Tagsüber schwerste Arbeit in Schlamm und Dreck,

und nachts ließ man uns nicht schlafen

 

Meine Kameraden wollen von mir einen Beitrag haben, welcher Ereignisse schildert, die das öde Einerlei des Alltages im Lager unterbrachen. Ich berichte aber von Ereignissen, die in den Jahren 1937 und 1938 unsere Nächte, das heißt unseren Schlaf unterbrochen hatten. Man muss sich hineindenken in so einen Arbeitstag, und ich muss, lieber Leser, deine Phantasie ein wenig strapazieren. Wie sah in den genannten Jahren, also in der Zeit des Aufbaues, das Lager aus? Es war eine trostlose Schlammwüste dort oben auf dem Ettersberg. Der durch die abgerodeten Bäume freigelegte Waldboden hatte sich im ewigen Regen des Sommers und des Winters in einen Morast aus zähem, gelbem Lehm verwandelt. Durch diesen Lehm, in dem man bis über die Knöchel einsank, sind wir gewatet Tag und Nacht. Er klebte uns an wie der Leim den Fliegen. Wir trugen ihn an den Schuhen, an den Kleidern, an den Händen, im Gesicht. Wir schleppten ihn in die Baracken hinein, wir schleppten ihn auf die Bänke, auf denen wir saßen, auf die Tische, an denen wir aßen. Wir schleppten ihn bis in die Betten hinein. Sieben Monate hatten wir kein Wasser. Wir konnten uns nicht waschen. Mit einem Brotmesser oder mit einem Stück Holz haben wir uns den Lehm von den Kleidern, von den Händen abgekratzt. Wir haben vor Dreck gestunken. Irgendein alter, aufgelesener Fetzen oder ein Stück Zeitungspapier waren unser Handtuch, unser Taschentuch. Fast alle waren wir von eiternden Wunden, von Ekzemen und Geschwüren an Händen und Füßen befallen. Der verdreckte Verband hing in Fetzen um die geschundenen Glieder. Mit zerschundenen und vereiterten Händen haben wir gegessen und gearbeitet. Gearbeitet! Oh, diese Arbeit! Wir haben geschachtet, dass uns in klirrender Kälte der Schweiß in Strömen gelaufen ist. Wehe dem, der es wagte, einmal seinen schmerzenden Rücken aufzurichten, um zwischen zwei Atemzügen zu verschnaufen, schon saß ihm der Gewehrkolben oder der Stiefel eines SS-Postens im Kreuz. Oder wir mussten Zentnerlasten schleppen. Wie Tiere sind wir, beladen mit Planken, Brettern und Steinen, durch den knöcheltiefen Schlamm gewatet. Riesige Stämme hundertjähriger Buchen haben wir transportiert. 20 bis 30 Mann an einem Stamm. Wie Tausendfüßler bewegten sich die Kolonnen durch Schlamm und Schmodder. Links, zwei, drei, vier. Mit gebeugtem Rücken, unter der wuchtenden Last ächzend, links, zwei, drei, vier. Wer bei der Arbeit auffiel, wurde am Abend dafür bestraft. Wenn er »Glück« hatte, ging er über den »Bock« und bekam seine 25 Stockhiebe auf das nackte Gesäß. Die Peitschenschläge zerrissen zwar das Fleisch, dass man weder sitzen noch liegen konnte, aber man hatte es hinter sich. Was machten die Wunden schon aus, man hatte derer ohnehin schon genug. Meist aber hingen die Opfer am Baum. Das war das Schlimmste. Die Hände wurden auf den Rücken gefesselt, die Arme nach hinten hochgezogen, und so wurde der Unglückliche an den Baum gehängt. Stundenlang. Wenn er abgeschnitten wurde, fiel er wie ein Sack zu Boden und blieb regungslos liegen, bis ihn die Fußtritte oder Knüppelschläge des Blockführers wieder auf die Beine brachten. Dann taumelte er mit abgestorbenen, hängenden Armen nach seiner Baracke. Viele standen nicht wieder auf, ihnen waren die Lungen zerrissen.

So war unser Arbeitstag. So schleppten wir uns bis zur Trunkenheit müde und erschöpft ins Lager, unsere Toten und Verwundeten mit uns tragend. Dumpf und stumpf standen wir dann zwei und drei Stunden, in Nebel und Regen, bis endlich der Zählappell zu Ende war. Das Kommando »Abrücken« war Erlösung. Dann sind wir durch den glitschenden, schmatzenden Schlamm in unsere Blocks gewatet und getorkelt. Vor Kälte, Nässe und Hunger zitternd. Mann an Mann saßen wir an unseren Tischen. Die Klamotten dampften in der Wärme des Blocks ihre Nässe aus. Gierig schlang ein jeder seinen Schlag Suppe hinunter, um etwas Heißes in den durchnässten und durchfrorenen Körper zu bekommen. Wer von den alten Buchenwaldern weiß noch, wie das war: Oben begann man langsam aufzutauen, aber die Füße blieben eisigkalt vor Nässe. Darum ging man schnell zu Bett; denn die Nacht war kurz …

Bleiern war der Schlaf, aus dem man fast nicht mehr erwachen mochte. Auf einmal zerriss die Trillerpfeife des Blockältesten die Stille des Schlafsaales: »Aufstehen! Fertigmachen zum Appell!«

Der Block rumorte auf. Schlafverstört kroch man aus den Betten. Im trüben Licht der Nachtbeleuchtung tappte man nach seinen Klamotten. Hinein in die nassen und steifen Lumpen. Der bettwarme Körper begann wieder zu zittern. Nur mit Mühe konnte man die nassen Schuhe anziehen. Dann marschierten wir in nebelverhangener Nacht durch Schlamm und Schlick zum Appellplatz. Grell peitschten die Scheinwerfer des Tores ihr unbarmherziges Licht in die Augen. Sie schrien uns ins Gesicht, diese verfluchten Scheinwerfer. Müde und in der Nachtkälte zitternd, drängten wir uns auf dem Appellplatz zusammen, Block um Block. Und wenn das gesamte Lager aufmarschiert war, kam der Befehl: »Abrücken«. Stumpfsinnig ging es zurück. Man torkelte wieder in seine Baracken. Wie schwer war es, in der Übermüdung, die nassen Sachen vom Leibe zu bekommen. Während des Auskleidens schlief man bereits, und schlafend kroch man zurück in das kaltgewordene Bett. Wie lange hatte man geschlafen? Eine Stunde oder zehn? Man wusste es nicht, wenn man aufschreckte, weil wieder die Trillerpfeife schrillte: »Aufstehen! Tempo, Tempo! Appell!« Da fluchte man, oder manche lachten auch in verzweiflungsvoller Resignation. Also noch einmal hinaus. Jetzt regnete es sogar. Ja, es regnete und rauschte. Und das Wasser verwandelte das Lager in einen braunen See. Wieder kroch man in die kalten Klamotten. Wieder quälte man sich in die nassen und steifen Schuhe hinein. Durch reißende Wasserbäche watete man und kam nass bis auf die Haut auf dem Appellplatz an. Es war verboten, sich gegen den Regen durch eine Decke oder einen papiernen Zementsack zu schützen. Was hätte es uns auch genutzt?

Die Decken brauchten wir ja zum Schlafen. Zum Schlafen? Es musste wohl bald Morgen sein? Vielleicht lohnte es sich gar nicht mehr, wieder zu Bett zu gehen. Wer weiß, wie lange man stehen musste. Aber das Kommando zum Abrücken kam bald. Zum Auswringen nass waren die Sachen. Nass das Hemd, nass die zerrissenen Strümpfe. Schlafen, nur schlafen! Das Bett war noch ein wenig warm, und die Poren der nassen und durchkälteten Haut sogen die Wärme gierig auf. So schlief man wieder ein. Schlief, schlief, bis man plötzlich aufschreckte: War es im Traum geschehen, dass die Pfeife geschrillt hatte? Man sah um sich. Da und dort fuhren sie auf und lauschten, aber die Pfeife grellte zum zweiten Male durch den Schlafsaal: »Raus aus den Betten!« Noch einmal Appell! Verflucht, verflucht! Welch eine Nacht! Zum dritten Mal in die nassen Kleider. Zum dritten Mal hinaus in die Nacht in Nebel und Regen und Kälte … Hatte es wenigstens mit regnen aufgehört? Es rauschte nicht mehr. Nein! Ein Sprühregen empfing uns, wie aus einem Gebläse getrieben, und durchschauerte die stumpfen Glieder. Noch einmal zum Appellplatz hinauf. Noch einmal in das schreiende Licht der Scheinwerfer hinein. Noch einmal stehen im Schlamm und Regen. Noch einmal zurück in die Blocks und in die Betten. Und wenn dann der Rest des Schlafes hinweggepfiffen wurde, zum vierten Mal in dieser Nacht, dann war es Morgen. Ein Morgen noch mitten in der Nacht. Doch die Nacht war nun vorbei.

Eine Nacht ohne Schlaf. Der Tag begann. Hinein in den grauenden Morgen. Müd und zerschlagen. Fröstelnd und hungrig drängten wir uns auf dem Appellplatz zusammen. Wir wurden gezählt. Die Blockführer schimpften und fluchten. Die waren munter. Und wenn dann der Ruf ertönte: »Arbeitskommandos antreten!«, dann ging es wieder in einen grauen, hoffnungslosen Tag hinein, und keiner von uns wusste, ob er lebend an diesem Tag zurückkehren würde.