren 50 000 und nicht nur die paar Genossen des ILK! Würden deren wenige Hände ausreichen, die Last der Verantwortung auf alle zu verteilen? Oder würden abertausend Finger auf ihn weisen: Du trägst die Last! Du ganz allein! Aus deinem Munde kam das Wort! Du bist schuld! … Bochows Gedanken verwirrten sich, aber er straffte sich. Ausgesprochen hatte er nur, was für alle {… für alle} unausweichliche Notwendigkeit war! – Und trotzdem, der Schlaf floh von ihm. Die Nacht wollte nicht weichen. Sie hockte ihm auf der Brust wie eine schwarze stumme Gestalt …
Es war der 4. April 1945, ein Mittwoch, der im Dämmer des Morgens erwachte. Die Tür des Blocks 3 öffnete sich. Krämer trat heraus. Die Luft war feucht und hart. Es nieselte. Die frühe Morgenstunde löste sich nur schwer von der Schwärze der Nacht. Starr standen die Wachtürme. Die roten Lampen am Draht glühten verschwiegen wie heimlich beobachtende Augen. Breit und leer dehnte sich der Appellplatz. Ganz oben bleichte das Torgebäude auf. Die Bäume des verbliebenen Waldes rund um das Lager ragten schwarz und steif im Dämmer zwischen Nacht und Morgen. Krämer schlug fröstelnd den Mantelkragen hoch und zog die Signalpfeife aus der Tasche. – {Nun also, dachte er, mag dieser Tag beginnen.}
Der schrille Pfiff des Weckens erschreckte die Stille. Krämer stapfte durchs Lager. Die Häftlinge der Küche, die noch früher den Tag beginnen mussten, nahmen das Wecksignal als Zeichen entgegen, die Kaffeekübel bereitzustellen. In den Blocks war es schon lebendig. Die Betten wurden gebaut. In den Waschkauen drängten sich die Häftlinge mit nacktem Oberkörper um die Waschpilze. Stubendienste riefen in das Gewirr: »Kaffeeholer raus!« Auf den Wegen zwischen den Blocks begann es sich zu regen. Holzschuhe trappten. Aus allen Richtungen des Lagers zogen die Trupps der Kaffeeholer zur Küche, stauten sich hier und formierten sich zur gewohnten Ordnung des Kaffee-Empfangs. Der Küchenkapo und seine Helfer riefen die einzelnen Blocks auf. Die Kübel klapperten. Lärm, Leben, Bewegung, eingespielt und diszipliniert seit Jahren und wie an jedem Tag. Heute aber überdeckte der Lärm des Morgens eine besondere Spannung. Nur gedämpft sprachen sie alle miteinander. So mancher Blockälteste war über Nacht verschwunden. Wie selbstverständlich übernahm der Blockschreiber oder einer der Stubendienste die Funktionen des Fehlenden. {Keiner der Häftlinge neugierte.} Alle wussten sie, was in der Nacht geschehen war, und wie in geheimer Verabredung ignorierten sie das Außergewöhnliche. Nur hin und wieder und nur so zwischendurch gab es eine hingeworfene Bemerkung: »Bin neugierig, wie es heute ausgehen wird …« Zwischen den Angehörigen der Widerstandsgruppen auf den einzelnen Blocks – jede Gruppe zusammen mit dem Vormann zählte nur fünf Mitglieder – war die Gemeinsamkeit in noch tieferes Schweigen eingebettet als sonst. Alarmstufe 2!
Neben der militärischen Ausbildung war es die wichtigste Aufgabe der Männer des illegalen Apparats, in ständiger Einwirkung auf die Mitgefangenen Bewusstsein und Kameradschaftsgeist zu entwickeln. Das war nicht immer leicht gewesen. Unter der bunten Vielzahl der Menschen steckte mancher schlechte, manch einer, der feig war oder gar hinterlistig und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. So einer wollte »mit nichts« zu tun haben, begab sich selbst in Isolierung oder wurde von den anderen isoliert. Doch an diesem Morgen zeigte sich die Wirkung der Erziehungsarbeit und zeigte sich auch die Kraft der menschlichen Natur in Situationen, wo es galt, zusammenzustehen. Alle fühlten sich untereinander verbunden. Besonders auf den Blocks, wo es einen oder gar mehrere der verschwundenen Todeskandidaten gab, herrschte unter den Blockinsassen ein stilles Einverständnis: Einer für alle, alle für einen! Sie verbargen die leise Nervosität, von der sie befallen waren, spürten sie doch fast körperlich, dass der heutige Tag Entscheidungen bringen würde, und diese nicht nur der 46 wegen. Das nahende Ende schmolz das Bewusstsein aller in eins zusammen. Sosehr sie sich noch an persönlichem Mut, an Hoffnungen, Zuversicht oder Angst unterschieden, der heutige Morgen schweißte sie alle zusammen in der schicksalhaften Verbundenheit. Und als draußen das Licht des Morgens dämmerte und die Zeit des Appells herangekommen war, formierten sich die Züge, und der Marschtritt der Kolonnen, die Zug um Zug, Block um Block den Berg hinauf anrückten, war ein anderer als sonst. Dunkel, fester und entschlossener war der Tritt der Tausende, fest und entschlossen ihre Gesichter.
Der Appellplatz füllte sich, das Riesenquadrat baute sich auf, Mann an Mann, schweigend und erwartungsvoll. Tausende von Augen waren nach oben gerichtet zum Tor, wo Reineboth das Stativmikrophon aufstellte, Weisangk, der Erste Lagerführer, erschien und wo die gehassten Blockführer, diese rüden und zynischen Gesellen, standen.
Krämer gab die Bestandsmeldung des Lagers an Reineboth. Das Rudel der Blockführer zerstreute sich auf die einzelnen Blockkarrees, um zu zählen. Was geschah nun? 46 fehlten zum Appell! Das hatte es im Lager noch nie gegeben! Würde ein Sturm losbrechen? – Die Häftlinge hielten den Atem an. Sie horchten in das eigene Schweigen hinein, nach allen Seiten hin. Die Spannung war straff wie ein Stahlseil kurz vor dem Zerreißen. Warum brüllte kein Blockführer los? –
Krämer, mit dem Rücken zu den angetretenen Blocks, stand auf seiner gewohnten abgesonderten Stelle und hatte das Empfinden einer ungeheuren Leere hinter sich, als stünde er ganz allein auf dem weiten Platz. Er prüfte sich selbst auf die Verfassung seiner Nerven und Muskeln. Wie ging das Herz? {Klopf – klopf – klopf …} Waren die Arme ihm schwer wie Blei? Gab es einen Druck in der Magengegend? Nichts von dem. Gleichmäßig atmeten die Lungen. Gut also. – Er wartete ab. Zwanzig Meter vor ihm wartete Reineboth auf den Rapport der Blockführer, wartete der versoffene Weisangk. Warum nahm Kluttig heute den Appell nicht ab? – Krämer hörte hinter sich da und dort die Stimme eines Blockältesten: »Block 16, stillgestanden! Mützen ab! Block 16 mit 353 Häftlingen zum Appell angetreten …«
»Block 38, stillgestanden! Mützen ab! Block 38 mit 802 Häftlingen zum Appell angetreten. Einer fehlt.«
Das war Bochows Stimme! Krämer hielt für Sekunden den Atem an. Was geschah jetzt hinter seinem Rücken? Ein unbändiger Drang war in ihm, sich umzudrehen, das Lauschen genügte nicht mehr.
Bochow war gänzlich ohne Furcht, als er das Fehlen Runkis meldete. »Sein« Blockführer, für den er die Sprüchlein malte, blickte nur kurz von dem Blockbuch auf, in das er die Zahlen notierte, und fragte ohne Überraschung: »Wo ist er?« – »Ich weiß es nicht.« Mehr wurde darüber nicht gesprochen, und in Bochow schoss es plötzlich auf: die haben Instruktionen erhalten!
Der Blockführer ging die Front entlang, äugte über die entblößten Köpfe und zählte die Zehnerreihen ab. Verstohlen folgten ihm die Augen der Häftlinge. Warum geschah nichts? – Lag etwa in dem Schweigen, mit dem die einzelnen Blockführer die Meldungen entgegennahmen, eine große, noch unbekannte Gefahr? – Alles blickte gespannt nach oben. Blockführer um Blockführer gab bei Reineboth seine Meldung ab. Der notierte, als ob nichts geschehen sei.
Krämer konnte den Rapportführer gut beobachten. Jetzt zählte dieser die Meldungen zusammen, verglich sie mit dem Gesamtbestand, rechnete, zählte wieder, rechnete erneut, und ein feiner zynischer Zug um den Mund veränderte sein Gesicht. Nun war er mit der Rechnung zu Ende. Statt, wie üblich, zum Mikrophon zu gehen, trat er zu Weisangk. Was er mit diesem besprach, konnte Krämer nicht hören, aber er las es von Mienen und Gesten der beiden ab, dass sich das Gespräch um die 46 drehen musste. Weisangk redete gestikulierend, fahrig, nervös. Er gab Reineboth Anweisungen. Der zog die Schultern hoch und machte mit den Händen eine Bewegung, die ausdrücken mochte: Bitte, wie Sie wünschen. Darauf trat er zum Mikrophon. »Fertig! Stillgestanden! Mützen ab!«
Der Schlag klatschte dumpf wie immer.
Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden gesondert gezählt und verblieben während des Appells in ihrem mit einem Stacheldraht umzogenen Block. Sie konnten, was durch das Mikrophon gesprochen wurde, im Lautsprecher des Blocks hören. Eine große Zahl von diesen 800 Kriegsgefangenen gehörte den Widerstandsgruppen an. Bogorski war ihr Führer. Auch unter diesen Menschen galt das Gesetz der Konspiration, und nur die besten und zuverlässigsten waren in die Gruppen aufgenommen worden. Die Gefangenen saßen an den Tischen und warteten auf das Ende des Appells. Van Dalen, Köhn und die Pfleger, unter ihnen die des Sanitrupps, hörten im Aufenthaltsraum des Reviers gleichfalls die Durchsagen. Sie sahen sich bedeutungsvoll an, als sie Reineboths Kommandos vernahmen wie an jedem Tag. Was ist?
Im Kleinen Lager, das ebenfalls gesondert gezählt wurde, hatten Manipulationen stattfinden müssen, um den heimlichen Zuwachs in der Gesamtzahl des Bestands zu verbergen. Es wurden einige Tote, die es ja täglich gab, unterschlagen, und an ihrer Stelle ließen sich die Untergetauchten mitzählen. Ihre großartig zurechtgemachte Mimikry verwischte sie in der grauen Elendsmasse.
Es waren bange und gefahrvolle Minuten, die sie alle zusammen mit dem ganzen Lager durchkämpfen mussten. Krämer, Bochow, Bogorski, Pribula, Kodiczek, Riomand und van Dalen. Sie warteten auf den Sturm … Gab es nicht jedes Mal Aufruhr, wenn auch nur einer fehlte beim Appell, der sich aus Angst vor dem kommenden Tag irgendwo verkrochen hatte? Und heute fehlten 46! Und »die da oben« sollten nicht einmal Notiz davon nehmen?
Reineboth gab seinen Rapport wie immer an den Lagerführer weiter, wie immer ging er dann zum Mikrophon zurück: »Mützen auf! – Korrigieren! – Aus!«
Reineboth trat vom Mikrophon zurück, und Weisangk nahm dessen Stelle ein. Er hielt sich an der Stange des Stativs fest, und sein Bayrisch röhrte durch den Lautsprecher. »Mal herhören z-amt! Heit bleibt mir alles im Lager. Heit rückt koan Arbeitskommando aus! Es bleibt mir alles in den Blocks, dass mir koana drauß’n umanandloaft, heit.« Er trat von einem Bein auf das andere, das Sprechen machte ihm Mühe, er schien noch etwas sagen zu wollen, überließ aber dann dem gewandteren Reineboth die weitere Durchsage. Mit einem zweischneidigen Lächeln stellte sich dieser wieder hinter das Mikrophon. »Die bestellten Häftlinge am Schild 2 antreten. Alles andere abrücken!« Er schaltete das Mikrophon aus. Die bestellten Häftlinge waren die 46! –
Während sich die Massen der Häftlinge nach dem Lager zu in Bewegung setzten, die Blockführer durchs Tor verschwanden, raunte Reineboth Weisangk zu: »Von den Kerlen kommt keiner, die haben sich alle verkrochen.«
»Dös is a Schweinerei, is dös.«
Am Schlagbaum, der sich am Ende der langen Zufahrtsstraße zum Lager befand, hielten zwei überplante Lastautos. Eine karabinerbewaffnete Abteilung SS, von einem Hauptsturmführer befehligt, stand neben den Wagen. Der Posten am Schlagbaum ging auf und ab. Im kleinen Steingebäude, das als Unterkunft diente, saß Kluttig und wartete. –
In seinem Zimmer griff Reineboth zum Hörer, doch er legte ihn wieder auf die Gabel zurück. Finger davon, dachte er sich, mag es Kluttig mit dem Kommandanten selbst ausmachen. Die Situation war zu heikel, und es erschien Reineboth klüger, sich aus ihr herauszuhalten. Das Verschwinden der 46 kam einer Kampfansage gleich, die Reineboth unfassbar war, er schüttelte den Kopf. Die Lage begann sich zu komplizieren. Seit jener für Reineboth so aufschlussreichen Besprechung beim Kommandanten war der Jüngling vorsichtiger geworden. Das heutige Ereignis zeigte geheime Kräfte an, die er in seiner eitlen Überheblichkeit niemals hatte ernst nehmen wollen. Gewohnt, in den Häftlingen nur willenlose Objekte zu sehen, ging dem Jüngling jetzt eine Ahnung auf, dass es keineswegs so leicht war, einfach mit dem Maschinengewehr hineinzuhalten. Und außerdem … Reineboth machte ein paar langsame Schritte und blieb nachdenklich vor der Landkarte stehen. Die bunten Nadelköpfchen hüpften von Tag zu Tag näher ans Lager heran. Der Jüngling schürzte sorgenvoll die Lippen. Der Bart ist ab, Adele … Auf dem Schreibtisch stand ein Bild im Silberrahmen. Mit süffisant herabgezogenen Mundwinkeln betrachtete sich der Jüngling den dargestellten Mann, das Idol, mit in die Stirn gekämmter Haarsträhne … Plötzlich schnippte Reineboth gegen die bartgestützte Nase des Photos. »Adele«, sagte er zynisch{, sich im Augenblick jenem an Intelligenz maßlos überlegen fühlend}.
Weisangk hatte dem Kommandanten das Verschwinden der 46 gemeldet. Schwahl war aufgebracht. Er stützte die Fäuste in die Hüften und stöhnte. »Da haben wir es! Dieser Mensch bringt mir nur Unruhe ins Lager.«
Schwahl konnte es sich nicht leisten, eine langwierige Suchaktion durchführen zu lassen. Auf dem Weimarer Bahnhof wartete bereits ein Güterzug auf die ersten Transporte.
Nach dem Ausbruch seines Unmuts war Schwahl merkwürdig schweigsam geworden. Gedankenvoll ging er im Zimmer umher. Plötzlich blieb er vor Weisangk stehen, der in einem Sessel am Konferenztisch saß und seinen Herrn mit sorgenvollen Blicken verfolgte.
»Kommt nach uns der Bolschewismus?«, fragte Schwahl überraschend. Weisangk blinzelte und schluckte wie bei einer Examensfrage.
»I moan, was soll sunst kemma?«
Schwahl machte wieder einige gepeinigte Schritte und fuhr mit ausgestrecktem Finger zu dem ratlosen Weisangk herum. »Eines ist sicher! Auf der Konferenz der alliierten Außenminister 1943 in Moskau wurde die Aburteilung der Kriegsverbrecher beschlossen.« Schwahl tippte sich vielsagend gegen die Brust.
»Dös is a Ding …«, platzte Weisangk überrascht heraus.
»So einfach, wie es sich Kluttig machen will, ist es eben nicht, mein Lieber.«
Schwahl stöhnte gequält auf. »Geschossen ist schnell. – Vielleicht habe ich Glück und komme durch. Vielleicht lasse ich mir einen Bart wachsen. Vielleicht wird aus mir ein Waldarbeiter, irgendwo in Bayern …«
»Dös is guat«, pflichtete Weisangk eifrig bei.
»Aber wenn sie mich erwischen … Wenn sie mich erwischen … Ich werde für sie immer der Kommandant des Konzentrationslagers Buchenwald bleiben. Und wenn sie hier ein Leichenfeld vorfinden …?« Schwahl wedelte mit den Fingern. »Nee, nee, mein Lieber …«
Weisangk versuchte, Schwahls düstere Gedanken in ihrer Folgerichtigkeit weiterzudenken, aber das gelang ihm nicht. »Du bist a G’scheiter. Was is da zu machen?«
Nervös strich Schwahl mit der Hand durch die Luft.
»Weg mit den 46! Damit schlagen wir dem Widerstand im Lager die Köpfe ab. Alles andere aber marschiert. Was unterwegs kaputtgeht, soll mir egal sein. Was ein Alibi ist, weiß ich als Beamter am besten. Hier im Lager darf es jedenfalls keine Leichen geben.«
»Dös moan i aa.«
Überlegend drückte Schwahl die Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wir müssen Kluttig zuvorkommen, er darf uns kein Unheil anrichten. Du gehst sofort zum Tor, holst dir den Lagerältesten und den Lagerschutz und lässt nach den 46 suchen.«
»Moanst, dös uns der Lagerschutz den Gefallen tut und oanen von den Kerls …«
Unbeherrscht schrie Schwahl los: »Das ist mir egal! Du hast meinen Befehl! Ich lasse von Kluttig nicht das Lager umstülpen!«
Erschrocken sprang Weisangk hoch: »Nananaa, reg di net auf …«
Nach dem Einrücken waren die Blockältesten mit zu Krämer gekommen und drängten sich im engen Raum um ihn zusammen. Auf ihren Gesichtern flackerte es, und von den seelischen Strapazen glänzten die Augen fiebrig. Was wird nun werden, was sollen wir tun? Nervosität und Erregung brodelten. »Kumpels«, rief Bochow, »wir dürfen uns nicht verwirren lassen. Jetzt müssen wir klaren Kopf behalten. Sie wollen uns evakuieren. Die 46 will Kluttig umlegen. Er irrt, wenn er glaubt, damit unseren Widerstand zu treffen.« Stark hatte es Bochow in den Lärm hineingerufen, überrascht, nach so vielen Jahren wieder seine Stimme zu hören, nicht flüsternd und heimlich, sondern laut und kraftvoll, so als sei sie plötzlich zu ihm zurückgekehrt. Das Lebensgefühl, in all den Jahren auf Klein gedreht, flammte auf und gab seiner Seele einen so unerhörten Schwung, dass er vermeinte, die Arme ausbreiten zu müssen. Kameraden! Genossen! Brüder! {Freunde! Menschen!}
Als pflanze sich in Krämer dieses drängende Bedürfnis fort, nahm ihm dieser das Wort ab. »Kameraden! Wir haben in allen Jahren zusammengehalten. Nun soll es sich erweisen, ob unsere Disziplin etwas taugt. Keine Unbesonnenheiten, Kameraden! Wir dürfen aus unseren Reihen keine Provokationen dulden, wir dürfen aber auch nicht auf Provokateure von dort oben hereinfallen. Denkt daran! Es kostet uns sonst das Leben von Tausenden. Zeigt denen da oben, dass wir kein wilder Haufen sind, sondern eine Gemeinschaft disziplinierter Menschen! Kameraden, hört zu, was ich euch jetzt sage! Alle Befehle, die wir erhalten, werden von nun ab so ausgeführt, wie wir sie an euch weitergeben.« Krämer blickte prüfend in die gespannten Gesichter. Die Blockältesten hatten ihn verstanden. »Wir!«, wiederholte Krämer und drückte sich die Faust gegen die Brust. »Geht zu euren Kumpels auf die Blocks. Lasst euch durch nichts bange machen. Es kommen schwere Tage. Wir müssen jetzt das Leben aller verteidigen! {Schließlich sind wir 50 000.} Wir verteidigen unser Leben mit den Waffen, die wir besitzen, mit Mut und eisenharter Disziplin!«
Krämers Worte hatten den Blockältesten eine starke Zuversicht gegeben. Ein warmes Gefühl für Krämer durchflutete Bochow. Er blieb zurück, als die Blockältesten den Raum verließen.
Die beiden Männer sahen sich in die Augen, und ein wenig verlegen meinte Krämer, die Gefühlsaufwallung, die auch ihm die Brust heiß machte, überbrückend: »Das musste ich jetzt wohl sagen …«
Bochow antwortete nicht.
Plötzlich umarmten sie sich, dem Drang unterliegend, dem ihre raue Scham nicht mehr gewachsen war, und standen stumm, das warme Pochen ihrer Herzen als Zwiesprache benutzend. Selten und darum umso kostbarer waren die Augenblicke im harten Leben der beiden Männer, wo das Gefühl, sonst karg und verborgen, alles überblühte. Rauborstig, wie immer, wenn es ihm da drinnen zu weich werden wollte, sagte Krämer: »Jetzt geht es los, Herbert.« Auch Bochow war froh, wieder der Alte sein zu können.
»Es ist sicher, dass es hier bald drunter und drüber gehen wird. Das gibt uns mehr Freiheit. Wo kann sich das ILK in Zukunft treffen? Was schlägst du vor?«
Krämer überlegte. »Ich meine, in der 17, dem Quarantäneblock. Dorthin geht die SS ebenso ungern wie in Block 61. Die 17 ist in der Nähe der Schreibstube, wir können immer Verbindung miteinander halten. Der Blockälteste von 17 ist ein guter Kumpel und kann euch sicher unterbringen.«
»Gut«, entschied Bochow. »Sprich du mit ihm, ich verständige die Genossen.« Sie drückten sich die Hand. Es lag eine feste Entschlossenheit in diesem Händedruck.
Noch immer wartete Kluttig. Der Appell musste längst zu Ende sein. Ungeduldig trat er aus dem Wachhaus. »Was ist los? Wann kommen nun die Kerle?«
Der angesprochene Hauptsturmführer zog die Schultern hoch. –
In den Blocks horchten die Häftlinge auf. Es knackte in den Lautsprechern, und das probierende Pusten war vernehmbar. Alle lauschten. Reineboths lässiger Jargon war zu hören.
»Der Lagerälteste und der Kapo vom Lagerschutz sofort zum Tor.«
Die Durchsage, sonst nichts als eine der lagerüblichen, jetzt war sie Sensation, wie alles, selbst das geringste Ereignis, zur Sensation wurde. Die Häftlinge waren durch den Befehl, in den Blocks zu bleiben, wie eingeschnürt. In allem, was geschah, witterten sie Unheil und Bedrohung. An den Fenstern der ersten Blockreihe am Appellplatz lugten neugierige Gesichter. Die beiden Gerufenen eilten im Laufschritt den Appellplatz hinauf. Oben trat Weisangk durch das schmiedeeiserne Tor ins Lager herein. In den anderen Blocks, von denen aus der Appellplatz nicht zu sehen war, ebbten die erregten Gespräche ab; die Häftlinge, an den langen Tischen zusammengedrängt, erwarteten neue Durchsagen. Aber die Lautsprecher blieben stumm. Was braute sich zusammen?
»Wo sind die Leit’?«, empfing Weisangk die Gerufenen. »Warum treten die 46 nicht an?«
Mit dienstlicher Sachlichkeit antwortete Krämer: »Es ist mir nicht bekannt, warum sie nicht angetreten sind.«
»Sie sollen antreten«, polterte Weisangk, »es passiert ihnen nichts. In Buchenwald wird koaner mehr umgelegt. Sind die Leit’ noch im Lager?«
»Meiner Ansicht nach müssen sie noch im Lager sein.«
Weisangk trat von einem Bein aufs andere. »Also suchen«, wandte er sich an den Kapo. Jede weitere Erörterung der Angelegenheit überschritt Weisangks Fähigkeiten, er wusste, dass Kluttig, von Schwahl telefonisch herbeigerufen, jetzt im Dienstzimmer war, und der musste vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Weisangk machte eine fahrige Handbewegung.
»Bis zum Mittag san die Leit’ hier, verstanden?«
»Jawohl.«
Es bedurfte zwischen Krämer und dem Kapo keiner besonderen Verständigung, als sie den Appellplatz hinuntergingen.
»Ihr sucht selbstverständlich fleißig bis zum Mittag«, raunte Krämer.
»Klar, Walter«, gab der Kapo zurück. »Nur – ob wir einen finden werden … Was meinst du?« Er sah Krämer mit zugekniffenem Auge an.
Es schien, als sollte es wieder einen Zusammenstoß geben. Voller Gift, dass es die Häftlinge gewagt hatten, Trotz zu bieten, fauchte Kluttig auf Schwahl ein.
»So weit haben Sie es mit Ihrer Diplomatie gebracht. Nun tanzen uns die Kerls auf der Nase herum!«
{»Bahbahbah«, machte Schwahl aufgeplustert. »Der Lagerschutz sucht bereits.«}
»Der Lagerschutz? Sind Sie von Gott verlassen, Mann? Hier gehört eine Kompanie SS her! Jeder Strohsack muss umgekrempelt werden!«
In Bedrängnis hob Schwahl die Arme hoch. »So geht’s nicht weiter mit uns beiden! Sie bringen mir alles durcheinander und trampeln wie ein Ochse im Porzellanladen herum!«
»Standartenführer!«, trompetete Kluttig beleidigt.
Auch Schwahl wollte losschreien, aber er brachte nur ein Ächzen heraus und schleuderte mit den Händen die aufgeschossene Wut von sich.
»Sag Schwahl zu mir oder meinetwegen Zuchthausbulle, wie früher, als wir noch intim miteinander waren.«
Er entnahm dem Schreibtisch eine Flasche Kognak und zwei Gläser und stellte sie auf den Konferenztisch. Hintereinander leerte er zwei Gläser und ließ sich vernichtet in einen der schweren Sessel fallen.
»Wenn du nur vernünftig werden wolltest«, ächzte er, »wir müssen fort, es geht uns an den Kragen.«
In seinen kleinen Augen flimmerte es, die Hände zitterten ihm. »Setz dich«, sagte er nervös, und als Kluttig der Aufforderung nicht sofort nachkam, schrie er ihn an: »Hast du gehört, du Plissierfritze, du sollst dich setzen!«
Mit galligem Grimm nahm Kluttig Schwahls innere Auflösung wahr. Obwohl auch ihm die Bedrängnis unter der Uniform saß, zischte er durch die Zähne: »Der Herr Standartenführer bekommt es mit der Angst …«
»Lass endlich den verdammten Standartenführer beiseite, ich kann es nicht mehr hören!«{, schrie Schwahl und trommelte mit den Fäusten auf den Tisch.} Plötzlich brach er ab, stierte unbeweglich vor sich hin und blickte dann zu Kluttig auf mit einem so veränderten Ausdruck, als wäre ihm das Gesicht heruntergefallen.
Die Katastrophe blieb nicht ohne Wirkung auf Kluttig. Im Bedürfnis nach Luft schob er den Adamsapfel aus dem Kragen, setzte sich wortlos an den Tisch und trank das bereitstehende Glas leer. Schwahl beobachtete ihn dabei und gewahrte, dass auch ihm die Hand zitterte. Ein tonloses Meckern schüttelte Schwahl. »So sehen wir jetzt also aus, so sehen wir aus …«
Gepeinigt knallte Kluttig mit der flachen Hand auf den Tisch: »Hör auf!«
»Ja, wir hören auf«, sagte Schwahl mit ächzendem Zynismus. »Von heute an gibt es uns nicht mehr! Oder wie bitte, Herr Lagerführer? Wie lange wünschen Sie es noch zu sein?«
Schwahl erhob sich, ruckte sich in den Schultern zurecht, schob den Bauch vor und stemmte die Fäuste in die Seiten.
»Im Grunde ziehen wir beide am gleichen Strang, nur jeder am anderen Ende. Das muss aufhören. Du bist ein alter tapferer Kämpfer, treu und ergeben. Hochachtung, Robert!«
Kluttig verbiss sich schweigend die Lippen. Das umgestülpte Innere Schwahls, das ihm so erschreckend sichtbar geworden war, hatte auch die eigene innere Verwüstung bloßgelegt. Ohne es sich oder gar Schwahl einzugestehen, wusste Kluttig, dass seine Sucht nach Vernichtung nur das Wüten gegen die drohende Auflösung war. Im Grunde gab es nichts, als das Auto vollzupacken und rechtzeitig vor dem Amerikaner zu verschwinden. Plötzlich fiel Kluttig die drallbrüstige Hortense ein, sie wollte er sich mitnehmen.
Schwahl stieß Kluttig gegen die Schulter. »Hörst du zu, was ich dir sage?« Kluttig straffte sich. »Ja, natürlich, ja, ich höre zu.«
»In einer Woche muss das Lager leer sein, mehr Zeit haben wir nicht. Mit jedem Transport geht ein Teil der Truppe mit. Heute Nachmittag beginne ich mit der Räumung.«
»Und was wird mit den 46?«
Kluttigs Hartnäckigkeit ließ in Schwahl die Nervosität erneut aufbrechen. »Wegen 46 Mann kann ich kein Durcheinander veranstalten.«
»Sie sind der führende Kopf …«
»Ach was, Kopf oder Schwanz! Alles geht mit.«
»Und wenn Widerstand geleistet wird?«
Verzweifelt umschloss Schwahl seinen Kopf mit den Händen. »Dann jagen wir sie mit Hunden hinaus.«
Kluttig lachte zerrissen: »Das gibt Tote, und die willst du nicht haben.«
Mit Schwahls Beherrschung war es vorbei. »Und wenn jeder Transport ein Leichenzug wird«, schrie er, »hier bleibt kein Toter zurück.«
Störrisch beharrte Kluttig: »Wenn sie uns die 46 nicht ausliefern, lasse ich sie durch Nachtstreifen suchen.«
»Jaja«, wimmerte Schwahl klein und schwach, »lass suchen, ich schicke dir meinetwegen noch eine Hundestaffel ins Lager. Aber bring mir nicht die Evakuierung durcheinander.«
Völlig ausgepumpt sank er in den Sessel zurück.
Die Häftlinge vom Lagerschutz gingen von Block zu Block. »Habt ihr einen von den 46 versteckt?«
»Nein, wir haben niemand versteckt.«
»In Ordnung. Gehen wir zum nächsten Block.«
{Sie erfüllten gewissenhaft ihre Pflicht.}