Der Flüchtling

Frühmorgens 10 Uhr kam der Befehl zum Einrücken. Was ist los? Warum rücken wir vorzeitig ein? Ist einer getürmt? Ja, es ist einer getürmt! Auf dem Appellplatz sammelten sich die Arbeitskolonnen und traten blockweise an. Jetzt hieß es: »Stehen«. Stehen, bis der Flüchtling eingefangen worden war. Das konnte lange dauern. 5 Stunden, 10 Stunden, anschließend vielleicht die ganze Nacht.

Das Lager war niemals gut auf einen Flüchtling zu sprechen. Die meisten von ihnen wurden wieder eingefangen. Wegen einer solchen sinnlosen »Selbsthilfe« mussten Tausende leiden, starben hinterher noch viele an den Strapazen des Stehens. Die SS war mit Hunden und Knüppeln unterwegs, den Flüchtling zu suchen. Wir standen. Es wurde Mittag. Der Hunger kam. Wir vertraten uns die Füße. Zum Glück regnete es nicht. Träg krochen die Viertelstunden dahin. Die Zeiger an der Turmuhr des Tores schienen stillzustehen. Ewig währte es, bis eine Stunde vergangen. Wir wurden müd und matt. Immer noch war es Mittag. Wenn es nur erst Nachmittag wäre. Vielleicht finden sie ihn bald? Vielleicht lassen sie uns am Abend abrücken, und wir brauchen in der Nacht nicht zu stehen? … Einer lehnt sich an den anderen. Man stützt sich gegenseitig. Mancher setzt sich heimlich zwischen seinen stehenden Kameraden nieder. Der Blockälteste »sieht« es nicht. Aber der Warnruf »Achtsehn!« scheucht alles wieder hoch. Ein Scharführer geht durch die Blocks und kontrolliert. Sie stehen ausgerichtet auf Vordermann und Seitenrichtung. Tadellos. Wir grinsen innerlich vor Schadenfreude, dass er »unverrichteter Dinge« wieder abzittern muss nach der Blockführerstube. Wir sind wieder allein und stehen. Wie spät ist es? Kaum 5 Minuten ist es her, dass man auf die Uhr gesehen hat, es scheinen Stunden zu sein. Dort macht einer schlapp. Er taumelt nach vorn und wird aufgefangen. Mit eingebogenen Knien hängt er zwischen den haltenden Armen der Kameraden. Man versucht, ihn aufzurichten. Doch die Beine versagen, sie knicken immer wieder ein. So legt man ihn denn neben den stehenden Block. Schiebt ihm noch eine zusammengeknüllte Jacke als Kopfkissen unter. Einer hat ihm das Hemd geöffnet und ihm Luft verschafft. Seine Nase wird spitz und wachsbleich das Gesicht. Er atmet stoßweise. »Der geht kaputt«, meinen die Erfahreneren. Wir stehen. Wieder hat sich eine Stunde träge davongeschleppt. Wir stehen … Jetzt sind es schon mehrere, die schlappgemacht haben. Auch die Kräftigsten spüren es in sich, die Glieder sterben ab, der Rücken schmerzt, als säßen Messer zwischen den Rippen. Die Schultern tun weh, die Arme hängen schlapp. Wenn man nur ein paar Schritte gehen könnte, um das tote Blut wieder in Bewegung zu bringen … »Achtsehn!« Der Scharführer kommt wieder. Er bleibt vor einem der Zusammengebrochenen stehen, drückt ihm prüfend die Stiefelspitze in die Seite und befiehlt ihm aufzustehen. Der Kranke bemüht sich, dem Befehl nachzukommen. Aber er ist zu schwach und sinkt immer wieder zurück. Doch der Scharführer gebietet den Zunächststehenden, den Kranken aufzunehmen. Sie gehorchen und nehmen ihn rechts und links zwischen sich. Jetzt »steht« er mit. Aber es ist nur ein Hängen und Schaukeln. Die Beine versagen, der Kopf fällt nach vorn. Immer wieder sackt er zusammen und muss hochgerissen werden. Wenn sie ihn auf die Beine stellen, knickt er ein wie ein leerer Schlauch. Es ist, als hätte er keine Knochen mehr im Leibe. Und wir stehen … Endlich, nach 8 Stunden, kommt Leben in die müden Knochen. Es pfeift! Es pfeift wie toll an allen Ecken. Fern und nah, überall ertönt das Pfeifen. Sie haben ihn! Sie haben ihn! Die Nacht ist gerettet. Die Knochen straffen, die Hälse recken sich. Sie haben ihn! Ein erlöstes Raunen geht durch die Blocks. Alles schaut nach der Richtung, aus welcher sie ihn vermutlich bringen werden. Tot oder lebendig, das ist ja so gleichgültig, die Hauptsache ist, dass sie ihn haben …

Die ersten Scharführer kommen an mit ihren Schweißhunden. Man vergisst, auf die Uhr zu schauen, denn jetzt vergeht die Zeit. Noch einige Scharführer kommen, die zerrenden Hunde an der Leine, den Karabiner vorn quer vor der Brust. Und dort, am Ende des Zaunes, lärmt es auf. Sie bringen ihn! Ein johlender Haufen von Scharführern rennt am Zaun entlang zum Tor, knüppelschwingend! Ihnen voran, torkelnd und taumelnd, etwas, das einem Menschen ähnlich sieht. Der Flüchtling, von Hunden umrast und angesprungen. Er fällt, Hunde und Scharführer reißen ihn wieder hoch mit Gebell und Geschrei und Geknüppel. Er torkelt weiter, vornübergebeugt, die Arme schützend gegen die anspringenden Hunde und prellenden Knüppel der Scharführer erhoben. Seine zerfetzte Kleidung flattert wie ein Harlekinkostüm in Streifen und Bändern um den blutenden Körper. So wälzt sich die Kavalkade den Zaun entlang, durch das Tor, ins Lager herein. An der Mauer des Bunkers bleibt der Flüchtling mit dem letzten Rest seiner Kraft kleben, sinkt dann aber wie ein Sack in sich zusammen. Gierig verbeißt sich das Rudel der Schweißhunde in seinen Körper. Vielleicht ist der Flüchtling schon tot? Wohl ihm! Wir empfinden keinen Hass mehr gegen ihn, wenn wir auch einen ganzen Tag seinetwegen gestanden haben. Sosehr wir ihn, den Ausreißer, gehasst, so sehr empfinden wir jetzt mit ihm als einem Freund und Bruder. Was da oben jetzt geschieht, geht alle an. Dort oben wird wieder einer »fertiggemacht«. Dumpf und stumpf stehen wir und müssen zuschauen, wie sie ihn dort oben zu Ende bringen. In wehrlosem Grimm starren wir zum Tor. Keiner denkt mehr an die durchgemachten Strapazen, keiner fühlt mehr seinen schmerzenden Rücken. Die Gefühle der Tausende schmelzen zu einem einzigen zusammen … Hundertmal schon erlebt. Hundertmal schon in ohnmächtiger Wut nach oben gestarrt, dort, wo sie jetzt ihr Spiel treiben mit einem, der gleich ist mit uns. Mancher schiebt jetzt langsam die Hände in die Taschen, um seine Fäuste zu verstecken. Die erschlafften Gesichter werden finster und hart. Hinter tausend Stirnen schwelt ein Gedanke und funkelt in tausend stummen Augen. Die Scharführer umtanzen mit ihren Hunden das Menschenbündel …

Der Lagerführer kommt, mit ihm der Rapportführer und der übrige Stab. Die Scharführer beenden ihr Spiel und leinen die Hunde an, während die prüfenden Stiefelspitzen der hohen SS-Offiziere in dem Haufen aus Blut und Kleiderfetzen herumstochern. Ein Wink des Lagerführers und 2 Häftlinge schleppen den »Bock« herbei. Schon steht »Sommer«, der Scharführer vom Bunker, bereit, peitschewippend. Im Vorgenuss des kommenden Spieles. Zwei Scharführer zerren das Menschenbündel hoch und werfen den völlig zerdroschenen und zerbissenen Flüchtling über den Bock. Sommers Peitsche saust. 25, 28, 30 furchtbare Hiebe zerfleischen das Gesäß des Unglücklichen. Er rührt sich nicht, er bäumt sich nicht auf im furchtbaren Schmerz. Er liegt, als wäre er schon tot. Vielleicht ist er tot? … Nein, er lebt. Wie grauenhaft: Er lebt! Sie reißen ihn vom Bock herunter. Er fällt wie ein Sack zur Erde und kriecht auf allen vieren – geschändet und der letzten Menschenwürde beraubt – zur Wand des Bunkers zurück. Hier bleibt er liegen wie ein verendendes Tier. Ein Scharführer zerrt ihn am Kragen hoch und lehnt ihn kunstvoll an die Mauer. Er scheint an ihr kleben zu bleiben, denn er steht, schaukelnd zwar, mit eingeknickten Knien, aber er steht. Und vor ihm steht eine Emballage! … Ein Lattenrost, der übriggeblieben ist von irgendeiner Maschinenlieferung. Da kommt dem Rapportführer Strippel ein glänzender Gedanke. Er bespricht diesen mit dem Lagerführer Rödl, dieser nickt, und Strippel geht zum Mikrophon: »Das Zaunkommando ans Tor!« Wir wissen nicht, was sie da oben vorhaben, aber es muss Ungeheuerliches sein. Das Zaunkommando schlägt den Lattenrost, der gerade so hoch ist, dass ein Mensch mit eingezogenem Kopf darin stehen kann, mit Stacheldraht aus und treibt lange Nägel durch das Holz nach innen.

In diesen Käfig, in diese so hurtig improvisierte »Eiserne Jungfrau« sperren sie den Flüchtling ein … Wäre er doch in den Bunker gekommen, dort könnte er sich wenigstens erhängen, und alles hätte sein schnelles Ende. Hier aber kann er sich nicht einmal anlehnen, wenn er stirbt. Denn er stirbt … Strippel geht wieder zum Mikrophon: »Abrücken!«

Wir wenden uns und recken die steifen Knochen. Langsam ziehen wir zu den Blocks, unsere Kranken mit uns schleppend. Der Herr Lagerführer begibt sich mit seinem Stab zum Kasino, die Scharführer verzetteln sich, der Appellplatz wird leer, das Schauspiel ist zu Ende …

Langsam wird es dunkel, der Abend kommt, die Nacht bricht herein … Einsam steht ein Lattenrost auf dem Appellplatz. Einsam steht ein armer Häftling. Verlassen von Welt und Mensch, und über ihm funkeln die ewigen Sterne. Er ist ganz allein. Noch einen ganzen Tag steht er so und noch eine Nacht. Als wir dann zum Morgenappell antreten, liegt er tot in seiner Mausefalle …