Die Bäume auf dem Gipfel des Ettersberges troffen vor Nässe und ragten reglos in das Schweigen hinein, das den Berg umhüllte und ihn absonderte von der Landschaft ringsum. Laub, vom Winter ausgelaugt und verbraucht, moderte nass glänzend am Boden.
Hier kam der Frühling nur zögernd herauf.
Schilder, zwischen den Bäumen aufgestellt, schienen ihn zu warnen.
»Kommandanturbereich des Konzentrationslagers Buchenwald. Achtung, Lebensgefahr! Beim Weitergehen wird ohne Anruf scharf geschossen.« Darunter ein Totenkopf und zwei sich kreuzende Knochen als Signum.
Der ewige Nebelregen klebte auch an den Mänteln der fünfzig SS-Leute, die an diesem Spätnachmittag des März 1945 auf der betonierten Plattform standen, die von einem Regendach geschützt wurde. Diese Plattform, Bahnhof Buchenwald genannt, war das Ende des Eisenbahngleises, das von Weimar nach dem Gipfel des Berges führte. In der Nähe befand sich das Lager.
Auf seinem weitgestreckten, nach Norden hin abfallenden Appellplatz waren die Häftlinge zum Abendappell angetreten. Block neben Block, Deutsche, Russen, Polen, Franzosen, Juden, Holländer, Österreicher, Tschechen, Bibelforscher, Kriminelle …, eine unübersehbare Masse, zu einem exakt ausgerichteten Riesenquadrat zusammenkommandiert.
Heute gab es unter den angetretenen Häftlingen ein heimliches Geflüster. Irgendwer hatte die Nachricht mit ins Lager gebracht, die Amerikaner hätten bei Remagen den Rhein überschritten …
»Weißt du es schon?«, wurde Herbert Bochow von Runki, dem Blockältesten, gefragt, neben dem er im ersten Glied des Blocks 38 stand. Bochow nickte. »Sie sollen einen Brückenkopf gebildet haben.«
Schüpp, im zweiten Glied hinter den beiden stehend, mischte sich in das Geflüster: »Remagen? – Ist noch weit weg.« Er bekam keine Antwort. Nachdenklich blinzelte er in Bochows Nacken hinein. Auf dem stets treuherzig-erstaunten Gesicht des Lagerelektrikers Schüpp mit dem runden Mund und den kugligen Augen hinter runder, schwarz gefasster Brille lag das Erregende der Neuigkeit. Auch andere Häftlinge im Block flüsterten miteinander, und Runki brach das Getuschel mit einem gezischelten »Achtsehn« ab. Die Blockführer, SS-Leute der unteren Dienstgrade, kamen von oben herab und verteilten sich auf die einzelnen der angetretenen Blocks, die ihnen unterstanden. Das Geflüster erstarb, und die Erregung verkroch sich hinter den starren Gesichtern.
Remagen!
Es war tatsächlich noch weit weg von Thüringen.
Immerhin. Die Front im Westen war durch die entscheidende Winteroffensive der Roten Armee, die über Polen hinweg nach Deutschland eingedrungen war, in Bewegung geraten.
Nichts drückte in den Gesichtern der Häftlinge aus, wie sehr die Nachricht sie bewegte.
Schweigend standen sie auf Vordermann und Seitenrichtung, und ihre Blicke folgten {heimlich} den Blockführern, die die Blocks abgingen und die Häftlinge zählten. Gleichmütig wie an jedem Tag. – Oben am Tor gab Krämer, der Lagerälteste, die Liste mit dem Gesamtbestand des Lagers beim Rapportführer ab und stellte sich, wie es Vorschrift war, gesondert vor dem Riesenquadrat auf. Auch auf seinem Gesicht lag die Undurchdringlichkeit, obwohl seine Gedanken die gleichen waren wie die der Zehntausenden hinter ihm.
Längst schon hatten die einzelnen Blockführer ihre Meldungen bei Reineboth, dem Rapportführer, abgegeben und sich in losen Reihen am Tor aufgestellt. Es dauerte trotzdem noch eine Stunde, bis die Zahlen stimmten. Endlich trat Reineboth ans Stativmikrophon.
»Fertig – stillgestanden!«
Das Riesenquadrat erstarrte.
»Mützen – ab!«
Auf einen Schlag rissen die Häftlinge die speckigen Mützen vom Kopf. Am schmiedeeisernen Tor stand Kluttig, der zweite Lagerführer, und ließ sich von Reineboth den Rapport machen.
Lässig hob er den rechten Arm. –
Seit Jahren war das so.
In Schüpps Gehirn hatte die Neuigkeit inzwischen keine Ruhe gelassen. Er konnte den Mund nicht halten und quetschte aus dem Mundwinkel heraus in Bochows Genick: »Denen da oben wird der Arsch bald mit Grundeis gehen …«
Bochow versteckte sein Lächeln in der faltigen Haut des unbeweglichen Gesichts. –
Reineboth trat wieder zum Mikrophon.
»Mützen – auf!«
Ein Ruck! Die Speckdeckel flogen auf den Kopf zurück, wie sie im Schwung zu liegen kamen, schief nach vorn, nach hinten, nach der Seite – und die Häftlinge sahen lustigen Brüdern ähnlich. Weil militärische Exaktheit hier zur Komik ausartete, hatte sich Reineboth angewöhnt, durchs Mikrophon zu rufen:
»Korrigieren!«
Zehntausende nestelten an den Mützen herum.
»Aus!«
Ein einziger Schlag der Hände an die Hosennaht. Jetzt mussten die Mützen korrekt sitzen. Stramm stand das Quadrat. –
Von der SS wurde dem Lager gegenüber der Krieg geflissentlich ignoriert. Hier ging es weiter Tag für Tag, als ob nichts die Zeit bewegte. Doch unter dem automatischen Abrollen des Tageslaufs floss der Strom. Vor einigen Tagen erst waren Kolberg und Graudenz »… im heldenhaften Kampf der Übermacht des Feindes erlegen …«
Die Rote Armee!
»Rheinübergang bei Remagen …«
Die Alliierten!
Die Zange griff zu!
Reineboth hatte noch eine Meldung.
»Die Häftlinge der Bekleidungskammer zur Bekleidungskammer. Die Blockfriseure zum Bad!«
Nichts Neues war dieser Befehl fürs Lager. Es kam nur wieder, wie seit Monaten oft, ein neuer Transport an. Im Osten waren die Konzentrationslager geräumt worden. Auschwitz, Lublin …
Buchenwald, obwohl schon zum Bersten voll, musste aufnehmen, so viel es konnte. Wie die Säule im Fieberthermometer stieg die Zahl der fast täglich neu Ankommenden. Wohin mit den Menschen? Um die Massen der Zugänge unterzubringen, mussten im abseitigen Gelände innerhalb des Lagers Notbaracken errichtet werden. In ehemalige Pferdeställe wurden sie zu Tausenden hineingetrieben. Ein doppelter Stacheldrahtzaun um die Ställe, und fortan hieß, was hier entstanden war, das »Kleine Lager«.
Ein Lager im Lager, abgesondert und mit eigenen Lebensgesetzen. Menschen aus allen europäischen Nationen hausten hier, von denen niemand wusste, wo einstmals ihr Zuhause gewesen war, deren Gedanken niemand erriet und die eine Sprache sprachen, die keiner verstand. Menschen ohne Namen und Angesicht. {Für das »Kleine Lager« hatte die SS-Lagerführung alle Übersicht verloren.}
Von denen, die aus den fremden Lagern kamen, war die Hälfte bereits auf dem Marsch gestorben oder von der begleitenden SS zusammengeknallt worden. Auf den Straßen blieben dann die Leichen liegen. Die Transportlisten stimmten nicht mehr, die aufgeführten Häftlingsnummern gerieten durcheinander. Welche gehörte einem Lebenden, welche zu einem Toten? Wer wusste noch Namen und Herkunft dieser Menschen? –
»Abrücken!«
Reineboth stellte das Mikrophon ab. Das Riesenquadrat wurde lebendig. Die Blockältesten kommandierten. Block nach Block schwenkte ein. Das riesige Menschengebilde zerfloss und strömte den Appellplatz hinunter, den Baracken zu. Oben verschwanden die Blockführer durchs Tor. –
Auf dem Bahnhof rollte zur gleichen Zeit der Güterzug mit dem Transport ein. Noch ehe er richtig zum Halten kam, liefen etliche SS-Leute, die Karabiner von den Schultern reißend, den Zug entlang. Sie zerrten die Verriegelungen auf und stießen die Wagentüren auseinander.
»’raus, ihr Mistsäue! ’raus hier! ’raus!«
Mann an Mann gedrängt, standen die Häftlinge in der stinkenden Enge der Wagen, und der plötzlich einströmende Sauerstoff machte die Menschen taumeln. Unter dem Geschrei der SS quetschten sie sich durch die Öffnungen, einer über den anderen stürzend und kollernd. Die übrige SS-Mannschaft trieb sie zu einem wirren Haufen zusammen. Wie aufbrechende Geschwüre gaben die Wagen ihren Inhalt von sich.
Als einer der Letzten sprang der polnische Jude Zacharias Jankowski vom Wagen. Von einem SS-Mann erhielt er mit dem Gewehrkolben einen Schlag auf die Hand, als er seinen Koffer nachzerren wollte.
Jankowski gelang es, den Koffer aufzufangen, den der SS-Mann ihm wütend nachschleuderte.
»Hast wohl deine ergaunerten Diamanten drin, du Schwein?«
Jankowski zerrte den Koffer mit sich in den schützenden Menschenhaufen hinein.
Die SS-Leute kletterten in die Waggons und kehrten den Rest mit den Kolben aus. Kranke und Erschöpfte schmissen sie wie Säcke herunter. Zurück blieben die Toten, die während der langen Fahrt in einer mühsam frei gehaltenen Ecke abgelegt worden waren. Eine der Leichen lag halb aufgerichtet und grinste {den SS-Mann an}.
Wohl in jedem Block klebten Landkarten an der Wand oder am Pult des Blockältesten, der in der Regel ein erfahrener, langjähriger Häftling war. Man hatte diese aus Zeitungen herausgeschnitten, damals, als die faschistischen Heerhaufen über Minsk, Smolensk, Wjasma auf Moskau marschierten und später über Odessa, Rostow auf Stalingrad zu.
Die Blockführer, {meist} üble, prügelsüchtige SS-Leute, hatten das Anbringen der Karten geduldet und manchmal sogar eitel auf die Städte Russlands getippt, wenn sie guter Laune waren und die Siegesfanfaren schmetterten.
»Na, wo ist denn eure Rote Armee?«
Das war lange her.
Jetzt übersahen sie geflissentlich die Karten. Sie sahen auch nicht die Striche, die die Häftlinge darauf gezogen hatten. Dicke und dünne, blaue, rote und schwarze Striche.
Von tausend Fingern tausendmal abgegriffen, waren auf dem dünnen Zeitungspapier die Namen der ehemaligen Kampforte zu schwarzen Dreckflecken geworden. Gomel, Kiew, Charkow …
Wen interessierte das noch?
Jetzt ging es um Küstrin, Stettin, Graudenz, um Düsseldorf und Köln.
Aber auch diese Namen bestanden zum größten Teil schon aus aufgerauten Flecken. Wie oft war hier geschrieben, gestrichen, radiert und wieder geschrieben worden, bis das Zeitungspapier nichts mehr hergab.
Tausend mal tausend Finger waren an diesen Fronten entlanggestrichen, hatten sie verwischt und – ausgelöscht. Unaufhaltsam nahte das Ende!
Auch jetzt wieder, nachdem sich die tagsüber stillen Blocks mit dem Lärm der einströmenden Häftlinge gefüllt hatten, hingen Trauben von ihnen an den Karten.
Auf Block 38 zwängte sich Schüpp durch die Gruppe, die an Runkis Pult eine Karte studierte.
»Remagen. – Hier liegt es, zwischen Koblenz und Bonn.«
»Wie viel Kilometer sind das noch bis Weimar?«, fragte einer.
Schüpp machte ein erstauntes Gesicht, blinzelte, lief einem Gedanken nach. »Wenn die erst mal ’rankommen …«
Die Finger tasteten den künftigen Weg ab: Eisenach, Langensalza, Gotha, Erfurt …
Schüpps Gedanke hatte haltgemacht. »Wenn sie in Erfurt sind, dann sind sie auch in Buchenwald.«
Wann? In Tagen? In Wochen? In Monaten?
»Erst mal abwarten. Ich sehe schwarz für uns. Denkste, dass die da oben uns den Amerikanern überlassen! Die legen uns alle schon vorher um.«
»Mach dir nur nicht schon jetzt die Hosen voll«, verwies Schüpp den Skeptiker. Nervös fuhr der Stubendienst zwischen die Gruppe: »Möchtet ihr nicht gefälligst eure Fressschüsseln holen?«
Die Holzschuhe klapperten, die Schüsseln schepperten. Die SS hatte aus dem Haufen einen Marschzug formiert, der sich – eskortiert von der wilden Horde – nach dem Lager hin in Bewegung setzte, schwankend und taumelig.
Jankowski war es gelungen, in die Mitte eines Marschgliedes zu huschen, und entging so den Schlägen der dreinhauenden SS. Keiner im Zug kümmerte sich um seinen Nebenmann. Jeder war mit seiner eigenen Sorge vor dem Ungewissen angefüllt, das sie erwartete. Die Kranken und Erschöpften wurden aus der Gewohnheit eines tierisch gewordenen Erhaltungstriebes mitgeschleppt. So torkelte der Zug die Zugangsstraße entlang und durch das Tor ins Lager hinein.
Die vom Schlag betäubte Hand hing Jankowski am Gelenk wie etwas Fremdes und Feindliches, sie schmerzte entsetzlich. Die Aufmerksamkeit aber, die er seinem Koffer zuwenden musste, ließ Jankowski den Schmerz kaum spüren. Es galt, den Koffer auf jeden Fall sicher durch das Tor des neuen Lagers zu bringen.
Jankowski spähte mit flinken Augen um sich. Im Gedränge ließ er sich durch das enge Tor schieben. Seine Erfahrung half ihm, sich so geschickt zu verbergen, dass er, ohne die Aufmerksamkeit der SS auf sich zu lenken, mit dem Haufen unangefochten ins Lager strudelte.
Es war ein Wunder gewesen, dass er den Koffer überhaupt bis hierher gebracht hatte. Jankowski wies zitternd alle Gedanken ab, um das Wunder nicht zu verscheuchen. Nur an eines glaubte er mit heißer Inbrunst: Der barmherzige Gott wollte es sicher nicht zulassen, dass der Koffer in die Hände der SS geriet.
Auf dem Appellplatz ordnete sich der Haufen wieder.
Den letzten Rest der Kraft verbrauchte Jankowski, um mit einigermaßen sicheren Schritten im Zug zu marschieren, der jetzt ins Lager hineingeführt wurde. Nur nicht taumeln und torkeln, das fiel auf. Es sang und brauste Jankowski in den Schläfen, aber er hielt durch, und mit Erleichterung sah er, dass es Häftlinge waren, die den Zug begleiteten.
Auf dem freien Platz zwischen hohen Steingebäuden saßen bereits die Blockfriseure auf mitgebrachten Schemeln in langer Reihe, als der Zug anlangte. Hier gab es noch ein großes Gewirr. Die Neuangekommenen mussten sich entkleiden, um ins Bad zu gehen. Das ging nicht so einfach vor sich, denn ein Scharführer schrie und tobte unter den Zugängen und wirbelte sie durcheinander wie Hühner.
Als endlich Ruhe eingetreten und der Scharführer im Bad verschwunden war, sank Jankowski erschöpft auf den steinigen Boden nieder. Der stechende Schmerz in der Hand war zu einem stumpfen Pulsen abgeklungen. Mit hängendem Kopf saß Jankowski eine ganze Weile und schreckte auf, als er heftig gerüttelt wurde. Einer von den Häftlingen, die den Zug begleitet hatten, stand vor ihm, es war ein Angehöriger des Lagerschutzes. Er sprach polnisch: »Du, nicht schlafen.«
Jankowski erhob sich unsicher.
Die meisten waren schon nackt. Jämmerliche Gestalten, die im kalten Sprühregen zitternd vor den Friseuren standen, hatten sich aus den zerschlissenen Lumpen herausgeschält. Mit Handmaschinen wurden ihnen alle Körperhaare abgeschoren.
Jankowski versuchte, mit der gesunden Hand die dürftige Kleidung abzustreifen. Der Pole vom Lagerschutz half ihm dabei.
Zwei Häftlinge gingen indessen umher und stöberten in den abgelegten Sachen herum, um gelegentlich einen Sack oder ein verschnürtes Bündel prüfend aufzunehmen. Jankowski erschrak.
»Was suchen die da?«
Der Lagerschutzler drehte sich nach den beiden um und lachte gutmütig.
»Das sind Höfel und Pippig von der Effektenkammer.«
Er machte eine beruhigende Geste zum Koffer.
»Hier klaut dir keiner was. Nun geh schon, Bruder, und lass dich scheren.«
Jankowski balancierte auf nackten Füßen über den spitzen Schotter zu den Friseuren.
Vor dem Eingang des Bades verursachte der Scharführer wieder Gedränge und Geschrei und trieb die Zugänge in einen großen Holzbottich.
Fünf, sechs Mann zugleich. Sie mussten in eine vom langen Gebrauch stinkend gewordene Desinfektionslauge tauchen.
»’runter mit die Köppe, ihr Stinktiere!«
Mit einem dicken Knüppel fegte er über die kahlgeschorenen Köpfe hinweg, die schleunigst in der Jauche verschwanden.
»Der ist wieder mal besoffen«, raunte der kleine, ein wenig krummbeinige Pippig, ehemals Schriftsetzer aus Dresden.
Höfel beachtete die Bemerkung nicht. Er stieß gegen Jankowskis Koffer:
»Möchte wissen, was die alles mitgeschleppt haben …«
Als sich Pippig nach dem Koffer bückte, stolperte Jankowski herbei. Angst flatterte in seinem Gesicht. Er {stieß Pippig beiseite und} sprudelte auf die beiden ein. Sie verstanden den Polen nicht.
»Wer bist du?«, fragte Höfel. »Name, Name.«
Das schien der Pole zu verstehen.
»Jankowski, Zacharias, Warschawa.«
»Ist das dein Koffer?«
»Tak, tak.«
»Was hast du da drin?«
Jankowski redete, gestikulierte und hielt die Hände schützend über den Koffer.
Der Scharführer stürzte aus dem Bad und trieb mit Flüchen die Menschen vor sich her. Um Aufsehen zu vermeiden, schob Höfel den Polen in die Reihe der Nackten zurück. Jankowski fiel dem Scharführer gerade in die Hände hinein, der packte ihn am Arm und schlenkerte ihn ins Bad. So musste Jankowski in den Bottich steigen und wurde dann von den sich ängstlich Drängenden in den Baderaum gedrückt.
Die feuchte Wärme wirkte wohltuend auf seinen durchfrosteten Körper, und unter der Brause wurde Jankowski angenehm willenlos. Spannung und Angst lösten sich auf, und seine Haut saugte gierig die Wärme in sich ein.
Pippig kauerte sich neugierig nieder und öffnete den Koffer.
Sofort aber schlug er den Deckel zu und blickte bestürzt zu Höfel auf.
»Was ist?«
Pippig öffnete den Koffer wieder, aber nur so weit, dass Höfel, der sich gebückt hatte, eben noch hineinsehen konnte.
»Mensch, mach zu!«, zischte der, schnellte aus der gebückten Haltung hoch und sah sich ängstlich nach dem Scharführer um. Der war im Bad.
»Wenn die das spitzkriegen …«, flüsterte Pippig.
Höfel machte ungeduldige Handbewegungen.
»Weg damit! Verstecken! Schnell!«
Wie ein Dieb schielte Pippig nach dem Bad, und als er sicher war, nicht beobachtet zu werden, lief er mit dem Koffer eilig nach dem Steingebäude und verschwand.
Im Baderaum ging Leonid Bogorski zwischen den Brausen hin und her und musterte die Zugänge. Er war nur mit einer dünnen Drillichhose bekleidet, und an den Füßen trug er Holzpantinen. Sein athletischer Oberkörper glänzte vom Wasser. Der Russe, Kapo oder Vorarbeiter des Badekommandos, hielt sich bei Zugängen am liebsten im Hintergrund auf, hier wurde er vom Scharführer nicht gestört, der hatte am Bottich sein Vergnügen.
Unter dem warmen Rauschen des Wassers kamen die verstörten Menschen zum ersten Male seit ihrem Eingang ins Lager zur Ruhe. Als ob das Wasser alle Unrast, alle Angst und überstandene Schrecknisse von ihnen abgespült hätte. Diese immer wieder aufs Neue sich einstellende Verwandlung kannte Bogorski. Er war noch jung, kaum 35 Jahre. Fliegeroffizier. Doch das wussten die Faschisten des Lagers nicht. Für sie war er ein russischer Kriegsgefangener, der, wie die vielen anderen auch, aus einem Feldlager nach Buchenwald gebracht worden war. Bogorski tat alles, um seine Anonymität zu sichern. Er gehörte dem Internationalen Lagerkomitee an, dem ILK, einem streng geheimen Komitee im Lager, von dessen Vorhandensein außer den wenigen Eingeweihten kein Häftling, geschweige die SS wusste.
Bogorski ging still zwischen den Brausen hin und her. Sein Lächeln genügte bereits, um den Neulingen ein kleines Gefühl der Sicherheit zu geben. Vor Jankowski blieb er stehen und betrachtete sich den schmächtigen Mann, der sich mit geschlossenen Augen der Wohltat des warmen Regens hingab.
Wo mag dieser jetzt wohl sein?, dachte Bogorski, lächelte still, dann fragte er in perfektem Polnisch:
»Wie lange wart ihr unterwegs?«
Jankowski, aus einem fernen, fremden Traum gerissen, öffnete erschrocken die Augen.
»Drei Wochen«, antwortete er und lächelte zurück. Obwohl er erfahrungsgemäß wusste, dass Schweigen der beste Schutz war, noch dazu in einer neuen, noch unbekannten Umgebung, hatte Jankowski plötzlich das Bedürfnis, sich mitzuteilen.
Hastig {flüsternd}, mit unruhig schweifenden Blicken, erzählte er vom Marsch nach Buchenwald. Er berichtete von den Schrecken der Evakuierung {, berichtete, wie sie von der SS aus dem Lager Auschwitz gehetzt worden waren, und schilderte die Bluthunde und niedersausenden Gewehrkolben}. Wochenlang waren sie auf den Landstraßen dahingewankt, hungrig und schwach, ohne Ruhe und ohne Pause. – Des Nachts hatte man sie auf Feldern zu einem Haufen zusammengetrieben, und sie waren erschöpft auf steinhart gefrorenen Sturzäckern in den Schnee gesunken, eng aneinandergerückt, um sich gegen den grausamen Nachtfrost zu schützen. Wie viele waren am anderen Morgen nicht wieder zum Weitermarsch angetreten! Abteilungen der Begleit-SS gingen dann über die Äcker und knallten ab, was noch am Leben war. Bauern fanden die Leichen und vergruben sie auf den Feldern. Wie viele waren unterwegs in die Knie gebrochen. Wie oft knallten dann die Karabiner. Und jedes Mal, wenn die Fangschüsse peitschten, wurde der Zug im Laufschritt vorwärtsgejagt.
»Lauft, ihr Schweine! Lauft, lauft!«
Als Jankowski schwieg, weil nichts mehr zu berichten war, fragte Bogorski: »Wie viel sind von Auschwitz abmarschiert?«
Jankowski antwortete leise: »Es waren dreitausend …«
Über sein Gesicht zuckte ein ergebenes Lächeln. Er wollte noch mehr sagen. Es drängte ihn, irgendjemandem in diesem fremden Lager das Geheimnis seines Koffers anzuvertrauen, aber [das Pfeifensignal des Scharführers schrillte, die Brausen versiegten, und der Scharführer trieb die Menschen durcheinander. –
Ein alter, wohl an die 60 Jahre zählender SS-Mann kam um die Ecke der Effektenkammer auf die Zugänge zu. Erschrocken flüsterten einige vom Lagerschutz: »Achtsehn! Papa Berthold kommt.« Sie verdrückten sich schleunigst vor dem Alten, der in wulstigen, von übermäßigen Frostballen der Füße stark deformierten Knobelbechern daherstapfte. In dem bräunlichen, vom Alter schlaff gewordenen Faltengesicht saßen zwei kleine lustige Augen nah beieinander, und über der vorgerutschten Unterlippe hing eine kurze Tabakspfeife.
Zuerst griff sich Berthold zwei Mann vom Lagerschutz, die sich vor ihm nicht schnell genug hatten in Sicherheit bringen können, und schickte sie mit einer Handbewegung nach der gegenüberliegenden Mauer ans Wäschereigebäude. – Er grinste nur freundlich, als er das Widerstreben der Lagerschutzler bemerkte. Dann ging er durch den Haufen der Zugänge. Wie ein Lumpensammler las er alle vor Erschöpfung Zusammengebrochenen auf und ließ sie von anderen Lagerschutzlern zur Mauer tragen. Besonders krank erscheinende und alte Zugänge schickte er freundlich zu den Übrigen an der Mauer. Der Scharführer des Bades, der herauskam und Berthold gewahrte, rief ihm zu: »Du machst wohl wieder Luft, Wilhelm?«
Berthold grinste und hielt die Pfeife mit den Zähnen fest. Als er genug beisammenhatte, mussten die Lagerschutzler aus den Abgesonderten einen Zug bilden, die Erschöpften wurden aufgenommen, und Berthold zählte gewissenhaft durch.
»Genau 32«, nickte er den Lagerschutzlern vertraulich zu und ließ, vorangehend, abmarschieren. Die Lagerschutzler mussten folgen. Sie wagten es nicht, sich anzusehen, denn sie wussten, wozu sie jetzt missbraucht wurden. –]
Jankowski torkelte in die nasse Kälte hinaus.
Der Koffer war verschwunden!
Höfel, der auf den Polen gewartet hatte, drückte ihm schnell die Hand auf den Mund und raunte:
»Schnauze! Es ist alles in Ordnung.«
Jankowski begriff, dass er sich ruhig zu verhalten habe, er starrte den Deutschen an. Dieser drängte: »Nimm deine Klamotten und hau ab.«
Höfel warf Jankowski die Sachen über den Arm und schob ihn ungeduldig in die Reihe derer, die nach dem Baden zur Bekleidungskammer gehen mussten, um ihre schmutzigen gegen gereinigte Kleidungsstücke einzutauschen.
Jankowski redete auf den Deutschen ein. Obwohl Höfel den Polen nicht verstand, hörte er die Angst aus dessen Gesprudel, er klopfte ihm beruhigend den Buckel:
»Jajaja, es ist schon gut. Geh nur, geh.«
In den Schub hineingedrängt, musste Jankowski mit zur Bekleidungskammer.
»Nix Böses? Gar nix Böses?«
Höfel winkte ihn fort.
»Nix Böses, gar nix Böses …«
[Im Block 61 des Kleinen Lagers, der Seuchenbaracke, lagen Hunderte von Sterbenden. Alles, was im Kleinen Lager von Ruhr, Typhus, Fleckfieber oder von einer anderen Todeskrankheit befallen war, wurde nach der Seuchenbaracke abgesondert. Ein guter, stiller und frommer Mensch, der Pole Joseph Zidkowski, war hier Blockältester. Einige andere polnische Häftlinge versahen die Pflegerdienste. Doch konnten sie nichts weiter tun, als zu warten, bis diese hier starben, um dann die Toten hinter der Baracke abzulegen, die während des Abendappells gewöhnlich von einem Lastauto abgeholt und nach dem Krematorium gebracht wurden.
Jetzt war noch kein Appell, doch der LKW stand schon hinter der Seuchenbaracke mit heruntergeklappten Seitenwänden, und ein Dutzend nackter Leichen lagen bereits auf ihm.
Papa Berthold war bei der Arbeit. –
Von den 32 Ausgesonderten warteten keine 20 mehr vor der verschlossenen Tür. Nackend und zitternd, in sich verkrümmt und ängstlich.
Berthold befand sich in einem separaten, kleinen Raum. Ein kleiner Tisch mit einer großen, braunen Medizinflasche darauf und ein Hocker waren die Einrichtung. Berthold, im weißen Arztkittel, stand vor dem Hocker mit einer Injektionsspritze in der Hand, und vor ihm lag eine nackte Leiche. –
Berthold ging zur Tür der Hinterwand und klopfte mit der Stiefelspitze dagegen. Zwei polnische Pfleger kamen herein, hoben still den Toten auf und trugen ihn hinaus. Berthold schloss hinter ihnen die Tür, ging zum vorderen Eingang, klopfte ebenfalls mit der Stiefelspitze dagegen und setzte sich wartend auf den Hocker. Draußen gaben die Lagerschutzler dem nächsten der Nackten ein stummes Zeichen, hineinzugehen. Der Neuling blickte sie fragend an, und sie nickten ihm zu mit einem verkrampften Lächeln. –
Auch Papa Berthold lächelte, als der Ahnungslose den Raum betrat. Er bedeutete ihm, seine Sachen auf den Kleiderhaufen zu werfen, der in der Ecke lag, und winkte pfeifenuckelnd und mit freundlichem Kopfnicken den Nackten zu sich heran. –
Wie waren doch die Arme so dünn und die Beine … seufzend wiegte Papa Berthold mit dem Kopf, tätschelte tröstend die Hand des Nackten, die er ergriffen hatte. Dann wies er schnalzend auf die braune Flasche und sah den Nackten mit verschmitztem Skatspielergesicht an.
»Dobsche«, sagte er und klopfte sich auf die Oberarmmuskeln, nickte dem Nackten verheißend zu und griff zur Spritze. Er stach schnell und geübt in die Schlagader der Ellenbeuge, füllte die Spritze sofort wieder und legte sie auf den Tisch.
Der Gestochene stand vor ihm, und Papa Berthold blaffte dünne Rauchfetzen aus der Stummelpfeife.
Plötzlich veränderte sich das Gesicht des Gestochenen. Sein Mund öffnete sich staunend und wurde zu einem schwarzen Loch, die Augen wurden angstvoll groß, und der Brustkorb krampfte sich hoch, als wollte der Gestochene tief Luft holen. Aber schon sackte er, die Arme hochwerfend, in die Knie, fiel um wie ein Kegel, und einer der schlenkernden Arme schlug Papa Berthold die Pfeife aus dem Mund. –
Sie war zum Glück nicht zerbrochen. –]
Wie ein glücklich beschenkter Junge war Pippig mit dem Koffer {die Treppen} zur Effektenkammer hinaufgeeilt.
Um die späte Nachmittagsstunde hielt sich kein Häftling des Kommandos mehr in dem langgestreckten Kleiderraum auf, in dem Tausende von Säcken mit den Zivilsachen hingen. Nur der ältere August Rose stand an der langen Quertafel und kramte in irgendwelchen Papieren.
Er blickte verwundert auf den hereinschleichenden Pippig.
»Was bringst du da angeschleppt?«
Mit einer schnellen Handbewegung vertuschte Pippig die Frage.
»Wo ist Zweiling?«
Rose wies mit dem Daumen nach dem Zimmer des Hauptscharführers.
»Pass auf«, sagte Pippig hastig und huschte flink nach hinten in den halbdunklen Kleiderraum hinein. Rose sah ihm nach und beobachtete dann den Hauptscharführer, den er hinter dem großen Glasfenster in seinem Zimmer sehen konnte.
Zweiling saß am Schreibtisch vor der aufgeschlagenen Zeitung, den Kopf in die Hände gestützt. Es sah aus, als ob er schliefe. Aber der hagere, langstelzige Mensch schlief nicht, sondern grübelte {beunruhigt über die neuesten Meldungen von der Front. Zweiling erwog vielerlei Möglichkeiten der Flucht. Je näher die Front kam, desto gefährlicher wurde es, der SS anzugehören. Am besten war es noch, sich in Zivil beiseitezudrücken. –
Und wenn die Amerikaner so plötzlich da sein werden, dass ich nicht mehr Zeit habe, aus dem Lager zu kommen? Dann war man mittendrin. Adé, Gotthold! –
Mit den Häftlingen beizeiten gemeinsame Sache machen? –
Wie wäre das? – Zweiling grübelte. Das ist nicht so einfach. Die Burschen sind misstrauisch, und wer garantiert, dass sie einen nicht doch noch umlegen? Abenteuerliche Gedanken schwammen Zweiling im Gehirn herum wie Brocken in der Suppe.
Kurz vorm Einschnappen müsste man den Kommandanten abschießen und Kluttig und Reineboth dazu und noch ein paar andere mit … Da wäre man bei den Amerikanern sogar noch als ein Antifaschist avisiert … In Zweiling kicherte es. Aber sehr schnell gewannen die zweifelnden Gedanken wieder die Oberhand. Verfluchte Situation. Wie schlängelte man sich am sichersten durch? –}
Pippig kam wieder nach vorn, machte zu Rose hin eine beschwichtigende Geste, öffnete geräuschvoll die Tür zum Schreibbüro, das neben Zweilings Zimmer lag, und rief überlaut:
»Marian, komm mit ’runter zum Dolmetschen!«
Zweiling schreckte hoch. Er sah den herausgerufenen Polen mit Pippig davongehen.
{»Was heckst du wieder aus?«, knurrte Rose unwillig, als er sah, wie Pippig den Polen am Arm festhielt, der ahnungslos die Effektenkammer verlassen wollte. Mit unterdrückter Stimme fuhr Pippig den grämlichen Rose an:
»Mache nur kein Drama, Mensch! Pass lieber auf Zweiling auf.«}
Dieser gab Kropinski ein schnelles Zeichen, und die beiden schlichen nach hinten. In der äußersten Ecke des Kleiderraums verschwanden sie hinter hohen Stapeln von Garderobesäcken und Bekleidungsstücken verstorbener Häftlinge. Hier stand der Koffer. –
Pippig, quecksilbrig und aufgeregt, witterte mit langgestrecktem Hals noch einmal um die Stapel herum, rieb sich die Hände und grinste Kropinski an, ausdrückend: Nun pass auf, was ich mitgebracht habe … Dann ließ er die Schlösser aufschnappen und hob den Kofferdeckel hoch. Breitspurig schob er die Hände in die Taschen und genoss die gelungene Überraschung. –
Im Koffer lag, in sich verkrümmt, die Händchen vors Gesicht gedrückt, ein in Lumpen gehülltes Kind. Ein Knabe, nicht älter als etwa drei Jahre.
Kropinski kauerte sich und starrte das Kind an. Es lag reglos. Pippig strich zärtlich über den kleinen Körper.
»’n Miezekätzchen. – Ist uns zugelaufen.«
Er wollte das Kind an der Schulter herumdrehen, aber es schien sich dagegenzustemmen. Endlich fand Kropinski ein Wort. »Armes Wurm«, sagte er auf Polnisch, »wo kommst du her?« Beim Klang der polnischen Laute steckte das Kind sein Köpfchen vor wie ein Insekt, das die Fühler eingezogen hatte. Eine kleine, erste Lebensäußerung, für die beiden so unerhört erregend, dass sie dem Kind gebannt in die Augen starrten. Das schmale Gesicht hatte bereits den Ernst eines wissenden Menschen, und auf den Augen lag ein Glanz, der kein Kinderglanz war. Das Kind sah die Männer in stummer Erwartung an. Sie wagten kaum zu atmen. –
Rose hatte die Neugier nicht mehr gehalten. Leise war er nach dem Winkel geschlichen und stand unvermittelt vor den beiden.
»Was soll denn das?«
Jäh erschrocken fuhr Pippig herum und zischte den staunenden Rose an:
»Bist du verrückt? Hierherzukommen! Mach dich nach vorn! Du willst uns wohl Zweiling auf den Hals hetzen?«
Rose winkte ab.
»Der döst.«
Er beugte sich neugierig über das Kind{:
»Was wollt ihr damit?«
Pippig drängte Rose von dem Koffer zurück, ihm drohend:
Rose} meckerte:
»Da hast du dir ein nettes Spielzeug angelacht.«
{Verlegen grinsend zog er sich aus der gefährlichen Zone zurück. –
»Ausgerechnet der läuft uns in die Quere«, zischte Pippig wütend, nachdem Rose verschwunden war.}
Vorn an der langen Tafel standen einige von den Zugängen, die irgendwelche Kleinigkeiten abzugeben hatten, einen Ehering etwa oder einen Schlüsselbund.
Häftlinge vom Kommando verwahrten die Habseligkeiten in Papierbeuteln, und Höfel, als Kapo, überwachte die Vorgänge.
Neben ihm stand Zweiling und sah zu. Sein ewig halboffener Mund gab dem ausdruckslosen Gesicht eine besondere Leere.
Der Ramsch interessierte ihn nicht, er verließ die Tafel. Höfels Blick folgte dem SS-Mann, dessen nachlässige Haltung der hageren Figur das Aussehen eines krummen Nagels gab. Zweiling stakte in sein Zimmer zurück.
Die Zugänge waren bald abgefertigt, und endlich hatte Höfel die Möglichkeit, sich nach dem Kind umzusehen. Rose, der wieder nach vorn gekommen war, hielt ihn zurück.
»Wenn du Pippig suchst …« Neugierlüstern wies er nach hinten. Höfel entgegnete kurz:
»Ich weiß Bescheid. Darüber wird nicht gequatscht, verstanden?« Rose tat entrüstet.
»Bin ich ein Zinker?«
Beleidigt blickte er Höfel an. Die anderen Häftlinge waren aufmerksam geworden und fragten, doch Rose antwortete nicht. Mit geheimnisvollem Lächeln ging er ins Schreibbüro.
Das Kind saß aufrecht im Koffer, und Kropinski, der vor ihm kniete, versuchte, es zum Sprechen zu bewegen.
»Wie du heißen? Du mir sagen. Wo ist Papa? Wo ist Mama? {Jak się nazywasz? Musisz mi to powiedzieą. Gdzie jest twói ojciec? Gdzie jest twoja mama?}«
Höfel war hinzugetreten. Pippig flüsterte ratlos:
»Was machen wir nun mit dem Ding? Wenn sie es erwischen, schlagen sie es tot.«
Höfel kniete sich nieder und sah dem Kind prüfend ins Gesicht.
»{Nie mówi.} Es nicht sprechen«, erklärte Kropinski verzweifelt.
Der fremde Mann schien das Kind zu beunruhigen, es zerrte an seiner zerlumpten Jacke, und sein Gesicht blieb seltsam starr, anscheinend wusste es nicht, was Weinen war.
Höfel hielt das nervöse Händchen fest.
»Wer bist du denn, du Kleines?«
Das Kind bewegte die Lippen und schluckte.
»Hunger hat es«, platzte Pippig erleuchtet heraus. »Ich hole ihm was.«
Höfel richtete sich auf und atmete tief. Die drei blickten sich ratlos an. Höfel schob sich unruhig die Mütze aus der Stirn.
»Ja … jaja … natürlich …«
Pippig fasste es als Bestätigung seiner Absicht auf und wollte forteilen. Aber die sinnlosen Worte waren nur Höfels Versuch gewesen, sich auszudrücken und die irrenden Gedanken zu ordnen. Was sollte aus dem Kind werden? Wohin mit ihm? Vorerst musste es wohl hierbleiben. Höfel hielt Pippig zurück und überlegte.
»Mache ihm ein Lager zurecht«, wies er Kropinski an.
»Nimm ein paar von den alten Mänteln, lege sie dort in die Ecke und …« Er stockte. Pippig sah ihn fragend an. In Höfels Gesicht zeichnete sich ein plötzliches Erschrecken ab.
»Wenn das Kind nun schreit …?«
Höfel presste die Hand an die Stirn. »Kleine Kinder fürchten sich, und dann schreien sie … Verflucht noch mal …!« Er starrte auf das Kind. Lange. »Vielleicht … vielleicht kann es gar nicht schreien …?« Er fasste das Kind an beiden Schultern und rüttelte es zart. »Du darfst nicht schreien, hörst du? Sonst kommt SS.« Plötzlich veränderte sich das Gesicht des Kindes schreckhaft. Der Knabe riss sich los, warf sich in den Koffer zurück und zog sich eng zusammen, das Gesicht in den Händen versteckend.
»Das weiß Bescheid«, stieß Pippig hervor.
Um seine Vermutung zu prüfen, klappte er den Deckel herunter. Sie horchten. Im Koffer blieb es still.
»Na klar«, wiederholte Pippig, »es weiß Bescheid.«
Er öffnete den Koffer wieder, das Kind hatte sich nicht bewegt. Kropinski hob es hoch, und es hing ihm wie ein zusammengekrümmtes Insekt zwischen den Händen. Fassungslos sahen die drei das sonderbare Wesen an{, und Pippig sagte langsam: »Menschenskind, was mag das kleine Ding schon alles hinter sich haben?«}.
Höfel nahm Kropinski das Kind ab und wendete es prüfend hin und her. Beine und Kopf eingezogen und die Händchen ans Gesicht gedrückt, erschien das Kind wie eben dem Mutterleib entrissen oder wie ein Käfer, der sich tot stellt. Erschüttert gab Höfel das Wesen an Kropinski zurück, der drückte es an sich und flüsterte ihm beruhigende polnische Worte zu.
»Das verhält sich bestimmt ruhig«, sagte Höfel dumpf. Er presste die Lippen aufeinander. Wieder blickten sich die drei Männer an. Einer erwartete vom andern eine Entscheidung in diesem ungewöhnlichen Fall. Höfel, in Sorge, dass ihr Fernbleiben von Zweiling bemerkt werden könnte, zog Pippig mit sich. »Komm, wir müssen nach vorn«, und zu Kropinski: »Bleib hier, bis wir abrücken.«
Kropinski legte das starre Bündel in den Koffer zurück, die Hände zitterten ihm, als er aus einigen Mänteln eine Liegestatt bereitete. Zart legte er das Kind darauf nieder, deckte es zu und zog ihm behutsam die Händchen vom Gesicht. Er merkte dabei das leise Widerstreben des Kindes, dessen Augen krampfhaft zugekniffen blieben.
Als Pippig ein wenig später mit etwas Kaffee und einem Stück Brot in den Winkel zurückgehuscht kam, war es Kropinski inzwischen gelungen, das Kind so weit zu beruhigen, dass es die Augen wieder geöffnet hatte. Kropinski setzte es aufrecht und reichte ihm die Aluminiumtasse. {Durstig trank das Kind.} Pippig hielt ihm ermunternd die Brotscheibe entgegen. Doch das Kind griff nicht zu.
»Angst hat es«, meinte Pippig und schob ihm das Brot zwischen die Händchen. »Iss«, nickte er freundlich.
»Musst nun essen und schlafen und {musst nicht} haben gar keine Angst«, flüsterte Kropinski. »Guter Bruder Pippig passen auf und ich auch, und ich werde dich mitnehmen zurück nach Polen.« Er zeigte lächelnd auf sich. »Da ist kleines Haus von mir.« Das Kind blickte ernst zu Kropinski hoch, gespannte Aufmerksamkeit im Gesicht. Ein wenig öffnete es den Mund. Unvermittelt und tierflink kroch es unter die Mäntel. Einige Augenblicke warteten die beiden{, aber das Kind kam nicht wieder zum Vorschein}. Vorsichtig hob Kropinski den Mantel hoch. Das Kind, auf der Seite liegend, kaute am Brot. Zart deckte es Kropinski wieder zu, und sie verließen den Winkel, dessen Eingang sie mit einem Sackstapel verstellten. Sie lauschten. Dahinter blieb es still.
Als sie nach vorn kamen, sammelten sich die Häftlinge des Kommandos bereits zur allabendlichen Kontrolle. Die Effektenkammer gehörte zu den »Kommandierten«, die längere Arbeitszeit hatten und darum am allgemeinen Lagerappell nicht teilnahmen. Sie wurden vom Kommandoführer, einer unteren SS-Charge, am Arbeitsplatz gezählt und dem Rapportführer gemeldet, der sie dem Gesamtbestand zurechnete. Soeben trat Zweiling aus seinem Zimmer, die beiden huschten noch schnell in die Reihe. Höfel spielte vor dem Hauptscharführer Theater, um das verspätete Kommen der beiden zu bemänteln, und knurrte ärgerlich: »Wollt wohl ’ne Extraeinladung haben?«
Er nahm vor Zweiling mit der Mütze in der Hand Haltung ein und meldete: »Kommando Effektenkammer, 20 Häftlinge zum Appell angetreten.« Darauf trat er zu den anderen ins Glied.
Zweiling stakte zählend die Reihen ab.
In Höfel war alles voll gespannter Aufmerksamkeit. Krampfhaft lauschte er nach hinten. Würde sich das Kind nicht dennoch fürchten und schreien?
Zweiling gab, nachdem er durchgezählt hatte, mit lässiger Hand ein Zeichen, es bedeutete »Wegtreten«. Die Reihen lösten sich auf, und die Häftlinge gingen an ihre Beschäftigung zurück. Nur Höfel stand noch, er hatte Zweilings Zeichen nicht bemerkt.
»Was ist denn?«, fragte ihn dieser mit seiner ausdruckslosen und teigigen Stimme.
Höfel erwachte und erschrak.
»Nichts, Hauptscharführer.«
Zweiling trat zur Tafel und unterschrieb die Bestandsmeldung.
»An was dachten Sie denn jetzt?«
Es sollte leutselig klingen.
»An nichts Besonderes, Hauptscharführer.«
Zweiling schob die Zunge auf die Unterlippe, so machte er es, wenn er lächelte.
»Sie waren wohl schon zu Hause, was?«
Höfel zog die Schulter hoch: »Wieso?«, fragte er verständnislos. Zweiling antwortete nicht. Mit einem vielsagenden Lächeln ging er ins Zimmer. Kurz darauf verließ er die Kammer, um die Bestandsmeldung abzugeben. Er hatte den braunen Ledermantel an, ein Zeichen dafür, dass er nicht wieder zurückkommen würde. Die Schlüssel zur Kammer hatte Höfel nach Arbeitsschluss bei der Torwache abzugeben.
Im Schreibbüro drängten sich die Häftlinge neugierig um Höfel zusammen und wollten Näheres wissen, denn Rose hatte gequatscht. Er verteidigte sich lärmend, als er von Höfel zurechtgewiesen wurde.
»Ich mache die Zicken nicht mit.«
Die Häftlinge rumorten durcheinander. »Wo ist denn das Kind?« – »Ruhe!« Höfel beschwichtigte und wandte sich Rose zu: »Hier werden keine Zicken gemacht. – Das Kind bleibt nur diese Nacht bei uns, morgen bringen wir es fort.« {Kropinski horchte verwundert auf. Pippig schwieg. Wollte Höfel nur ablenken? –} Die Häftlinge wollten das Kind sehen. Sie schlichen nach dem Winkel. Kropinski hob vorsichtig den Mantel hoch. Einer über die Schulter des andern äugend, betrachteten sich die Männer das kleine Ding. Es lag wie ein Engerling zusammengerollt und schlief. Über die Gesichter der Häftlinge ging ein Glänzen, sie hatten lange kein Kind mehr gesehen. Staunten! »Wie ein richtiger, kleiner Mensch …«
Höfel ließ sie sich sattsehen{, dann bat er leise: »Lasst es schlafen, Kumpel, und sprecht mit niemand darüber.«}.
Kropinski strahlte über seinen Besitz. Er legte sanft den Mantel um das Atmende, als die Häftlinge auf den Zehenspitzen den Winkel verließen. An diesem Abend hockten sie untätig herum, im Schreibbüro und auf der langen Tafel, schwatzten und freuten sich, und keiner wusste eigentlich warum. Am glücklichsten war Kropinski. »Ist kleines Polenkind«, lachte er immer wieder und legte seinen ganzen Stolz darein.
Pippig merkte, dass Höfel ihm auswich. Nach Arbeitsschluss, in der Baracke ihres Blocks, setzte er sich zu ihm an den Tisch und sah zu, wie er lustlos die kalt gewordene Suppe löffelte. Höfel spürte mit innerer Abwehr die Frage in Pippigs Schweigen, er warf den Löffel in die Schüssel und erhob sich.
»Das Kind soll wieder fort?«
Höfel winkte Pippigs Frage ab, zwängte sich durch die vollbesetzte Tischreihe und ging zur Waschkaue hinaus, um die Schüssel zu spülen. Pippig folgte ihm. Hier waren sie allein.
»Wohin willst du es denn geben?«
Diese ewige Fragerei! Höfel zog unmutig die Brauen zusammen.
»Lass mich in Ruhe damit.«
Pippig schwieg. Einen solchen Ton war er an Höfel nicht gewohnt. Das fühlte dieser und fuhr, teils in Ärger, teils in Verteidigung, Pippig unwirsch an: »Ich habe meine Gründe. Es kommt morgen fort. Frage nicht!«
Er verließ die Waschkaue. Pippig blieb zurück. Was war in Höfel gefahren? –
Der hatte schnell den Block verlassen. Draußen ging noch immer der durchdringende Sprühregen nieder. Höfel schauerte und zog die Schultern zusammen. Es reute ihn, Pippig so unwirsch behandelt zu haben. Doch er konnte dem Braven die Gründe seiner Weigerung nicht nennen, die tiefstes Geheimnis waren. Weder Pippig noch ein anderer wusste davon, dass er, der frühere Feldwebel einer Reichswehrgarnison in Berlin und Mitglied der damaligen Parteizelle, hier im Lager einer der militärischen Ausbilder der internationalen Widerstandsgruppe war. Niemand wusste davon.
Aus dem Internationalen Lager-Komitee war im Laufe der Zeit das Zentrum des Widerstands geworden. Ursprünglich hatten sich die Genossen der Partei als Vertreter ihrer Nationen im Internationalen Lager-Komitee, dem ILK, vereinigt, um unter Tausenden der Zusammengetriebenen eine Gemeinschaft zu bilden, die Verständigung unter den Nationalitäten herzustellen und mit Hilfe der Besten unter ihnen das Solidaritätsgefühl zu wecken, das keinesfalls von Anfang an vorhanden gewesen war. {Die Masse der Häftlinge war nicht einheitlich im Denken und Handeln.} Allein bei den deutschen Häftlingen gab es einige Blocks, die mit sogenannten Berufsverbrechern belegt waren. Unter ihnen wiederum eine große Anzahl von {Ganovenelementen}, die sich, um persönlicher Vorteile willen, zu willfährigen Subjekten der SS herabwürdigten, sie steckten mit den Block- und Kommandoführern unter einer Decke, wurden zu deren Zuträgern und zu Zinkern{, wie es im Lager hieß, und gefährdeten in vielen Fällen anständige Häftlinge, die sich nicht dazu hergaben, Kameraden zu schikanieren}. Auch unter den politischen Häftlingen gab es in allen Blocks und bei allen im Lager befindlichen Nationalitäten unsichere Elemente, denen die Angst um das eigene Leben höher stand als das Wohl und die Sicherheit der Gemeinschaft.
Denn nicht jeder, der einen »roten Winkel« trug, war tatsächlich ein »Politischer«, das heißt ein bewusster Gegner des Faschismus; schon »Meckerer« und sonstige von der Gestapo aufgegriffene missliebige Personen bekamen den roten Winkel des Politischen, so dass die Zusammensetzung in den Blocks der Politischen vom »labilen« Charakter bis zum latenten Verbrecher reichte und mancher Insasse eigentlich den grünen Winkel der Berufsverbrecher hätte tragen müssen. Zwischen den Blocks der Deutschen und der Ausländer, der Polen, Russen, Franzosen, Holländer, Tschechen, Dänen, Norweger, Österreicher, und vieler anderer Häftlingskategorien wollte anfangs wegen der Unterschiedlichkeit der Sprache und anderer Hinderungsgründe keine Verständigung entstehen. Die Genossen, die sich im ILK zusammengefunden hatten, mussten erst viele Schwierigkeiten überwinden, ehe es ihnen gelang, das Misstrauen der ausländischen Häftlinge zu beseitigen, die sich nur schwer daran gewöhnen wollten, in den deutschen Häftlingen {im deutschen, faschistischen Konzentrationslager} Kameraden zu sehen. {Glich doch einer dem anderen, und sah man keinem an, ob unter den Häftlingslumpen, die sie alle trugen, ein aufrichtiges Herz schlug.} Eine zähe und geheime und daher auch gefährliche Arbeit der Genossen des ILK war notwendig, um den Gedanken der Zusammengehörigkeit unter den Tausenden zu wecken und ihr Vertrauen zu gewinnen. In jedem Block schafften sich die Genossen Vertrauensmänner, und langsam fasste das ILK unter den Häftlingen Fuß, ohne dass auch nur ein Einziger das Vorhandensein einer so geheimen Verbindung ahnte. Keiner der Genossen vom ILK stand im Lager an exponierter Stelle oder machte von sich reden. Schlicht und unauffällig lebten sie. Bogorski im Badekommando, Kodiczek und Pribula als Fachkräfte in der Optikerbaracke, van Dalen als einfacher Pfleger im Revier, Riomand als französischer Koch im SS-Kasino, wo er von den Feinschmeckern sehr geschätzt wurde, und Bochow saß als untergeordneter Blockschreiber im Block 38. Hier hatte sich der ehemalige Landtagsabgeordnete der Kommunistischen Partei von Bremerhaven für sich selbst und seine gefährliche Aufgabe eine sichere Zuflucht geschaffen. Sein Geschick, mit der Redisfeder umzugehen und gute Druckschrift zu schreiben, hatte ihn dem lächerlich dummen Blockführer, einem Unterscharführer, wertvoll gemacht. Für ihn musste Bochow Dutzende von Zeichenkartons mit sinnigen Sprüchen beschriften. Und so malte Bochow: »Meine Ehre heißt Treue« – »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. Der Unterscharführer vertrieb die Spezialitäten unter seiner Bekanntschaft und machte sich ein einträgliches Nebengeschäft daraus. Er kam gar nicht auf den Gedanken, dass sein geschickter Blockschreiber im Lager etwas anderes sein könnte als sein »harmloser« Häftling.
Bochow war es gewesen, der auf einer Besprechung des ILK André Höfel als militärischen Ausbilder für die Widerstandsgruppen vorgeschlagen hatte. »Ich kenne ihn, er ist ein alter, guter Kumpel, werde mit ihm sprechen.«
Als Bochow vor einem Jahr nach dem Abendappell mit Höfel in einsamer Gegend hin und her gegangen war, weil das, was Bochow zu sagen hatte, von niemandem gehört werden durfte, war es ein gleicher Regenabend gewesen wie heute. Der Fünfzigjährige war neben ihm, dem schlanken und um zehn Jahre jüngeren Höfel, hergestapft, die Hände in den Taschen vergraben. Bochows sonore, gedämpfte Stimme hatte Höfel in den Ohren geklungen. Satz um Satz hatte Bochow abgewogen, um nur so viel zu sagen, wie Höfel wissen durfte. »Wir müssen uns vorbereiten, André … aufs Ende … internationale Kampfgruppen … verstehst du? … Waffen …«
Überrascht hatte Höfel aufgesehen, und Bochow hatte eine mögliche Frage mit kurzer Handbewegung abgeschnitten: »Davon später, jetzt nicht.«
Und zum Schluss, als sie sich trennten: »Du darfst niemals auffallen, auch nicht mit der geringsten Sache, verstanden?«
Das war vor einem Jahr gewesen, und seitdem war alles gutgegangen. Höfel wusste inzwischen auch, woher die Waffen kamen, über die Bochow damals nicht sprechen wollte. – Häftlinge hatten Hieb- und Stichwaffen in den verschiedenen Werkstätten des Lagers heimlich gebastelt. Sowjetische Kriegsgefangene stellten auf den Drehbänken der Weimarer Rüstungsbetriebe, in denen sie arbeiten mussten, Handgranaten her und schmuggelten sie ins Lager, und Fachleute, die im Häftlingsrevier und in der pathologischen Abteilung des Lagers arbeiteten, verstanden es, aus abgezweigten Chemikalien Sprengladungen für die Handgranaten zu mixen. Das wusste Höfel nun alles, und wenn er abends am heimlichen Ort den Kameraden der Gruppen die Handhabung der Waffen lehrte, freute er sich besonders, die Unterweisung an einer 7,65 mm Walther-Pistole vornehmen zu können. Diese Waffe war dem Zweiten Lagerführer Kluttig bei einem der Saufgelage im SS-Führerheim geklaut worden. Regelrecht geklaut von einem der Häftlinge, die die Saufenden zu bedienen hatten. Niemals war der Täter herausgekommen, denn solche Kühnheit traute selbst der verbissene Kommunistenfeind Kluttig einem Häftling nicht zu. Er hatte einen seiner Saufkumpane im Verdacht. Welch eisigkalte Gelassenheit gehörte für jenen einen dazu, nach dem Gelage mit seinem Kommando der Kellnersklaven ins Lager einzurücken und – vorbei an der SS – unter der Kleidung eine 7,65 durchs Tor zu tragen? – Diese eisige Kälte spürte Höfel jedes Mal, wenn er die kostbare Waffe in der Hand hielt, jedes Mal, wenn er sie aus ihrem Versteck nahm und sie an seinem Körper verbarg, um zur Unterrichtsstunde zu gehen, durchs Lager, an ahnungslos grüßenden Freunden vorbei, vorbei an so manchem SS-Mann. Da spürte er das kalte Metall an seinem Körper. –
Und immer war es gutgegangen!
Plötzlich aber kam ein kleines Kind ins Lager! Ebenso heimlich und gefahrvoll wie damals jene Walther 7,65 mm. – Darüber konnte er mit niemandem sprechen. Der Einzige war Bochow. Es waren für Höfel nur wenige Schritte bis zum Block 38, trotzdem aber ein langer Weg. In Höfels Brust lag es wie ein schwerer Stein. Hätte er anders handeln müssen? Ein kleiner Funke Leben war übergesprungen, ein Rest aus einem Lager des Todes. Musste er das Winzige nicht davor bewahren, ausgetreten zu werden?
Höfel blieb stehen und blickte auf die nass glänzenden Steine zu seinen Füßen. Auf der ganzen Welt konnte es nichts geben, was selbstverständlicher war.
Auf der ganzen Welt!
Nicht aber hier!
Daran dachte er jetzt.
Ahnungen von den Gefahren, die das Vorhandensein jenes gefährlichen Funkens auslösen konnte, der in einem heimlichen Winkel des Lagers glomm, durchhuschten Höfel schattenhaft, aber er wies sie von sich. Vielleicht konnte Bochow helfen?
Block 38 war eines der einstöckigen Steingebäude, die nach Jahren im Anschluss an die ersten Holzbaracken errichtet worden waren. Er umfasste, wie die übrigen Steinblocks, vier Aufenthaltsräume mit anschließendem Schlafsaal. Es war nichts Ungewöhnliches, dass der Kapo der Effektenkammer in einem der Blocks erschien, und die Häftlinge nahmen deshalb keine Notiz von Höfel, als dieser eintrat. Bochow saß am Tisch des Blockältesten und schrieb die Bestandsmeldung des Blocks für den kommenden Morgenappell aus. Höfel zwängte sich durch den dichtgefüllten Raum und trat zu Bochow ans Pult. »Kommst du mal mit raus?«
Wortlos stand Bochow auf, zog sich den Mantel über, und sie verließen den Block. Draußen sprachen sie nicht miteinander. Erst als sie auf den breiten, zum Revier führenden Weg gelangten, auf dem noch viele Häftlinge hin und her gingen, begann Höfel: »Ich muss mit dir sprechen.« – »Ist’s wichtig?« – »Ja.«
Sie redeten leise und unauffällig. »Da hat ein Pole Jankowski, Zacharias, ein kleines Kind mitgebracht …« – »Das nennst du wichtig?« – »Das Kind ist bei mir auf der Kammer.« – »Was, wieso?« – »Ich habe es bei mir versteckt.« Höfel konnte Bochows Gesicht im Dunkeln nicht erkennen. Ein eiliger Häftling, vom Revier kommend, den Kopf gegen den Nieselregen vorgeduckt, stieß sie im Vorbeigehen an. Bochow blieb stehen. »Mensch, bist du verrückt geworden?« Höfel hob die Hände. »Lass dir erklären, Herbert …« – »Ich will es gar nicht wissen.« – »Doch, du musst es wissen«, beharrte Höfel. Er kannte Bochow, der war immer hart und unerbittlich. Sie gingen weiter, und in Höfel schoss es plötzlich heiß auf. Völlig unmotiviert sagte er: »Ich habe zu Hause selber einen Jungen, der ist jetzt 10 Jahre alt. Ich habe ihn noch nie gesehen.« – »Gefühlsduselei, du hast strengste Anweisungen, dich aus allen Sachen herauszuhalten. Hast du das vergessen?«
Höfel verteidigte sich. »Wenn das Kind denen da oben in die Fänge gerät, geht es hops. Ich kann es doch nicht ans Tor schleppen: da, das haben wir in einem Koffer gefunden.« Sie waren auf ihrem Gang fast bis zum Revier gelangt, drehten um und gingen den Weg wieder zurück. Höfel fühlte die Härte, die von Bochow ausging, mit tiefem Vorwurf fuhr er ihn an: »Mensch, Herbert, hast du denn kein Herz im Leib?« – »Wenn das keine Gefühlsduselei ist!« Unvorsichtig laut hatte Bochow gesprochen. Er riss sich darum selbst das Wort vom Mund und fuhr leiser fort: »Kein Herz im Leib? Hier geht es nicht nur um ein Kind, sondern um 50 000 Menschen!«
Höfel ging schweigend nebenher, er war aufs tiefste erregt, Bochows Einwand nahm ihm alles weg. »Nun gut«, sagte er nach ein paar Schritten, »dann werde ich das Kind morgen zum Tor bringen.« Bochow schüttelte den Kopf: »Willst du eine Dummheit durch die andere ersetzen?« Höfel wurde ungehalten. »Entweder ich verberge das Kind, oder ich gebe es ab!« – »Du bist mir ’n Stratege …«
»Was soll ich denn machen?« Höfel riss die Hände aus den Taschen und breitete sie hilflos aus. Bochow wollte sich von Höfels Erregung nicht einfangen lassen. Um sie in dem Kameraden selbst niederzuhalten, sagte er in seiner sachlichen und ein wenig unbeteiligten Art: »Ich habe auf der Schreibstube gehört, dass ein Transport abgeht, und werde dafür sorgen, dass der Pole dazugetan wird. Du gibst ihm das Kind mit.« Höfel erschrak über den harten Entschluss. Bochow blieb stehen, trat dicht an Höfel heran, blickte ihm nah in die Augen. »Was sonst?« – Höfel atmete schwer. Bochow spürte, was in diesem vor sich ging.
Im Abwägen der Notwendigkeiten wogen am schwersten die Pflichten hier im Lager. Konnte Bochow, den das ILK zum Verantwortlichen für die Widerstandsgruppen bestimmt hatte, zulassen, eines Kindes wegen den militärischen Ausbilder der Gruppen in Gefahr zu bringen oder sogar diese selber? Oder den ganzen mühselig aufgebauten Apparat? Dazu den Lagerschutz, der nach außen eine völlig legale Einrichtung, in Wirklichkeit aber ein ausgezeichneter militärischer Verband war? Man wusste nie, was aus einer harmlosen Sache alles entstehen konnte. Ein kleines Kind gibt den Anstoß, und mit einem Schlage rollt die Lawine des Verderbens über alle und alles hinweg. Das ging Bochow durch den Kopf, als er sich Höfel betrachtete. Er wandte sich wieder zum Gehen und sagte fast traurig: »Manchmal ist das Herz ein sehr gefährliches Ding! Der Pole wird schon wissen, wie er mit dem Kind zurechtkommt. Hat er es bis hierher gebracht, bringt er es auch noch weiter.« Höfel schwieg noch immer. Sie waren am Revierweg abgebogen und standen jetzt zwischen den Baracken. Hier war es einsam. Der kalte Schauerregen machte die beiden frösteln. Sie konnten im Dunkeln ihre Gesichter kaum erkennen. Höfel hatte die Hände tief in die Taschen geschoben, die Schultern frierend angedrückt. Er machte keine Anstalten zu gehen. Bochow packte ihn an der Schulter, rüttelte ihn. »Mach keine Geschichten, André«, sagte er mit warmem Ton. »Leg dich in deine Kiste, ich gebe dir noch Bescheid.«
Sie trennten sich.
Bochow sah Höfel nach. Mit müden Schritten ging der davon. Ein Bedauern wollte Bochow übermannen, von dem er nicht wusste, wem es galt, Höfel oder dem Kind oder jenem fremden Polen, dem es unbekannt war, dass über sein Schicksal in diesem Augenblick entschieden worden war. Entschieden durch Häftlinge, durch seinesgleichen, die aus dem Zwang einer Situation heraus Gewalt über ihn hatten. Bochow schüttelte die Gedanken ab. Hier musste schnell und furchtlos gehandelt werden. Er überlegte kurz. Rasch zum Block zurück! Runki, sein Blockältester, wollte soeben die ausgefüllte Bestandsmeldung zum Lagerältesten nach der Schreibstube bringen, als ihn Bochow an der Tür des Blocks abfing. »Gib her, Otto, ich bringe sie selber hin.« – »Ist was los?«, fragte Runki, dem Bochows besonderer Ton auffiel. »Nichts von Bedeutung«, entgegnete dieser. Runki wusste, dass Bochow zu dem Kreis alter Lagerkumpels gehörte, deren Wort galt. Von Bochows Zugehörigkeit zum ILK und dessen Existenz hatte er keine Ahnung. Unter den politischen Häftlingen war das Gesetz der Konspiration wirksam – das sie alle durch bedingungsloses Vertrauen miteinander verband. Es gab keine Neugier, nur wissendes Schweigen über alles, was im Lager zu geschehen hatte. Es gab eine strenge innere Disziplin und das Bewusstsein der unbedingten Zusammengehörigkeit, das keine unbedachten Fragen ließ für Dinge, die man nicht zu wissen brauchte. Es gab eine selbstverständliche Unterordnung: Wichtigem durch Schweigen zu dienen. – So schützten sie sich gegenseitig und bewahrten Geheimstes vor Entdeckung. Der Kreis dieser Häftlinge war groß und über das ganze Lager verbreitet. Überall Genossen, die das in Schweigen eingebettete Wissen im Herzen trugen. Die Partei, der sie verbunden waren, war mit ihnen im Lager, unsichtbar, ungreifbar, allgegenwärtig. Gewiss trat sie bei dem einen oder anderen Genossen sichtbar hervor, jedoch nur immer für den, dem es erlaubt war, sie zu sehen. Sonst glichen sie sich alle untereinander in ihren dreckigen Lumpen mit dem roten Winkel und der Nummer auf der Brust, mit ihren kahlgeschorenen Schädeln … So fragte auch Runki nicht viel, als ihm Bochow die Bestandsmeldung abnahm.
Im Nebenraum der Schreibstube, in dem die beiden Lagerältesten Krämer und Pröll ihren Platz hatten, war der allabendliche Betrieb schon vorbei. Pröll, der zweite Lagerälteste, hatte in der Schreibstube zu tun. Außer Krämer, dem ersten Lagerältesten, der den Gesamtbestand des Lagers für den kommenden Morgenappell an Hand der einzelnen Blockmeldungen zusammenstellte, waren nur noch einige Blockälteste und -schreiber anwesend, die ihre Meldungen bereits abgegeben hatten und herumklönten. Bochow trat ein. An seinem Verhalten – Bochow zögerte, die Meldung an Krämer weiterzugeben – erkannte der Lagerälteste, dass der Blockschreiber von 38 etwas auf dem Herzen hatte. Auch Krämer gehörte zu dem Kreis der Wissenden und Schweigenden. {Sein Vorgänger war ein von Kluttig ausgewählter Berufsverbrecher gewesen, der seinen Posten persönlicher Vorteile wegen missbraucht hatte und bald wieder abgelöst worden war. Die Einsetzung Krämers als »LA-I« war der Ausdruck von Gegensätzen zwischen Kluttig und Schwahl. Kluttig benutzte mit Vorliebe kriminelle Elemente für die Posten im Lager und machte die Verbrecher zu Spitzeln und Zuträgern. Schwahl – entsprechend seiner Erfahrung als ehemaliger Zuchthausinspektor – nutzte lieber Intelligenz und Korrektheit der Politischen aus. Er selbst hatte Krämer als neuen »LA-I« eingesetzt, und die Folgezeit schien ihm damit recht zu geben. Seit Krämer »LA-I« geworden war, hörten die Schweinereien und Durchstechereien im Lager auf. Schwahl wusste, dass er sich auf »seinen« LA-I verlassen konnte. Immer stand Krämer im Mittelpunkt der Ereignisse. Alles, was im Lager geschah, konzentrierte sich auf seine Person. Die Befehle erhielt er durch Schwahl, durch die Lagerführer und den Rapportführer. In seiner Person löste sich der unmittelbare Kontakt zwischen der Lagerführung und dem Lager selbst aus. Die Befehle mussten durchgeführt werden. Stets aber so, dass es galt, Leben und Sicherheit der Häftlinge zu schützen.} Das bedurfte oft der Klugheit und des geschickten Manövrierens. Krämer, der kompakte, breitschultrige Kupferschmied aus Hamburg, war die Ruhe selbst. Ihn konnte so leicht nichts erschüttern. In verschwiegener Zusammenarbeit mit den Genossen der Partei füllte er seinen schweren Posten aus. Die Partei in ihrer Lagerillegalität stand ihm in Person Herbert Bochows gegenüber. Ohne dass es jemals ausgesprochen worden war, wusste Krämer, was von Bochow kam, das kam von der Partei. In seinem Bestreben, dem Lagerältesten möglichst wenig Einblick in das illegale Gefüge zu geben, übertrieb Bochow stark. »Frag nicht danach, Walter, es ist besser für dich«, war oft der Einwand, wenn Krämer den Sinn mancher Anweisung erfahren wollte, die Bochow ihm brachte. Krämer schwieg gewöhnlich, obwohl es ihm manchmal sonderbar erschien, aus Anweisungen »Geheimnisse« zu machen. Dann war er versucht, Bochow auf die Schulter zu klopfen: »Mach’s nicht so spannend, Herbert, ich weiß Bescheid …« Oft belustigte er sich im Stillen über sein Wissen von dem, was er nicht wissen durfte, oftmals aber ärgerte er sich auch darüber. In vielen Fällen hätte Bochow nach Krämers Meinung besser getan, ein offeneres Wort zu sprechen. So auch jetzt, nachdem er den überflüssigen Besuch mit freundlichem Gebrumm hinausbefördert hatte. Er sah Bochow auffordernd an.
»Eine dumme Geschichte«, begann dieser.
»Was ist los?«
»Du stellst einen neuen Transport zusammen?«
»Na und«, fragte Krämer zurück. »Pröll macht drüben die Liste fertig.«
»Da ist mit dem letzten Schub ein Pole mitgekommen. Zacharias Jankowski heißt er. Er ist sicher im Kleinen Lager. Kannst du ihn in den Transport hineinstecken?«
»Was ist mit ihm?«
»Nichts«, entgegnete Bochow dunkel. »Du musst dich mit Höfel in Verbindung setzen. Er gibt dir was mit für den Polen.«
»Ein Kind.«
»Ein was???« Krämer warf den Bleistift hin, mit dem er die Eintragungen gemacht hatte. Bochow bemerkte Krämers Überraschung. »Bitte, frag mich nicht. Es muss sein.«
»Aber ein Kind? Mensch, Herbert! Der Transport geht ins Ungewisse! Du weißt, was das heißt?«
Bochow wurde nervös. »Ich kann dir nichts weiter sagen.« Krämer stand auf. »Was ist das für ein Kind? Was ist mit ihm?«
Bochow wehrte die Frage ab. »Nichts, es geht um anderes.«
»Das kann ich mir denken.« Krämer schnaufte. »Hör zu, Herbert. Ich frage sonst nicht viel, weil ich mich immer darauf verlasse, dass …«
»Also frage nicht.«
Krämer sah finster vor sich hin. »Manchmal machst du es mir verdammt schwer, Herbert.«
Bochow legte ihm versöhnend die Hand auf die Schulter. »Es kann sich kein anderer der Sache annehmen als du. Höfel weiß schon Bescheid. Sag, du kommst in meinem Auftrag.« Krämer brummte mürrisch. Er war unzufrieden.
Unruhig war Höfel durch die Reihen der Blocks gelaufen, ehe er jetzt nach seiner Behausung ging. Ein paar verspätete Häftlinge klapperten eilig ihren Blocks zu. In kurzen Abständen pfiff es. Der Lagerälteste machte seinen abendlichen Gang durch das Lager. Seine Pfeifsignale bedeuteten, dass sich kein Häftling mehr außerhalb der Blocks aufhalten durfte. Immer ferner und leiser klangen die Pfiffe. Die regennassen Dächer der Baracken glänzten matt. Unter Höfels Schritten knirschten und knackten die Schottersteine. Manchmal stolperte er, gab nicht acht auf seinen Gang vor Groll auf Bochow! Was machte der sich schon aus einem kleinen Kind? Fröstelnd betrat Höfel seinen Block. Der Aufenthaltsraum war leer, sie lagen schon alle in den Betten. Ein paar Stubendienste klapperten mit den Suppenkübeln. Am Tisch saß der Blockälteste. Im Raum hing noch der kalte Dunst der abendlichen Krautsuppe und mischte sich mit dem Ruch der Kleidungsstücke, die geordnet auf den Bänken lagen. Keiner beachtete Höfel, der sich auszog und seine Kleidung auf der freien Stelle seines Bankplatzes zurechtlegte.
Aber hatte Bochow nicht eigentlich recht? – Was geht mich das fremde Kind an, dachte Höfel, ich belaste mich nur mit ihm.
So unwirsch war der Gedanke, dass sich Höfel dessen schämte. Als er aber den bösen Gedanken verscheuchen wollte, schob sich die Erinnerung an seine Frau Dora dazwischen. Woher kam das so plötzlich? Hatte das Kind dort im Winkel die schmerzende Erinnerung ihm aus dem Verlies der Brust gezogen? Sie überschwemmte mit einem Male sein Inneres, und er staunte, dass es in einer ihm fremd gewordenen Welt eine Frau gab, die seine Frau war. Es begann in ihm zu irrlichtern. Er besaß einen Sohn, den er noch niemals gesehen, er besaß eine Wohnung, eine richtige Wohnung mit Stuben und Fenstern und Möbeln. Doch das alles fügte sich nicht zu einer Ordnung zusammen, sondern umwirrte ihn wie die Trümmer einer geborstenen Welt im lichtlosen Raum. Höfel hatte die Hände ums Gesicht gepresst und wusste es nicht; er starrte wie in einen nachtschwarzen Abgrund hinein. Alle vier Wochen schickte er einen Brief in das Dunkel hinaus: »Liebe Dora. Mir geht es gut, ich bin gesund, was macht der Junge?« Und alle vier Wochen kam aus dem Dunkel ein Brief zu ihm, und jedes Mal schrieb die Frau am Schluss: »… ich küsse Dich innig …«
Aus welcher Welt kam das? Mein Gott, aus welcher, dachte Höfel. Sicher aus einer Welt, in der es auch kleine Kinder gab, nur wurden sie nicht am Bein durch die Luft gewirbelt und mit dem Kopf gegen die Mauer geschlagen wie junge Katzen. – Höfel stierte vor sich hin. Die Gewalt der Erinnerung machte die Gedanken welk, dass sie ins Nichts zusammenfielen, und er fühlte nur noch überstark den warmen Druck seiner eigenen Hände am Gesicht. Plötzlich hatte er die mehr als seltsame Vorstellung zweier Hände aus dem Dunkel heraus, die sein Gesicht umspannten, und eine wesenlose Stimme raunte: »André … so ein armes kleines Kind …« Höfel schreckte auf. Bin ich verrückt?
Er ließ die Hände sinken. Die Luftkühle strich über die nackt gewordenen Wangen. Höfel sah seinen zurückverwandelten Händen zu, die folgsam die gewohnten Handgriffe ausführten: die Hose zusammenlegend, die Jacke mit der Nummer nach außen, wie es Vorschrift war.
Ja, Bochow hatte recht. Das Kind musste fort. Hier wurde es zu einer Gefahr für alle. Der Pole wird schon sehen, wie er es durchbringt. Höfel ging in den Schlafsaal hinüber. Der gewohnte Gestank brachte ihn vollends in die Wirklichkeit zurück. »… ich küsse Dich innig …« Höfel kroch auf den Strohsack und zog die kratzende Decke über sich.
Im Schlafsaal mit den Reihen der dreifach übereinandergestaffelten Bettgestelle wollte lange keine Ruhe eintreten. Die Nachricht vom Rheinübergang der Amerikaner bei Remagen hatte die Gemüter aufgescheucht. Höfel hörte in das Gemurmel hinein. Der Bettnachbar schlief bereits, und sein leises Schnarchen stand im Gegensatz zu der allgemeinen Aufregung ringsumher. Wenn die Amerikaner erst mal überm Rhein sind, dann sind sie auch bald in Thüringen, und dann kann es nicht mehr lange dauern! ES! – Was denn? – Was konnte dann nicht mehr lange dauern? In dem Wort lag etwas verborgen. In ihm waren die Jahre der Haft, der Hoffnungen und Verzweiflungen zu einer gefährlichen Ladung zusammengepresst, das Wort wiegte sich, klein und schwer, wie eine Handgranate in der Faust, und wenn es so weit sein wird … Rings um Höfel flüsterte und raunte es. Friedlich schniefte der Nachbar, und Höfel ertappte sich, dass auch er daran dachte, dass es nicht mehr lange dauern werde, und man könnte vielleicht das Kind da hinten im Winkel … Das Geflüster, dem er nur mechanisch zuhörte, hatte ihn in etwas hineingewiegt, was so angenehm war, so angenehm wie jene fernen fremden Hände … Plötzlich riss Höfel die Augen auf und warf sich mit einem Ruck herum. Nein, fort damit. Fort! Das Kind musste weg, morgen, übermorgen!
Standartenführer Alois Schwahl, der Lagerkommandant, befand sich an diesem Abend mit den beiden Lagerführern Weisangk und Kluttig noch in seinem Dienstzimmer. Schwahl, ein untersetzter, zur Dicklichkeit neigender Sechziger, mit schlaffen Backen im runden Gesicht, hatte die Angewohnheit, während des Sprechens um ein Möbelstück herumzugehen, deshalb stand ein massiger Schreibtisch in der Mitte des protzig eingerichteten Raumes. Der Kommandant schien ein Mann der Festreden zu sein. Seine Worte begleitete er stets mit ausladenden Gesten, die er durch eindrucksvolle Pausen unterstützte. Der Rheinübergang hatte ihn, noch mehr aber Kluttig, in einen Zustand nervöser Gereiztheit versetzt. Auf dem Sofa hinter dem geschnitzten Konferenztisch saß Weisangk, der Sturmbannführer, mit ausgegrätschten Beinen, die unvermeidliche Flasche französischen Beutekognaks vor sich, und hörte der Auseinandersetzung zu, die zwischen Schwahl und Kluttig entbrannt war. Weisangk hatte bereits zu viel getrunken. Mit trüben Doggenaugen verfolgte er jede Bewegung seines Herrn.
In Voraussicht kommender Ereignisse, die dem Rheinübergang folgen würden, hatte Schwahl den Plan gefasst, aus Häftlingen einen Sanitätstrupp bilden zu lassen, der wegen ständiger Fliegeralarme und eines drohenden Angriffs aufs Lager zur Unterstützung der SS eingesetzt werden sollte. Die Bildung des Trupps war Anlass zu der Auseinandersetzung gewesen, die sich immer mehr zuspitzte. Der knochighagere Kluttig, ein uninteressanter Mensch von etwa 35 Jahren, mit überlanger, knollig auslaufender Nase, stand vor dem Schreibtisch, und seine kurzsichtigen, arg entzündeten Augen stachen giftig durch die Brillengläser. Zwischen ihm und dem Kommandanten bestanden einige unüberbrückbare Gegensätze. Kluttig verbarg es nicht, dass er vor Schwahl keinen Respekt hatte. Dessen Befehle nahm er immer nur mit hochmütigem Schweigen entgegen, und wenn er sie letzten Endes doch ausführte, so geschah es nur aus der einfachen Tatsache der Rangüberlegenheit Schwahls als Kommandant und Standartenführer heraus. Schwahl kam gegen Kluttig nur unter Einsatz seiner Überlegenheit als Rangoberster an, uneingestanden empfand er in dessen Gegenwart quälende Minuskomplexe. Er mochte Kluttigs Draufgängertum nicht und neidete es ihm zugleich.
Schwahl war feig, unentschlossen, unsicher, doch war er überzeugt, Kluttig, dem ehemaligen Inhaber einer kleinen Plissieranstalt, an diplomatischer Begabung überlegen zu sein. Kluttig mussten selbstverständlich alle Voraussetzungen für solche Vorzüge fehlen, die sich Schwahl in 30-jähriger Dienstzeit als Zuchthausbeamter erworben hatte. Er hatte es bis zum Inspektor gebracht. In früherer Zeit hatten sie sich an Saufabenden ihrer Vergangenheit wegen gelegentlich gefrotzelt, nannten sich »Zuchthausbulle« und »Plissierfritze«, ohne vorauszusehen, dass dieses Wissen einmal in gefährliche Gehässigkeit ausarten würde. An diesem Abend geschah es.
Anfangs ging der Streit noch um die Besetzung des Sanitätstrupps. Kluttig hatte gegen Schwahls Absicht aufbegehrt, dafür nur langjährige politische Häftlinge zu verwenden. Als Kommandant konnte es sich Schwahl leisten, den ehemaligen Geschäftsinhaber gönnerhaft zu belehren.
»Ihnen fehlen Menschenkenntnis und Weitblick, mein Lieber, man muss sich die Disziplin der Kommunisten zunutze machen. Von denen geht uns keiner stiften. Die halten zusammen wie die Kletten.« In Kluttig siedete es bereits. Seine Entgegnungen wurden immer schärfer, und seine Stimme bekam jenen hässlichen und schneidenden Ton, den Schwahl insgeheim fürchtete, weil er ihn zu sehr an die Stimme seines früheren Zuchthausdirektors erinnerte.
»Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass die Verwendung von Kommunisten in dieser Situation gefährlich ist, nehmen Sie andere Häftlinge dafür.« Schwahl plusterte sich auf. »Bababaaahh«, machte er, blieb vor Kluttig stehen, ruckte sich in den Schultern zurecht und reckte den Bauch vor: »Andere Häftlinge? Berufsverbrecher? Ganoven?«
»Im Lager existiert eine geheime Organisation der Kommunisten!«
»Was können die schon unternehmen?« Schwahl ging wieder um den Schreibtisch herum.
»Es gibt im Lager einen geheimen Sender!« Unvermittelt trat Kluttig an den Schreibtisch heran und stoppte damit Schwahls Rundgang ab.
Der Kommandant spielte großartig den gönnerhaften Vorgesetzten, er nestelte an einem Knopf von Kluttigs Uniform: »Sie wissen, ich habe den vermutlichen Sender anpeilen lassen. Ergebnis? Null! Verlieren Sie nicht die Ruhe, Herr Hauptsturmführer.«
»Ich bewundere Ihre Ruhe, Herr Kommandant!«
Sie maßen sich mit kalten Blicken. Schwahl hatte das Empfinden, als straffe sich sein Brustkasten, im gleichen Augenblick aber sackte die künstlich gehaltene Beherrschung in ihm zusammen, und er schrie plötzlich los: »Ich verliere nicht die Nerven wie Sie! Wenn ich befehle, ist das ganze Lager in einer halben Stunde zusammengeschossen! Das ganze Lager, jawoll, samt Ihrer Kommunistenorganisation!«
Aber auch mit Kluttigs Beherrschung war es zu Ende. Aus seinem knochigen Gesicht entwich alles Blut, und er schrie auf Schwahl ein, dass Weisangk erschrocken zwischen die Streitenden sprang und Kluttig abzudrängen versuchte: »Stad soan musst, Kluttig, stad soan …«
Kluttig stieß den Sturmbannführer verächtlich von sich: »Weg, du Trottel!« und schrie erneut auf Schwahl ein: »Vielleicht haben die Kerle schon Waffen, und Sie unternehmen nichts dagegen? Vielleicht haben sie mit dem Amerikaner schon Verbindung aufgenommen? Ich verweigere Ihnen den Befehl!«
Weisangk versuchte erneut zu vermitteln: »Du kriegst gar koan Befehl nicht, den kriegt doch der Reineboth …«
Doch er erreichte nur, dass ihn der weißglühende Kluttig anschrie: »Halt deine Schnauze!«
»Hauptsturmführer!«, brüllte Schwahl mit bebenden Backen.
»Ich lasse mir nicht befehlen …!«
»Noch bin ich Kommandant!!!«
»Ein Sch…«
Kluttig brach jäh ab, drehte sich um und sank auf das Sofa nieder, auf dem Weisangk gesessen hatte.
Ebenso unvermittelt wie Kluttig war auch Schwahl ernüchtert. Er trat an den Konferenztisch, stützte die Hände flach auf die Hüften und fragte: »Was wollten Sie eben sagen?«
Kluttig rührte sich nicht. Er saß da mit vorhängendem Kopf, die schlaffen Arme auf den gespreizten Knien. Schwahl schien nach diesem Exzess keine Antwort zu erwarten. Er ging nach der Kredenz in der Ecke, brachte einige Gläser herbei, setzte sich an den Konferenztisch und goss ein. »Trinken wir einen auf den Schreck.«
Gierig leerte er das Glas. Weisangk stieß Kluttig an und hielt ihm den Kognak hin: »Sauf, dös beruhigt.«
Unwillig nahm Kluttig dem Sturmbannführer das Glas weg und kippte es hinter wie Medizin, finster blickte er vor sich hin. Die Beleidigungen nahmen sie sich nicht weiter übel, und die Ernüchterung schien einer seelischen Erschlaffung zu weichen. Schwahl griff nach einer Zigarette und lehnte sich im Sessel zurück. Er rauchte mit tiefen Zügen. Kluttig starrte noch immer vor sich hin, und in Weisangks ödem Gesicht war kein Gedanke zu lesen. Schwahl sah von einem zum andern, und mit einem Anflug von Galgenhumor sagte er schließlich: »Tja, meine Herren, der Bart ist ab.« Kluttig schlug mit der Hand auf die Tischplatte und kreischte hysterisch auf: »Nein!« Sein Unterkiefer schob sich vor. »Nein!« Schwahl spürte Kluttigs innere Panik. Er warf die Zigarette fort und stand auf. Mit Behagen genoss er, dass er sich wieder in der Gewalt hatte. Hinter seinem Schreibtisch hing eine große Karte. Schwahl trat an sie heran und betrachtete sie mit Kennerblick. Dann tippte er auf die Nadeln mit den bunten Köpfen. »So steht die Front, so und so und so.« Er drehte sich um und stützte die Hände steif auf den Schreibtisch. »Oder wie bitte?«
Weisangk und Kluttig schwiegen. Schwahl stemmte die Fäuste in die Seiten. »Und wie wird es in vier Wochen sein? In acht Wochen, oder schon in drei Wochen?« Die Antwort darauf gab er, indem er mit der Faust auf die Karte schlug. Auf Berlin, Dresden, Weimar. Die Holztafel polterte. Schwahl war befriedigt. Auf Kluttigs mahlenden Backenknochen und in Weisangks hilflosen Hundeaugen sah er die Wirkung seiner Worte. Wie ein Feldherr ging er zum Konferenztisch zurück und sagte dabei großspurig:
»Wollen wir uns noch was vormachen, meine Herren? {Der Bart ist ab. Jawoll, er ist ab!}«
Er setzte sich. »Im Osten die Bolschewiken, im Westen die Amerikaner, und wir sind mittendrin. Na, wie bitte? – Denken Sie nach, Hauptsturmführer. Keiner kräht nach uns, hier holt uns auch keiner mehr raus. Hier kann uns höchstens noch der Teufel holen.«
In einem plötzlichen Anfall {dummen Mutes} schmiss Weisangk seine Pistole auf den Tisch. »Mich kriagt er nich«, knarrte er. »Dös is a noch do.« Schwahl beachtete die heroische Geste des bayrischen Schmiedes nicht, der die Waffe ruhmlos wieder an sich nahm, und kreuzte die Arme über der Brust. »Uns bleibt nur übrig, auf eigene Faust zu handeln.« Da sprang Kluttig auf. »Ich durchschaue Sie!«, schrie er, in neue Hysterie verfallend. »Sie wollen sich bei den Amerikanern anbiedern! Sie sind ein Feigling!«
Schwahl wehrte verdrießlich ab. »Machen Sie nicht so große Worte. Ob Mut oder nicht Mut, was können wir damit noch anfangen! Wir haben uns in Sicherheit zu bringen, das ist alles. Dazu braucht man Klugheit, Herr Hauptsturmführer. Klugheit, Diplomatie, Elastizität.« Schwahl wies seine Pistole auf offener Hand vor: »Das ist nicht mehr elastisch genug.« Auch Kluttig riss die Waffe aus der Tasche, fuchtelnd: »Aber durchschlagend, Herr Kommandant, durchschlagend!« Sie drohten wieder in Streit zu geraten.
Weisangk streckte die Hände zwischen sie. »Seids friedlich und schiaßt eich nich selba umanand.«
»Auf wen wollen Sie denn schießen?«, fragte Schwahl fast amüsiert.
»Auf alle, alle, alle!«, schäumte Kluttig und lief mit wilden Schritten umher. Verzweifelt warf er sich aufs Sofa zurück und fuhr sich durch das spärliche, fahlblonde Haar. Schwahl meinte sarkastisch: »Mit dem Heldentum ist es nun doch wohl vorbei.«
Am anderen Morgen gab Kluttig den Befehl des Kommandanten dennoch an Reineboth weiter. Er hielt sich mit dem kaum 25-jährigen Hauptscharführer in dessen Dienstzimmer auf, das sich auf dem Seitenflügel des Eingangsgebäudes zum Lager befand. Reineboth stach durch sein gepflegtes Äußeres stark von Kluttig ab. Der eitle Jüngling liebte seine elegante Erscheinung sehr. Ein rosiger Hauch auf der Haut und die wie gepudert erscheinende Unterpartie des Gesichts, auf der auch nicht der Schimmer eines Bartwuchses zu sehen war, gaben Reineboth das Aussehen eines Operettenbuffos, doch war er nur der gewöhnliche Sohn eines gewöhnlichen Bierbrauers.
Lässig im Stuhl zurückgelehnt und die Knie gegen die Tischkante gestemmt, hatte er den Befehl entgegengenommen. »Sanitrupp? Großartige Idee.« Zynisch verzog er die Lippen. »Da hat wohl einer Angst vor dem schwarzen Mann, was?«
Kluttig hatte darauf nichts erwidert, er war zum Radio getreten. Breitbeinig und mit den Händen in den Hüften stand er vor dem Kasten, aus dem die Stimme des Nachrichtensprechers erklang:
»… nach schwerer Artillerievorbereitung ist gestern Abend die Schlacht um den Niederrhein entbrannt. Die Besatzung der Stadt Mainz wurde auf das rechte Rheinufer zurückgenommen …«
Reineboth sah ihm eine Weile zu. Er wusste, was in Kluttig vorging, und verbarg seine eigene Angst vor der heranrückenden Gefahr hinter schlecht gespielter Schnoddrigkeit. »Es wird Zeit, dass du Englisch lernst«, sagte er, und sein stets arrogantes Lächeln gefror zu einer harten Falte um den Mundwinkel. Kluttig beobachtete den Spott nicht, er knurrte böse: »Die oder wir!«
»Wir«, entgegnete Reineboth mit Eleganz, warf das Lineal auf den Tisch und stand auf. Sie sahen sich an, schwiegen und versteckten, was sie sich dachten. Kluttig wurde unruhig. »Wenn wir gehen müssen …«, er schüttelte die Fäuste und presste durch die Zähne: »Keine Maus lasse ich hier lebend zurück!« Reineboth kannte das schon. Er wusste, wie er Kluttig einzuschätzen hatte, da war viel hohler Donner dabei. Hämisch lächelnd meinte er: »Falls du damit nicht zu spät kommst, Herr Hauptsturmführer. Unser Diplomat lässt die Mäuse bereits aus der Falle …«
»Der Lahmarsch!« Kluttig fuhr mit der Faust durch die Luft. »Wissen wir, ob die Schweine nicht schon geheime Verbindung mit dem Amerikaner haben? Der schickt ein paar Bomber und bewaffnet in einer Nacht das ganze Lager.« Nervös setzte er hinzu: »Das sind immerhin 50 000 Menschen.«
Reineboth winkte hochmütig ab: »Kretiner sind’s, ein paar Salven von den Türmen und …«
»Und wenn die Amerikaner Fallschirmtruppen absetzen? Na, was dann?«
Reineboth zog die Schultern hoch. »Dann dürfte der Kladderadatsch hier ein Ende haben. – Ph«, machte er mit hochmütiger Gelassenheit, »ich schlage mich beizeiten nach Spanien durch.«
»Du bist ein aalglatter Hund«, fauchte Kluttig verächtlich. »Hier geht es schließlich nicht nur um deine Haut.«
»Richtig«, parierte Reineboth kühl, »es geht auch um die deine.«
Er grinste Kluttig ins Gesicht: »Nun wird es nichts mehr mit dem Sturmbannführer oder gar mit dem Kommandanten.« Höhnisch stieg Reineboth mit den Händen wie auf einer Leiter in die Luft. »Der Bart ist ab, Adele. Tröste dich, ich bin dein Leidensgenosse.«
Verärgert, dass Reineboth die ehrgeizigen Pläne so kaltschnäuzig bloßlegte, warf sich Kluttig auf einen Stuhl und stierte vor sich hin. Es war wirklich aus damit! Jetzt galt es nur noch, sich vor denen da drinnen zu sichern. Wütend schimpfte er auf den abwesenden Kommandanten: »Der Lahmarsch, der verfluchte! Er weiß genau, dass die Schweine im Lager organisiert sind. Statt sich ein Dutzend herauszugreifen und abzuknallen …«
»Fragt sich, ob er auch die Richtigen erwischt«, meinte Reineboth, »sonst geht es schief, mein Lieber. Auf den ersten Schuss die Richtigen, die Leitung, den Kopf.«
»Krämer!«, sagte Kluttig schnell.
»Das ist einer, und wer sind die anderen?«
Reineboth zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf die Ecke des Tisches. Lässig baumelte er mit dem aufgelegten Bein.
Kluttig zischte wütend: »Ich sperre den Hund ein und quetsche ihn aus wie eine Zitrone.«
Reineboth lächelte arrogant: »Naiv, Herr Lagerführer, sehr naiv. Erstens: Krämer singt nicht, aus dem holst du nicht mal einen Gedankenstrich raus. Zweitens: Sperrst du Krämer ein, warnst du die anderen.«
Er ging zur Lautsprecheranlage, dabei sagte er: »Schau dir den Burschen nur einmal richtig an, dann wirst du wissen, dass du aus dem keinen Furz herausholst.«
Er schaltete das Mikrophon ein: »Der Lagerälteste Krämer sofort zum Rapportführer.«
Als die Aufforderung durch sämtliche Lautsprecher des Lagers ging, befand sich Krämer bei Höfel in der Effektenkammer. Zweiling war noch nicht anwesend, und Krämer hatte sich mit Höfel in eine Fensterecke zurückgezogen, leise mit ihm sprechend. »Morgen geht der Transport ab. Du weißt Bescheid, André.«
Höfel nickte stumm. Zum zweiten Male kam die Durchsage. »Der Lagerälteste Krämer sofort zum Rapportführer, aber dalli.«
Krämer blickte unwillig schnaufend zum Lautsprecher. Höfel presste die Lippen zusammen.
Kluttig saß mit hohlem Brustkasten auf dem Stuhl, und Reineboth knuffte ihn ärgerlich am Oberarm: »Reiß dich am Riemen, Mann, oder soll der Kerl auf den ersten Blick sehen, wie dir unser neuester Sieg in die Knochen gefahren ist?« Kluttig erhob sich gehorsam und straffte die Uniform unter dem Koppel.
Wenige Minuten später stand Krämer im Zimmer. Mit einem Blick übersah er die Situation. An der Wand lehnte Kluttig, der ihn schon beim Eintreten misstrauisch betrachtet hatte, auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch, mehr liegend als sitzend, der zynische Jüngling. »Da ist was Neues für Sie, mal herhören.« Krämer kannte den lässigen, eitlen Ton. Reineboth stand ohne Eile auf, schob die Hände in die Hosentaschen und stiefelte spazierend durchs Zimmer. Er hatte es darauf angelegt, den Befehl des Kommandanten recht nebensächlich bekanntzugeben. Gerade die betonte Gleichgültigkeit und Kluttigs lauernde Blicke, die Krämer von der Seite her auf sich gerichtet fühlte, ließen ihn das Außergewöhnliche sofort erkennen.
Sechzehn Häftlinge, so schnarrte der arrogante Jüngling stiefelklappend, sechzehn langjährige politische Häftlinge sollten für den Sanitrupp genommen werden. In die Luft hineinsprechend und noch um einen Grad beiläufiger, setzte der spazierende Jüngling auseinander, dass der Sanitrupp bei Fliegeralarm außerhalb der äußeren Postenkette … Krämer stockte das Blut, aber er hatte sich in der Gewalt, und in seinem Gesicht verriet nichts, welche Gedanken schon durch sein Gehirn fegten: sechzehn gute Kumpels außerhalb der Postenkette … Kluttig stieß sich heftig von der Wand ab, baute sich vor Krämer auf und keifte ihn an: »Die Häftlinge gehen ohne Posten, verstanden?«
Nur schwer konnte er seine Erregung verbergen und zischte hinter zusammengepressten Zähnen hervor: »Machen Sie sich aber keine Illusionen, wir passen auf.« Er wusste selbst nicht, wie dieses Aufpassen vor sich gehen sollte. Sie blickten sich stumm an. Krämer fing den kalten Hass, der aus Kluttig stach, mit ruhigem Auge ab. Plötzlich überkam ihn eine triumphierende Sicherheit. Hinter diesem Hass in den farblosen, rotumränderten Augen sah er die Angst, die nackte Angst. Kluttig geriet immer mehr in Wut, doch Krämer war nicht so ruhig, wie es schien. Hinter seiner Stirn jagten sich die Kombinationen. Reineboth schien zu befürchten, dass Kluttig jeden Augenblick die Beherrschung verlieren würde, das versuchte er zu verhindern.
»Morgen früh bringen Sie die sechzehn Vögel zu mir.« Krämer, von Reineboth im Rücken angesprochen, drehte sich zu diesem um, antwortete: »Jawohl.«
»Sie werden geschmückt mit Verbandskästen, Gasmasken und Stahlhelmen.«
{In Krämer arbeitete es.}
»Jawohl.«
Der Jüngling kam mit schlendernden Schritten auf Krämer zu und fasste ihn vor der Brust. »Wenn einer von den Vögeln davonfliegen sollte …« Hinterhältig lächelnd fügte Reineboth mit gefährlicher Liebenswürdigkeit hinzu: »Dann halten wir uns schadlos.«
Ehe Krämer antworten konnte, stand Kluttig vor ihm und knarrte ihn einschüchternd an: »Am ganzen Lager!«
»Jawohl.« Krämers ständiges Wort des Gehorsams gab Kluttig keinerlei Angriffsfläche, er keifte: »Ob Sie das kapiert haben, will ich wissen.«
»Jawohl.«
Kluttig wollte losbrechen, aber Krämers Gelassenheit erstickte alles in ihm, er brachte nur ein gekrächztes: »Wegtreten!« hervor. Doch als Krämer zur Tür ging, verlor Kluttig die Beherrschung, er schrie ihm nach: »Hierbleiben!«, und ging, als Krämer sich verwundert umdrehte, auf ihn zu, trat ganz nah an ihn heran, fragte hinterhältig: »Sie waren doch mal Funktionär?«
Krämer dachte schnell: Was will er? und antwortete: »Jawohl.«
»Kommunistischer?«
»Jawohl.« Krämers Freimütigkeit machte Kluttig schlingern. »Und das sagen Sie mir so, so …« Um Krämers Mund huschte ein kaum merkliches Lächeln. »Deshalb bin ich doch hier …«
»Nein!«, entgegnete Kluttig scharf, er hatte sich wieder gefangen. »Sie sind hier, damit Sie keine Verschwörerbande aufziehen können, keine Geheimorganisationen, wie Sie es hier im Lager machen!« Kluttig bohrte seinen Blick in Krämers Augen. Hinter Kluttig stand der Jüngling, den Daumen hinter die Knopfleiste der Uniformjacke geschoben, und wiegte sich in den Knien.
Geheimorganisation? Krämer hielt dem bohrenden Blick stand. Wussten sie etwas? Sofort wurde ihm klar, dass Kluttig nur auf den Busch geklopft hatte. So also ist es, dachte Krämer, ihr seht in mir den Organisator! Da seid ihr schiefgewickelt. Er hatte das Gefühl, als ob er mit seinem breiten Rücken schützend vor Bochow stand, ruhig entgegnete er: »Die Organisation, Herr Hauptsturmführer, haben Sie doch selbst ins Leben gerufen.« Maßlos verblüfft brachte Kluttig nur ein gedehntes »Wa-aas?« hervor, und Reineboth trat um einen Schritt näher. »Ach nee.«
Krämer erkannte den Vorteil seines kühnen Vorstoßes und festigte ihn. »Sie ist durchaus keine geheime. Das Lager befindet sich {seit Jahren} in Selbstverwaltung der Häftlinge, und wir führen alle Befehle der Lagerführung strikt durch.«
Kluttig sah Reineboth hilfesuchend an, der lächelte hämisch, und es schien, als ob er sich über ihn amüsiere, das brachte Kluttig auf, und er belferte auf Krämer ein. »Jawohl! Und Sie haben selbstverständlich alle Posten mit Ihren Leuten besetzt.«
»Der Befehl der Lagerführung lautete, anständige und gewissenhafte Häftlinge mit der Verwaltung zu betrauen.« – »Kommunisten, nicht wahr?« Krämer parierte unerschrocken: »Jeder einzelne Häftling wurde der Lagerführung gemeldet und vorgestellt und von ihr bestätigt.« Kluttig kam Krämer nicht bei, wütend stiefelte er durchs Zimmer und keifte: »Halunken, Gesindel, Verbrecher sind sie alle!«
Krämer stand reglos und ließ Kluttigs Wut schweigend an sich abfallen. Der trat wieder an ihn heran und fuchtelte mit den Händen: »Wir wissen Bescheid! Glauben Sie nicht, dass wir dumm sind.« Reineboth trat zwischen Krämer und den geifernden Kluttig.
»Wegtreten«, näselte er.
Fauchend stürzte Kluttig auf die Tür zu, die sich hinter Krämer geschlossen hatte. »Der Hund, der verfluchte …!« Reineboth, gegen den Tisch gelehnt, meinte mit mokantem Lächeln: »Ich sagte es dir, aus dem kriegst du keinen Furz heraus.«
Kluttig stiefelte mit schweren Schritten durchs Zimmer.
»Ich möchte nicht wissen, was für Kerle er sich für diesen … diesen Sanitrupp aussucht …« Er schlug mit der Faust durch die Luft. »In die Fresse hätte ich ihn am liebsten gehauen! Abgeschossen den Hund!«
Reineboth rekelte sich vom Tisch los.
»Du machst aber auch alles verkehrt, Herr Lagerführer, warum brüllst du ihn an? Der Kerl hat doch längst schon Lunte gerochen.«
Kluttig stieg noch immer wütend umher. »Das soll er, der Hund! Er soll wissen, dass wir ihm auf der Spur sind!«
»Falsch.«
Kluttig blieb mit einem Ruck stehen und glotzte den Jüngling an, seine Wut kehrte sich plötzlich gegen diesen.
»Willst du mir etwa beibringen, wie ich mit dem Gesindel umzugehen habe?«
Sein keifender Ton machte auf Reineboth keinen Eindruck, er zündete sich eine neue Zigarette an und stieß den Rauch gedankenvoll nach der Decke aus.
»Die Bolschewiken haben bestimmt ihre geheime Organisation, einverstanden. Krämer ist sicher eine ihrer wichtigsten Figuren, ebenfalls einverstanden.« Er schlenderte auf Kluttig zu.
»Mal herhören, Herr Hauptsturmführer. Unter vier Augen, Herr Lagerführer. Der Befehl unseres Herrn Diplomaten schmeckt uns allen beiden nicht, stimmt’s? Wenn der die Mäuse rauslässt, dann müssen wir eben die Falle zumachen. Wir brauchen den Kopf! Mit einem einzigen Schlag müssen wir ihn abhacken!«
Er machte eine geruckte Kopfbewegung in Richtung zum Lager.
»Es sind doch schließlich nicht alles Bolschewiken. – Da muss man ihnen einen in den Pelz setzen. Einen Harmlosen, mit freundlichem Gesicht. Aber eine gute Nase muss er haben, schnuppern muss er können, kapiert?«
Er grinste Kluttig mit verschmitztem Komplicenlächeln an. Bei diesem schien der Gedanke zu zünden.
»Woher willst du so schnell einen Kerl nehmen, der …«
Reineboth erwiderte rasch und bestimmt:
»Überlass das mir, ich kriege es hin.«
Kluttig gab sich Reineboth, als dem Klügeren, unterlegen; er lachte auf:
»Du bist wirklich ein aalglatter Hund.«
Diesmal nahm es Reineboth lächelnd als Anerkennung für sich in Anspruch. »Schließlich sind wir auch Diplomaten …«
In jenem Pferdestall des Kleinen Lagers, in welchem Jankowski untergebracht war, herrschte wüster Lärm. Zu einem Klumpen zusammengeballt, drängten sich die Insassen um den Stubendienst, der aus einem mächtigen Kessel Suppe ausgab. In allen Sprachen schrien, kreischten, schnatterten und gestikulierten sie durcheinander. Die »Eingesessenen« stießen die verhungerten Zugänge vom Kessel zurück. Einer verdrängte den andern, der Blockälteste schrie dazwischen. Immer wieder versuchte er, Ordnung in den gierigen Haufen zu bringen.
»Geht doch endlich zurück, ihr Rindviecher, ihr Arschlöcher! Stellt euch in der Reihe auf!«
Niemand verstand ihn, niemand beachtete ihn. Die Zurückgezerrten stürzten umso wilder auf den Kessel. Andere von den Zugängen umlauerten einen, der eine Schüssel hatte und den eben empfangenen Schlag eilig auslöffelte oder die Suppe, wenn er keinen Löffel besaß, einfach hinunterkippte. Sie lief ihm zum Munde heraus und bekleckerte die Jacke. Hände griffen nach der Schüssel, noch ehe der Besitzer den letzten Schluck getan, zerrten sie hin und her. Die Schüssel fiel zu Boden, schepperte. Alles stürzte sich auf sie, und der Glückliche, der sie erwischte, presste sie fest an sich und arbeitete sich durch den Haufen zum Kessel durch, eine Traube zerlumpter Gestalten mit sich ziehend, die nur auf den letzten Schluck warteten, um die Schüssel an sich zu reißen.
Der einzig Unbeteiligte war der Stubendienst selbst. Gleichmütig schöpfte er aus, ohne aufzusehen. Wenn es ihm zu toll wurde, erzwang er sich mit Ellenbogen und Hinterteil Platz.
Pippig kam herein. Der geplagte Blockälteste, ein untersetzter Mann mit kugelrundem Kopf, warf in verzweifelter Resignation die Arme hoch, glücklich, in Pippig wenigstens einen vernünftigen Menschen zu sehen. Er krächzte:
»Jeden Tag dasselbe, jeden Tag dasselbe! Wenn wir wenigstens genug Schüsseln hätten! Die Kerle sind nicht zur Vernunft zu bringen.«
{Mit wenig Hoffnung auf Trost für die Armen entgegnete Pippig}: »Sperr sie raus und lass nur so viel Mann an den Kessel, wie du Schüsseln hast.«
»Dann brüllen sie draußen wie die Löwen.«
Pippig wusste keinen Trost mehr, er spähte mit langem Hals in dem Gewirr umher.
»Hast du einen Jankowski unter den Zugängen?«
»Wird schon einer da sein.«
Der Blockälteste versuchte, den Lärm zu überschreien.
»Jankowski!« Aber es war nur ein klägliches Gekrächz.
Pippig hielt selber Umschau nach dem Polen. Jankowski stand in einer Ecke, hatte die Hände unter dem Kinn verkrampft und schaute dem Schauspiel zu. Als er Pippig gewahrte, ging ein Erkennen über sein Gesicht; er lief auf den Deutschen zu.
»Du! Du! Wo ist Kind?«
Pippig hielt warnend den Finger an den Mund und winkte Jankowski, mit ihm zu kommen.
Krämer hatte mit Pröll zu tun, der die Liste für den Transport {nach Bergen-Belsen} fertig machte.
Eintausend Insassen des Kleinen Lagers mussten fortgeschickt werden. Buchenwald brauchte Luft. {Es kam nicht auf die Menschen an, sondern nur auf die Zahl.} Pröll hatte die Gesamtstärke des Transports auf die einzelnen Blocks im Kleinen Lager aufgeteilt, und die Blockältesten würden aufatmen. Brachte ihnen doch der Transport wieder ein wenig Platz in den überfüllten Pferdeställen.
Die Zusammenstellung der einzelnen Trupps blieb den Blockältesten überlassen, die mit ihren Stubendiensten und Blockschreibern gemeinsam unter den Insassen {Auslese hielten}. Es waren bei jedem Transport immer die Hinfälligsten, die bestimmt wurden. {Menschenschrott, der auf einem Haufen zusammenkam. Hätte man so einem Blockältesten zugerufen: »Mann, was tust du da? Das sind doch alles Halbtote, die du zusammentreibst!«, dann würde er verwundert geantwortet haben: »Eben deshalb. Was sollen wir damit?«}
Das erbarmungslose Gesetz der Notwehr hielt traurige {Ausschau unter den Ärmsten der Armen. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins …}.
Ein unangenehmes Schweigen war zwischen den beiden Lagerältesten. Pröll stand neben dem am Tisch sitzenden Krämer, der mit vorgeneigtem Kopf die Transportliste studierte, die Pröll ihm gegeben hatte. Von unten her sah er zu Pröll hoch und zog dabei die Stirn kraus. Die beiden sagten nichts, doch hinter jeder Stirn schienen die gleichen Gedanken zu sein. In Prölls Mundwinkeln hatte sich ein verlegenes Lächeln versteckt, das jetzt schüchtern hervorkroch und sich kräuselte.
»Das sind wieder tausend {Leichen, die auf die Reise gehen}…«
Krämer schob die Unterlippe hoch, drückte die Ellenbogen breit ausladend auf den Tisch und blickte auf seine übereinandergelegten Hände.
»Manchmal denke ich«, sagte er leise, »manchmal denke ich, wir sind doch eine verdammt hartgesottene Gesellschaft geworden …«
Obwohl Pröll verstanden hatte, fragte er dennoch:
»Wir? Wen meinst du?«
»Uns!«, antwortete Krämer schonungslos und stand auf, trat zum Fenster, steckte die Hände in die Hosentaschen und blickte hinaus auf den weiten Appellplatz. Dort oben lag das breitgestreckte flache Torgebäude mit dem Turm. Zwölf riesige Scheinwerfer waren an seinem Dach montiert. Sie spien ihr unbarmherziges Licht über den Platz in die Finsternis, wenn abends oder morgens das Lager angetreten war, und zersäbelten mit ihren grellen Messern die müden Gesichter. Rund um den Turm der Laufgang, auf dem sich die Posten jetzt in der märzlichen Morgenkühle die Beine vertraten. Schnuppernd steckte das schwere Maschinengewehr seine Schnauze über das Geländer des Ganges ins Lager hinein.
Häftlinge, einzeln, zu zweien oder in Rudeln, gingen auf dem Appellplatz hin und her, zum Tor hinaus oder kamen ins Lager herein. In strammer Haltung, mit der Mütze in der Hand, meldeten sie sich am Schalterfenster. Der Blockführer, der den Tordienst versah, fertigte sie ab. Der hatte wieder Stinkwut, brüllte herum, trat den Häftlingen ins Kreuz, wuchtete die Faust in manches Genick.
Krämer sah es ohne Anteilnahme. {Das tägliche Bild.} Er dachte an den Auftrag, der ihn so unzufrieden gemacht hatte. Was war um das Kind? Gefahr? Um das Kind? Ausgeschlossen! Es gab bestimmt einen Zusammenhang zwischen ihm und Höfel. Wenn man ihn nur wüsste, dann könnte man das Kind vielleicht … Diese verdammte Heimlichtuerei des Bochow … Blind und unwissend ließ er ihn.
»Frag nicht, tu, was ich dir sage. {Die Partei verlangt es.}«
{Krämer zog die Brauen zusammen. Verlangt die Partei, dass ich ein Kind in den Tod schicke? Bergen-Belsen … Wer nach dort kam …} Krämer hatte den Arm gegen das Fensterkreuz gestützt, jetzt schlug er mit der Faust gegen das Holz.
»Was ist mit dir los?«, hörte er Prölls Stimme hinter sich.
Er schreckte auf und drehte sich um.
»Nichts«, sagte er knapp. Pröll {vermutete, dass Krämer über das Schicksal des Transportes nachgedacht hatte, und} wollte ihn trösten.
»Es wird der letzte Transport sein. Vielleicht fängt ihn der Amerikaner schon ab …« Krämer nickte stumm, gab Pröll die Liste zurück.
»Was ich noch sagen wollte, kümmere dich darum, dass die Zugänge von gestern, die Polen, verstehst du, mit in den Transport hineinkommen …«
Im Schreibbüro der Effektenkammer hockten die Häftlinge des Kommandos um Jankowski herum. Pippig hatte ihm ein Stück Brot in die Tasche gesteckt. Jankowski brach heimlich Stück um Stück ab und schob die Bissen verstohlen in den Mund; er schämte sich seines Hungers.
»Kau nur zu, alter Junge«, munterte ihn Pippig auf, »heute gibt’s bei uns Klöße mit Meerrettichtunke.« Damit schob er Jankowski noch eine Tasse Kaffee unter die Nase. {Jankowski lächelte Pippig dankbar an. Höfel, der Jankowski gegenüber saß, ließ ihn erst essen, und dann musste Kropinski} dolmetschen. Die beiden Polen sprachen miteinander, und Kropinski übersetzte.
»Er sagen, dass er nicht ist Vater von Kind. Vater seien tot und Mutter auch in Auschwitz und vergast. Er sagen, ist Kind gewesen alt drei Monate, wo ist gekommen mit Vater und Mutter aus Ghetto von Warszawa ins Lager Auschwitz. Er sagen, haben SS gemacht alle Kinder tot und ist gewesen kleines Kind immer versteckt.«
Jankowski unterbrach die Übersetzung und redete eifrig auf Kropinski ein. Dieser dolmetschte weiter:
»Er sagen, kleines Kind nicht wissen, was ist Menschen. Es nur wissen, was ist SS und was ist Häftlinge. Er sagen, aber kleines Kind wissen sehr gut, wenn kommen SS, und sich verstecken und immer sein ganz still.«
Kropinski schwieg. Auch die anderen schwiegen und senkten die Köpfe. {Jankowski blickte ängstlich umher.} Höfel legte stumm seine Hand auf die des Polen, und dieser lächelte zart, man hatte ihn richtig verstanden.
»Marian«, forderte Höfel Kropinski auf, »frage ihn, wie der Junge heißt.«
Der ließ sich die Frage beantworten und übersetzte:
»Kleines Kind heißen Stephan Cyliak, und Vater von kleines Kind ist gewesen Rechtsanwalt in Warschawa.«
Höfels Blick ruhte in tiefem Mitgefühl auf dem kleinen schwächlichen Mann, der sicher schon hoch in die fünfzig war.
Voller Vertrauen sah sich Jankowski im Kreise der Häftlinge um, die so freundlich zu ihm waren, und aus seinem bescheidenen Lächeln sprach die Zuversicht, dass das Kind nach allen Gefahren nun endlich geborgen sei. Höfel wurde das Herz schwer. Der Pole ahnte nicht, weshalb er ihn hatte holen lassen; sicher freute er sich, gute Kameraden gefunden zu haben. Höfel dachte daran, dass die »guten Kameraden« dem Polen sagen würden: Nimm dein Kind wieder mit, wir können es hier nicht gebrauchen. Und der kleine stille Mann wird ohne Murren seine Last auf sich nehmen und sie weiterschleppen, weiterschleppen, ängstlich bemüht, den kleinen Lebensfunken zu schützen, damit er nicht zertreten werde von einem SS-Stiefel. Jankowski mochte es wohl fühlen, dass er von dem Deutschen auf besondere Art betrachtet wurde, er lächelte Höfel an. Der aber versank immer tiefer in seine Gedanken. Da schleppt ein hilfloser Mensch ein Stückchen Leben mit sich herum, das er dem Auschwitzer Tod aus den Fingern gelistet hat, nur, um es {noch sicherer dem Bergen-Belsener Tod zuzutragen}. Welche Sinnlosigkeit! {Der wird ihm} feixend den Koffer aus der Hand nehmen: Schau, schau, was hast du mir Schönes mitgebracht … {Denn dass der Transport nach Bergen-Belsen gehen würde, war Höfel klar, und in ihm rebellierte alles dagegen.} Wenn diesem Widersinn ein Ende gemacht werden sollte, dann musste es jetzt und hier geschehen. Nur hier und nirgendwo sonst auf der Welt bestand die Wahrscheinlichkeit, das Kind zu retten. Höfel blickte sich um. Es war Schweigen eingetreten. Keiner der Häftlinge wusste etwas zu sagen. Höfels Blick blieb an Pippig hängen. Sie sahen sich stumm in die Augen. Die schwere Last der Entscheidung zwischen zwei Pflichten drückte auf Höfels Herz, und schmerzhaft erkannte er, wie allein er in diesem Augenblick war. Pippigs stummer Blick zog ihn an, und Höfel war versucht, Pippig in stillem Einverständnis zuzunicken. Aber er brachte es nur zu einem tiefen, schweren Atemzug und stand auf.
»Bleibt hier«, sagte er zu den Häftlingen, »passt auf, falls Zweiling unverhofft kommen sollte.«
Mit Jankowski, Kropinski und Pippig ging er nach hinten in den Winkel. Als das Kind Jankowski sah, kam es ihm entgegen und ließ sich wie ein zutrauliches Hündchen auf den Arm heben.
Jankowski drückte das Kind schweigend an sich und weinte ohne Laut und Tränen. Eine bedrückende Stille zwischen den Männern, die Pippig nicht lange ertragen konnte.
»Nu macht bloß keine Trauerfeier«, sagte er derb, obwohl ihm das Schlucken schwerfiel. Jankowski fragte Höfel etwas, ohne daran zu denken, dass der Deutsche ihn nicht verstehen konnte. Kropinski schaltete sich ein:
»Er fragen, ob bleiben kann kleines Kind hier?«
Jetzt hätte Höfel dem Polen sagen müssen, dass er morgen auf Transport gehen würde und das Kind …, aber er brachte kein Wort heraus und war erleichtert, als Pippig ihm die Antwort abnahm. Der klopfte Jankowski beruhigend auf den Rücken, das Kind bliebe hier, selbstverständlich, dabei blickte er Höfel herausfordernd an. Doch dieser schwieg und hatte nicht die Kraft, Pippig zu widersprechen. Angst überfiel ihn mit einem Male. Mit seinem Schweigen hatte er den ersten Schritt getan, Bochows Anweisung zu hintergehen. Zwar beschwichtigte er sich selbst und redete sich ein, dass es morgen noch immer Zeit wäre, das Kind an den Polen zurückzugeben, doch fühlte er auch, wie ihm der feste Halt seiner Verpflichtung immer mehr entglitt.
Nur als Pippig, der Höfels Schweigen nach seinen Wünschen deutete, Jankowski zulachte: »Mach dir man keinen Kummer, alter Junge, wir verstehen was von Kinderpflege«, fuhr Höfel ihn barsch an: »Rede nicht so ’n Unsinn.«
Doch der Protest war viel zu schwach, als dass er Pippig hätte überzeugen können. Der lachte nur.
Jankowski setzte das Kind zu Boden und schüttelte Höfel dankbar die Hände, glücklich auf ihn einsprudelnd. Und Höfel musste es geschehen lassen.
Durch einen Häftling der Schreibstube hatte Krämer Bochow zu sich holen lassen, nachdem Pröll ins Kleine Lager gegangen war.
»Bist du mit Höfel klargekommen?«, war Bochows erste Frage.
»Das mache ich noch«, entgegnete Krämer unwirsch. »Hör lieber zu, es tut sich was.«
Er teilte Bochow in knappen Worten mit, was sich mit Kluttig und Reineboth ereignet hatte, und gab ihm den Befehl des Kommandanten bekannt.
»Sie wittern etwas, das ist klar, aber sie wissen nichts Bestimmtes. Solange sie mich als den maßgeblichen Mann im Verdacht haben, seid ihr sicher«, schloss Krämer seinen Bericht. Bochow hatte aufmerksam zugehört.
»Also, sie suchen nach uns«, sprach er seine Gedanken aus, »na schön. Solange wir keine Fehler machen, werden sie uns nicht finden. Aber dass du der Prellbock bist, will mir gar nicht gefallen.«
»Hab keine Bange, mit meinem breiten Buckel decke ich euch noch alle ab.« Bochow sah Krämer prüfend an, er hatte die leise Ironie aus dessen Worten herausgehört. Ein wenig irritiert sagte er darum:
»Jaja, Walter, ich weiß. Ich habe Vertrauen zu dir, das heißt: wir haben Vertrauen zu dir. Genügt dir das?«
Krämer wandte sich von Bochow schroff ab und setzte sich an seinen Tisch. »Nein!«
Bochow horchte auf. »Was soll das?«
Krämer hielt sich nicht mehr zurück. »Warum soll ich ein kleines Kind auf Transport {nach Bergen-Belsen} geben? {Nach Bergen-Belsen! Mensch!} Bei uns ist es am sichersten! Begreifst du denn nicht? Was ist mit dem Kind?«
Bochow schlug die Faust in die Hand: »Mach es mir nicht so schwer, Walter! Mit dem Kind ist gar nichts!«
»Umso schlimmer!« Krämer stand auf und ging hin und her. Sichtlich kämpfte er die Erregung nieder, blieb stehen und sah finster vor sich hin.
»Bei aller Disziplin, das geht mir gegen den Strich«, sagte er dumpf, »kann man es nicht anders machen?«
Bochow antwortete nicht, er hob, keinen Ausweg wissend, die Hände. Krämer trat an ihn heran.
»Es geht um Höfel, nicht wahr?«
Bochow wich ihm aus.
»Du belastet dich nur mit solchen Fragen.«
»Vertrauen habt ihr zu mir?«, höhnte Krämer, »ich scheiß darauf!«
»Walter!«
»Ach was! Unsinn! Blödsinn! Deine verdammte Heimlichtuerei! Illegalitätsfimmel!«
»Walter! Zum Donnerwetter! Deiner eigenen Sicherheit wegen sollst du nie mehr von den Dingen wissen, als für dich notwendig ist, verstehst du es nicht? Es geht um deinen Schutz!«
»Um den Schutz eines Kindes geht es! {Du verlangst von mir, du – ihr – was weiß ich – ihr verlangt von mir, dass ich blind und stur ein Kind in den Tod schicke!}«
{»Wer sagt, dass das Kind in den Tod …«
»Bergen-Belsen! Genügt das? Ich bin doch kein kalter Mörder!«
Mit einer scharfen Zurechtweisung schnitt Bochow Krämers Zorn ab, der bedrängte ihn und} verlegte sich aufs Bitten:
»Geht es nicht anders mit dem Kind? Ich verstecke es! Na? Hm? Verlass dich darauf, bei mir ist es sicher.«
Für einen Augenblick schien es, als wolle Bochow nachgeben, doch dann wehrte er umso heftiger ab:
»Ausgeschlossen! Ganz ausgeschlossen! Das Kind muss aus dem Lager! {Schnellstens!} Sofort!«
{Krämer presste verzweifelt die Lippen zusammen. In einem starken Solidaritätsgefühl, das ihm das Herz warm machte, rüttelte Bochow den finster vor sich Hinstarrenden an der Schulter.}
»Es mag hart sein, was ich von dir verlange, zugegeben. Aber die Bedingungen sind hart. Natürlich geht es um Höfel, warum soll ich es dir verschweigen, wenn du es doch weißt. Ich will dir noch mehr sagen. Du sollst wissen, dass ich nicht am Illegalitätsfimmel leide. Höfel sitzt an einem empfindlichen Punkt. Hör zu, Walter! An einem sehr empfindlichen. Wenn hier die Kette reißt, dann können alle Glieder fallen.« Bochow schwieg einen Augenblick. Seine Worte hatten Krämer stumm gemacht, er sah finster vor sich hin. Um Krämer das Unmögliche seines Wunsches deutlich zu machen, nahm Bochow dessen Gedanken auf.
»Du nimmst Höfel das Kind weg und versteckst es irgendwo. Gut. Kannst du damit auch die Tatsache verstecken, dass das Kind von Höfel kommt? Ein Zufall kommt dazwischen, und das Kind wird gefunden …«
Krämer hob die Hände. Bochow ließ sich nicht unterbrechen.
»Ein Zufall nur, Walter, wir haben doch Erfahrung, Mann. Eine Kleinigkeit genügt, um die sicherste Sache – siehst du, eine solche Kleinigkeit ist das Kind. Du kannst es doch nicht vergraben wie eine tote Katze. Irgendeiner wird um das Kind sein müssen. Der Irgendeine kommt in den Bunker … und verrät dich.«
Jetzt ließ sich Krämer nicht mehr zurückhalten, er lachte breit und satt.
»Die schlagen mich eher tot, als dass ich …«
»Ich glaube dir, Walter«, entgegnete Bochow mit Wärme. »Ich glaube dir unbedingt. Und was ist dann, wenn du tot bist?«
»Na, was ist dann«, triumphierte Krämer.
»Dann ist noch immer das Kind.«
Und wieder triumphierte Krämer: »Na also!«
Bochow lächelte schmerzlich:
»Siebentausend sowjetische Offiziere haben bei uns den Genickschuss erhalten, und keiner von ihnen ahnte, dass der SS-Mann im Arztkittel, der ihn an die Messlatte stellte, sein Mörder war …«
»Was hat das mit dem Kind zu tun?«, polterte Krämer unwillig.
Mit starker Eindringlichkeit fuhr Bochow fort:
»Von dir erfahren sie nichts mehr, du bist tot. Aber du kennst doch ihre Methoden. Wer sagt, ob sie das Kind nicht nach Weimar schleppen. Dort wird es irgendeiner instruierten Nazitante auf den Schoß gesetzt: du kommst aus dem Lager Buchenwald, du armes Wurm. Wie heißt denn der gute Onkel, der dich vor der bösen SS versteckt hat?«
Krämer horchte auf. »Und die gute Tante fragt so lange auf das Kind ein, auf Deutsch, auf Russisch, auf Polnisch, je nachdem, was das Kind versteht, bis es … Und dann, Walter, ist niemand mehr da, der Höfel mit seinem breiten Buckel abdeckt …« Bochow hatte genug gesagt. Er schob die Hände in die Taschen, und die beiden Männer schwiegen, bis endlich Krämer nach schwerem Entschluss sagte: »Ich … gehe nachher zu Höfel …«
Er hatte sich durchgerungen. Bochow schenkte dem Freund ein warmes Lächeln.
»Es ist ja nicht gesagt, dass das Kind {in Bergen-Belsen} … Ich meine, hat es der Pole bis hierher gebracht, dann wird er es auch noch weiter bringen. {Glück und Zufall, Walter.} Sosehr wir den Zufall {hier} fürchten, so sehr wollen wir ihn {dort} erhoffen. Mehr können wir nicht tun.«
Krämer nickte stumm. Für Bochow bedeutete es den Abschluss dieser Sache.
»Der Sanitrupp«, sagte er, zu dem anderen Problem übergehend, »hier müssen wir sehr schnell schalten.« Sein erster Gedanke war gewesen, den Trupp als Nachrichtentruppe einzubauen. Die Gelegenheit war zu verlockend. Doch dann waren ihm Zweifel gekommen. Kluttig suchte. Bochow rieb sich den borstigen Schädel.
»Wüsste man nur, was sie wollen.«
»Die Sache wird schon in Ordnung gehen«, meinte Krämer, »der Befehl kommt vom Kommandanten.«
Bochow wedelte misstrauisch mit der Hand.
»Was Schwahl befiehlt und Kluttig daraus macht, ist nie dasselbe.«
»Darum sage ich«, fiel Krämer rasch ein, »überlasst mir den Sanitrupp. Überlasst ihn mir ganz.«
Bochow sah Krämer groß an.
»Was willst du denn damit?«
Krämer lächelte verschmitzt.
»Dasselbe wie du.«
»Wie ich?«, heuchelte Bochow.
»Mensch, nun spiele nicht wieder den Illegalen«, schimpfte Krämer, »davon habe ich genug. Mit dem Sanitrupp geht dir doch was im Kopf herum, na?« Krämer tippte sich an die Schläfe. »Vielleicht ist hier drinnen dasselbe.« Bochow fühlte sich ertappt, er strich sich mit beiden Händen über die Backen.
Krämer nagelte ihn fest: »Siehst du?! – Was wir zwei uns denken, das denken sich die Kumpel, die ich mir heute noch suchen werde, auch. Glaubst du, dass sie erst auf mein Augenzwinkern warten? Die machen sowieso die Pupillen auf, wenn sie im Gelände spazieren gehen. Mit und ohne illegale Leitung …« Um Bochow zu beruhigen, setzte er schnell hinzu: »Von der sie keine Ahnung haben werden, verlass dich drauf. Was sie da draußen ausbaldowern, das erfahre ich sowieso. Willst du erst wieder einen umständlichen Meldeapparat bauen, wenn es bei mir über die direkte Leitung funken kann?«
Bochow stimmte nicht sofort zu, und Krämer ließ ihm Zeit, nachzudenken. Der Vorschlag war vernünftig. Doch ohne Zustimmung des ILK durfte Bochow nicht darauf eingehen, wurde doch damit die bisher passive Rolle des Lagerältesten in eine aktive verwandelt. Krämer merkte Bochows Nachdenklichkeit.
»Überlegt es euch«, sagte er, »aber es muss schnell gehen.«
Bochow dachte bereits darüber nach, wie sich eine sofortige Aussprache mit dem ILK herbeiführen ließ. Bogorski war leicht zu erreichen, auch Peter van Dalen, der Holländer. Wie aber kam man an Pribula und Kodiczek heran? Sie befanden sich zwar im Lager und arbeiteten in einer der Optikerbaracken, die auf dem Appellplatz aufgestellt waren und in denen Zielgeräte hergestellt wurden. Zu diesen Baracken war der Zutritt streng verboten. Auch Riomand, der Franzose, war nicht zu verständigen. Er steckte im Küchenkommando des Offizierskasinos außerhalb des Lagers. Die so schwer Erreichbaren konnten nur durch eine Leitungskontrolle benachrichtigt werden. Bochow entschied sich nicht gern zu dieser besonderen Form der Benachrichtigung, die nur dringenden Fällen vorbehalten blieb. Eile und Wichtigkeit jedoch geboten es für diesmal. Bochow sah Krämer fragend an:
»Kannst du eine Leitungskontrolle machen lassen?«
»Kann ich«, nickte Krämer, der sofort wusste, worum es ging. Einen solchen Auftrag hatte er schon einmal durchgeführt.
{Bochow hatte sich entschlossen.}
»Also merke dir die Zahlen: Drei, Vier, Fünf, am Schluss die Acht.«
Krämer nickte wieder. »Das ILK«, sagte er verschmitzt. In der Werkstatt der Lagerelektriker stand ein Häftling am Schraubstock und feilte besinnlich an einem Metallstück herum.
Krämer trat ein.
»Schüpp da?«, fragte er. Der Häftling wies mit der Feile über die Schulter nach einem Holzverschlag im Hintergrund der Werkstatt und sagte, als er Krämers unwilliges Gesicht bemerkte:
»Ist niemand drin.«
Schüpp saß am Tisch {des Scharführers, der dem Kommando vorstand,} und bastelte an einem Weckerwerk herum. Er sah zu dem eintretenden Krämer hoch. {Die runde, schwarz gefasste Brille, die kugelig-runden Augen und der kleine, runde Mund gaben seinem Gesicht etwas treuherzig Erstauntes.}
»Wir brauchen eine Leitungskontrolle, Heinrich«, sagte Krämer.
Schüpp verstand.
»Machen wir, und zwar sofort.«
Krämer trat einen Schritt näher. »Folgende Zahlen: Drei, Vier, Fünf, am Schluss die Acht.«
Schüpp stand auf. Nach der Bedeutung der Zahlen fragte er nicht. Sie waren für ihn eine wichtige Mitteilung von irgendwem an irgendwen. Er schob den Kram auf dem Tisch zusammen und griff nach seinem Werkzeugkasten.
»Ich gehe gleich los, Walter.«
»Das muss aber klappen, hörst du?«
Schüpp machte sein erstauntes Gesicht.
»Bei mir klappt es doch immer.«
Von Schüpp ging Krämer zu Höfel. Zweiling war da. Er kam sofort aus seinem Zimmer, als er den Lagerältesten mit Höfel an der langen Quertafel stehen sah.
»Was is ’n los?«
»{Nichts weiter.} Höfel soll Effekten fertig machen«, entgegnete Krämer geistesgegenwärtig, »morgen geht ein Transport.«
»Wohin denn?« Zweiling schob neugierig die Zunge auf die Unterlippe.
»Ich weiß es nicht.«
Zweiling bleckte die Zähne:
»Reden Se bloß nicht. Ihr wisst doch mehr als wir.«
»Wieso?«, stellte Krämer sich dumm.
»Ich möchte nicht hinter eure Schliche kommen.« Er stakte in sein Zimmer zurück.
Krämer sah ihm nach, brummte:
»Der hört wohl die Nachtigallen trapsen …«
Zwischen den Zähnen flüsterte er: »Ich komme von Bochow. Muss mit dir reden. Gehen wir vor die Tür.«
Pippig, mit einem Packen Kleidungsstücke auf dem Arm, kam aus dem Kleiderraum zur Tafel, er hatte Krämers letzte Worte aufgefangen und blickte den beiden misstrauisch nach, die die Kammer verließen. Sie standen draußen auf dem Podest der Steintreppe, die links und rechts an der Wand des Gebäudes {zur Effektenkammer} im ersten Stock hinaufführte. Krämer lehnte sich gegen das Eisengeländer des Podestes.
»Kurz und klar, André, ich weiß über alles Bescheid. Morgen geht der Transport. Der Jankowski nimmt sein Kind wieder mit, verstanden?«
Höfel benahm sich wie ein Verurteilter, er ließ den Kopf hängen.
»Geht es nicht anders mit dem Kind?«, fragte er leise.
Es waren dieselben Worte der gleichen Frage, wie sie Krämer an Bochow gerichtet hatte. So musste es also auf der ganzen Welt keine anderen Worte in dieser Ausweglosigkeit geben. Und mit den gleichen Worten Bochows antwortete nun auch Krämer:
»Ausgeschlossen. Ganz ausgeschlossen!«
Erst nach einer langen Zeit fragte Höfel:
»{Geht es nach Bergen-Belsen}?«
Gepeinigt klopfte Krämer mit den Handballen auf das Rohr des Geländers, antwortete nicht. Höfel sah ihn an.
»Walter …«
Krämer wurde ungeduldig.
»Wir können hier nicht so lange herumstehen. Du weißt besser als ich, was mit dir los ist. Mach keine Zicken. Ich habe mit dem Transport genug zu tun morgen, kann mich nicht drum kümmern, ob es mit dem Kind in Ordnung geht. Also …«
Er ließ Höfel stehen und stieg die Treppe hinab. Höfel drehte sich wie geschoben um und ging in die Kammer zurück.
»Was wollte der von dir?«, forschte Pippig. Höfel gab keine Antwort. Sein Gesicht war finster. Er ging an Pippig vorbei in das Schreibbüro hinein.
Der nasskalte Wind fauchte zwischen den Baracken, und Krämer kroch mit den Händen tiefer in die Taschen seines Mantels. Er überquerte einen Weg, der nach links hinauf den Blick auf das Krematorium {an der Ostseite des Appellplatzes} freigab auf das unheimliche Gebäude mit seinem stumm ragenden Schornstein. Eine Planke aus braunen, mit Karbolineum getränkten Brettern umgab das Ganze und entzog es den Blicken Neugieriger. Was hinter diesen Brettern geschah … Kein Häftling hatte es je gesehen, denn der Zutritt war streng verboten. Krämer wusste es dennoch.
In seiner Eigenschaft als Lagerältester war er schon einige Male hinter dieser Planke gewesen, wenn neue Transporte einige hundert Tote mitgebracht hatten. Auf dem Hof lagen sie dann zu Bergen. Polen, die im Krematorium als Leichenträger beschäftigt waren, zogen eine Leiche nach der anderen vom Haufen und rissen ihr die Kleider vom Leib. Sie waren wertvoller Spinnstoff, der nicht mit verbrannt werden durfte. Das Entkleiden der Leichen war keine leichte Sache. Die im Todeskampf verkrampften und in der Leichenstarre eisenfest gewordenen Glieder gaben die Kleidungsstücke nicht freiwillig her. Doch die Leichenträger hatten Routine. {Immer zu zwei Mann an einer} Leiche. Zuerst wurden die Knöpfe des Mantels und der Jacke geöffnet, dann wurde der Tote in Sitzstellung gebracht. Während der eine Leichenträger ihn hielt, {riss} ihm der andere Mantel und Jacke über den Kopf, ein grausig-grotesker Anblick. Mit hängendem Kopf und vorgestreckten Armen wirkte der Tote wie ein Betrunkener, den man auskleidet, um ihn zu Bett zu bringen. Die verkrampften Finger hielten sich wie Widerhaken an den Ärmeln fest. Ein kräftiger Ruck entriss das Kleidungsstück den widerspenstigen Totenhänden. Auf nacktem Körper trugen viele der Leichen{, besonders jener Transporte, die von Auschwitz gekommen waren,} seidene Damenunterwäsche auserlesener Eleganz. Vom zartesten Lachs bis zum Meergrün. Das Dekolleté enthüllte die knochendürre Brust mit den hervorspießenden Schlüsselbeinen. Hilflos entblößt lag die Leiche auf der schlammigen Erde mit erbarmungsvoll verkrampften Armen, der kahlgeschorene Kopf zur Seite gesunken. Mit ihrem aufgerissenen Mund, der wie ein schwarzes Loch klaffte, sah manche von ihnen aus, als lache sie sich tot über die Maskerade, die nach der Entkleidung zum Vorschein gekommen war. Sie hatte nichts genützt, der Arme war dennoch erfroren.
Mit einer Zange kniffen die Leichenträger die Verschnürung der Schuhe auf, die gewöhnlich aus verknotetem Bindfaden oder Draht bestand, und rissen das Schuhwerk von den nackten Füßen. Mancher Leiche mussten sie noch einige Paar hauchdünner Damenstrümpfe von den Beinen ziehen. Zwischen den Entkleideten, die wirr herumlagen, stieg ein anderer Leichenträger umher, in der Hand die Extraktionszange. Er untersuchte die Mundhöhlen nach Goldzähnen. Prothesen riss er mit der Zange aus dem Mund. Waren sie wertlos, steckte er sie in das schwarze Loch zurück und klopfte sie mit der Zange hinein. Jetzt erst konnten zwei weitere Leichenträger den ausgeplünderten Toten an den Armen oder an den Beinen packen, je nachdem, wie er lag, und ihn zu dem Haufen der Nackten schleifen. {Im geübten Rhythmus Schwung holend, schwenkten sie den Toten, und dann flog er klatschend} auf den Haufen nackten Fleisches …
Krämer war stehengeblieben{, als er sich der Bilder erinnerte}.
Im ganzen Lager stank es wieder einmal nach verbranntem Fleisch. Sein durchdringender Geruch fraß sich in die Schleimhäute ein. Der hohe Schornstein spie eine rotglühende Lohe {aus, die zu dickem braunschwarzem Qualm erkaltete, der sich funkendurchsetzt pinienhaft ausbreitete. Vom Wind zerrissen und zerfetzt}.
Krämer dachte an jene Nacht im August 1944. Es war einige Tage vor dem amerikanischen Bombenangriff aufs Lager gewesen. Da hatte er vom Fenster seiner Baracke, in der er schlief, auch die rote Glut über dem Schornstein gesehen und gedacht: Wen verbrennen sie mitten in der Nacht? – Am anderen Tag war ein heimliches Geflüster durchs Lager gegangen. Thälmann ist im Krematorium erschossen und verbrannt worden. Gerücht oder Wahrheit? – Keiner wusste es genau zu sagen. Doch! Einer! –
Am 18. August 1944 erhielt die Belegschaft des Krematoriums durch den Rapportführer den Befehl, einen Ofen für die Nacht unter Feuer zu halten. In dieser Nacht wurde das Kommando in die Schlafräume eingeschlossen, die sich im Krematorium befanden. Die SS wollte ohne Zeugen sein. Ein polnischer Leichenträger hatte sich dem Einschluss entzogen und sich hinter dem hohen Kohlenberg auf dem Hof des Krematoriums versteckt. Er beobachtete, wie die Brettertür der Umzäunung geöffnet wurde. Ein Rudel SS-Scharführer betrat den Hof. Sie brachten einen Zivilisten mit. Er war groß, breitschultrig, ging ohne Mantel und trug einen dunklen Anzug. Er war barhaupt und hatte eine Glatze.
Der Fremde wurde zum Eingang dirigiert, der zum Verbrennungsraum führte, und hier fielen Schüsse. Das Rudel verschwand mit dem Erschossenen im Verbrennungsraum. Nach Stunden – so lange dauerte es, bis eine Leiche verbrannt war – verließ das Rudel das Krematorium. Im Abgehen sagte einer der Scharführer zu seinem Begleiter:
»Weißt du auch, wen wir in den Ofen geschoben haben? Das war der Kommunistenführer Thälmann.«
Einige Tage später kam Schüpp aufgeregt zu Krämer gelaufen. Schüpp hatte im Meldebuch des Rapportführers die Eintragung von der Erschießung Ernst Thälmanns gelesen. –
Krämer starrte auf den Schornstein. Die hohe Glut, die damals zum schwarzen Himmel sprühte und die sein Auge gebannt hatte, weil er nicht schlafen konnte, brannte auch jetzt wieder in seinem Herzen. Er wusste, warum das Tuch seiner Fahne rot war. –
Als er die Holztreppe zur Schreibstube hinaufgehen wollte, hörte er Schüpps Stimme durch den Lautsprecher über das ganze Lager schallen:
»Achtung, Leitungsprobe …«
Krämer verhielt, lächelte versteckt vor sich hin. –
Schüpp war sogleich, nachdem Krämer mit ihm gesprochen hatte, mit seiner an Riemen über die Schulter gehängten Werkzeugkiste nach dem Tor zur Stube des Rapportführers gegangen.
Sein Ausweis verschaffte ihm Zutritt. Überall gab es zu reparieren, und Schüpp hatte es großartig verstanden, sich unentbehrlich zu machen. Er kannte die Wirkung seines treuherzigen Wesens, seiner naiven Schlagfertigkeit und nutzte die Vorteile. Als ihn Reineboth, vor dem er jetzt in strammer Haltung stand, anfauchte, was er wolle, entgegnete er unschuldig: »Ich muss wieder mal ’ne Leitungsprobe machen, Herr Rapportführer, im Lager sind ein paar Lautsprecher nicht in Ordnung.« Reineboth, der an seinem Schreibtisch beschäftigt war, meinte nachlässig: »Da haben Sie wohl wieder daran herumgemurkst, was?« Mit einem Kinderstaunen im Gesicht entgegnete Schüpp: »Ich habe gar nicht dran rumgemurkst. Aber der Draht ist jetzt so spröd, und die Zuleitungen brechen immer wieder durch, es ist eben Kriegsmaterial.« – »Quatschen Sie mich nicht voll, quatschen Sie Ihren Zimt ins Mikrophon, und hauen Sie gefälligst bald wieder ab.« Das war für Schüpp die Genehmigung, die Lautsprecheranlage bedienen zu dürfen.
{»Jawoll, Rapportführer.« Seinem treuen Gesicht war es keineswegs anzusehen, dass er sich bei der Kehrtwendung, die er machte, ungefähr Folgendes dachte: Wenn du Dussel wüsstest, wie ich dich jetzt überfahre …}
Er ging zur Anlage und schaltete ein. Der Strom summte. Schüpp blies probeweise ins Mikrophon und räusperte sich. »Achtung, Leitungsprobe. Achtung, Leitungsprobe. – Ich zähle … drei, drei, vier, vier, fünf, fünf … acht. – Ich wiederhole: drei, drei, vier, vier, fünf, fünf … acht.«
Die Durchsage wurde in allen Blocks und Werkstätten gehört, und in der Optikerbaracke sahen Kodiczek und Pribula einen Augenblick von der Arbeit hoch. Auch Henry Riomand, der französische Koch im Kasino, horchte gespannt auf die Ansage. Drei, vier, fünf, das waren Schlüsselzahlen und die Decknummern für die einzelnen Genossen des ILK. Die Durchsage gab ihnen bekannt, dass sie sich heute Abend um acht Uhr am bekannten Ort einzufinden hatten. Riomand rührte am Herd im Topf. Pribula und Kodiczek sahen sich bedeutungsvoll an, da musste etwas Besonderes los sein. –
»Leitungsprobe beendet. Leitungsprobe beendet.« Schüpp schaltete ab. Reineboth, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte, meinte mokant: »Bis drei scheinen Sie Gott sei Dank noch zählen zu können.« – »Jawohl, Herr Rapportführer, bis dahin reicht’s bei mir noch.« Und seine runden Augen strahlten den eleganten Jüngling an, der ihm gelangweilt zuwinkte, sich zu entfernen. Zufrieden ging Schüpp in seine Werkstatt.
Die Zusammenkunft des ILK ging unauffällig vor sich. Kurz vor der festgesetzten Zeit begab sich Bochow nach dem vereinbarten Treffpunkt. Es war kalt und dunkel. Nur wenige Häftlinge waren zwischen den Blocks zu sehen. In den Eingängen der gegen Fliegersicht abgedunkelten Blocks standen einige und rauchten, die glimmenden Zigaretten bedeckten sie mit der Hand. Nur der langgestreckte Weg, der vom Appellplatz zum Häftlingsrevier hinunterführte, war belebt. Hier gingen die Häftlinge zur Ambulanz, oder sie kamen von dort, eilig ihren Blocks zustrebend. Auf dem dunklen Reviergelände betrat Bochow eine Baracke, die als Lagerraum für Strohsäcke und Krankenutensilien diente. Im Lagerraum waren zwei Häftlingspfleger beim trüben Schein einer schwachen Glühbirne scheinbar damit beschäftigt, Strohsäcke zu stopfen. Sie unterbrachen ihre Tätigkeit, als Bochow eintrat, und schoben den großen Strohhaufen beiseite. Dem Auge nicht sichtbar, war auf dem rohgedielten Fußboden ein Brettergeviert gelockert, das Bochow anhob, um sich durch die schmale Öffnung nach unten zu zwängen. Oben ordneten die beiden das Stroh über dem Einstieg. Der Raum unter der Baracke war die etwa 1,20 m tiefe Fundamentgrube. An deren Längsseiten standen aus Ziegeln gemauerte kurze Säulen, auf denen die Baracke ruhte, und in Querrichtung ragten Reihen von Stützbalken, die den Fußboden hielten. Es sah aus wie in einem Bergwerksstollen. Die nackte Erde der Grube war von Kalksteinbrocken übersät, über die Bochow stolpernd nach hinten ging.
Die Genossen des ILK, die hier um eine Kerze hockten, unterbrachen ihr Gespräch und blickten Bochow entgegen. Der kauerte sich zu ihnen und hörte dem Streit zu, der gegen Joseph Pribula entbrannt war. Die Neuigkeit von der Räumung der Stadt Mainz zeigte offenbar, dass die Amerikaner ihren Brückenkopf bei Remagen ausbauten und weiter nach vorn stießen. Eine gute Nachricht! Pribula frohlockte und schlug die Faust in die hohle Hand: »Werden wir losschlagen bald!« Aber Pribulas Zuversicht forderte den Widerspruch der anderen heraus. Kodiczek knurrte verdrießlich, und van Dalen klopfte Pribula auf die Schulter. »Du bist sehr tüchtig«, sagte er in seinem gedehnten Deutsch, »aber auch sehr ungeduldig.« {Das gutmütige Boxergesicht des Holländers legte sich in breite Falten, und die starken buschigen Brauen standen über den wasserhellen Augen wie zwei dunkle Kirchenbögen.} Pribula, der Jüngste unter ihnen, war tatsächlich der Ungeduldigste von allen. Immer ging es ihm nicht schnell genug.
»Sehr ungeduldig«, wiederholte van Dalen und hob wie ein Lehrer warnend den Zeigefinger. Bogorski legte die Hand auf das Knie des jungen Polen, berichtete, was er von den Auschwitzern erfahren hatte.
»Losschlagen? Bald?« Bogorski schüttelte zweifelnd den Kopf und beugte sich weit nach vorn, die Kerze beleuchtete gespenstisch seine Züge und furchte scharfe Schatten in die Linien seiner Stirn. Von den 3000 Mann seien nur 800 bis Buchenwald gekommen, sagte er bedeutsam. Sein Schatten geisterte übergroß an der Decke, als er den Bericht mit einer schroffen Armbewegung abschloss: »{Evakuierung Tod. Immer Tod.}« Sie hatten verstanden, warum Bogorski davon sprach. Riomand warf ein Stückchen Muschelkalk, das er spielend von einer Hand in die andere hatte gleiten lassen, von sich. Nur Pribula wollte Bogorski nicht verstehen. »Ich sagen, wir nicht warten, bis Faschisten uns treiben aus Lager. Ich sagen, wir durchbrechen durch Zaun und laufen zu Amerikaner.«
Bochow schnaufte unwillig, die anderen lärmten auf, und Bogorski schüttelte den Kopf. »Nicht gutt, gar nicht gutt. Sind Amerikaner weit. Sehr weit. Wir durch Zaun, und SS schießen uns tot, alle tot. Nix gut. Ich sagen warten, ich sagen langsam und – wie heißt?« Er drehte sich hilfesuchend nach den andern um.
»Verzögern«, half Bochow ihm aus.
»Charascho, verzögern.« Bogorski dankte lächelnd und entwickelte weiter seine Gedanken. »{Einen Tag und noch einen Tag. Und immer gucken, wo ist Amerikaner, und immer gucken, was macht Faschisti. Werden nicht behalten SS in Kasernen, wenn kommen Amerikaner. Werden mitnehmen SS und Kanonen und dann wir durch den Zaun und werden nehmen SS, was ist noch da …}«
Pribula ließ sich {unwillig nach hinten fallen:} »Mit paar Waffen, die wir haben.«
Ehe Bogorski antworten konnte, nahm ihm Riomand das Wort ab. Mit einer verbindlichen Handbewegung überführte er den störrischen Polen: »Du saggen selbst, wir ’abben nur ein paar Waffen. Wie aber willst du machen einen Ausbruch mit ein paar Waffen? Das sein doch …« Er schnippte mit den Fingern, weil ihm der deutsche Ausdruck fehlte. »Das sein doch nonsense.«
Jetzt redeten sie alle zugleich auf Pribula ein, und das Geflüster wirrte durcheinander. Sie versuchten ihm klarzumachen, dass eine verfrühte Aktion die Vernichtung des ganzen Lagers zur Folge haben könnte. Unüberzeugt ließ Pribula die eindringlichen Argumente über sich ergehen, und zwischen seinen Brauen stand eine unmutige Falte. Van Dalen klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter, er müsse einsehen, dass man das Leben von 50 000 Menschen nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen könne.
Es war an Bochow, die Erregten zur Ruhe zu bringen. »Redet euch nicht die Köpfe heiß«, unterbrach er den Streit. »Gerade jetzt müssen wir sie kühl halten.«
Er richtete sich hoch und stützte, mit den Ellenbogen breit ausladend, die Hände auf die Knie. »Da ist noch eine andere Sache, hört zu, ich bin mir nicht sicher, was wir tun sollen.« Die Genossen horchten auf, als er ihnen über den Sanitrupp berichtete und seine Zweifel äußerte. Bogorski wiegte den Kopf. »Nun gut«, sagte er, »sie uns suchen, sie schon lange suchen und uns haben noch nicht gefunden. Wenn sie werden uns finden, dann mit Falle und auch ohne Falle, ihr verstehen? Ich sagen, wir nicht haben dürfen Angst. Ich sagen, wir müssen sein immer sehr vorsichtig, es müssen sein die sechzehn Kumpel klug, sehr klug. Ihr verstehen?« In seinem schwerfälligen Deutsch setzte er den Genossen auseinander, dass es völlig gleichgültig sei, ob der Sanitrupp eine harmlose Sache oder eine Falle wäre. Entscheidend sei die Möglichkeit, im Lagerbereich Beobachtungen anzustellen. Der Trupp würde überall herumkommen, zu den Kasernen, zu den Truppengaragen, zum Divisionsnachschub …
Bochow unterbrach ihn:
»Vielleicht wollen sie den Trupp gerade dorthin locken, und wenn sie einen der Kumpels einsperren oder gar auch alle sechzehn? Und im Bunker werden sie dann so lange bearbeitet, bis sie verraten, an wen sie ihre Beobachtungen weitergeben?«
»Sie brauchen nur einen von ihnen weichzumachen, um die Verbindung zum Apparat zu erfahren.«
Bogorski blieb unbelehrbar.
»Njet, njet, njet. Nix Apparat, gar nix Apparat.«
Er schlug vor, die Verbindung nur zwischen ihm selbst und einem der Kumpel vom Sanitrupp herzustellen. Bochow blieb ebenfalls eigensinnig:
»Und wenn du verzinkt wirst …?«
»Wird nicht sterben Apparat, werden sterben nur ich!«
Dagegen {lärmten} alle auf. Bogorski wurde böse. Gefahr sei immer da, sagte er, oder wäre es etwa ungefährlich, {hier zu sitzen und zu beraten? Ungefährlich,} einen großen Apparat mit internationalen Widerstandsgruppen aufzuziehen und {ungefährlich,} Waffen zu besitzen?
»Wir haben gemacht großen Schwur, wird sterben jeder, wenn er kommt zu SS, und nichts verraten. Haben wir gemacht Schwur oder haben wir gemacht nicht? Charascho! Nun, ich wollte nur sein treu zu Schwur, ihr verstanden?«
In diesem Sinne sei er nicht geleistet worden, widersprach Bochow.
»Haben wir andere außer uns?«, fragte Bogorski.
»Ja«, entgegnete Bochow und machte die Genossen mit Krämers Angebot bekannt, das ihm selbst, solange er darüber nachgedacht hatte, immer vertrauter geworden war. Auch die Genossen erkannten die Vorteile, zumal keine neuen Verbindungen hergestellt werden mussten und Bochow mit dem Lagerältesten ständig Kontakt hatte. Selbst Bogorski gab seinen Plan auf. Er hob beide Hände und lächelte liebenswürdig: »Nun, ich lassen mich, wie sagt man, überzeugen …«
Die Besprechung hatte keine halbe Stunde gedauert, und die Genossen verließen einzeln und unauffällig den Tagungsort. Sie verteilten sich auf ihre Blocks.
Krämer war gerade im Begriff, nach dem Revier zu gehen, um den Sanitrupp zusammenzustellen, der aus Pflegern des Reviers gebildet werden musste, als Bochow zu ihm kam. Es bedurfte nur weniger Worte zwischen ihnen. Bochow teilte Krämer mit, dass die Genossen mit seinem Vorschlag einverstanden seien. Er solle den Sanitrupp übernehmen. Sie berieten, welche von den Pflegern Krämer auswählen sollte. Es mussten alles zuverlässige und erprobte Genossen sein. Später begab sich Krämer zum Revier. Auf dem langen Korridor vor dem Ambulanzraum drängte sich der Elendshaufen kranker Häftlinge zusammen.
Krämer zwängte sich durch die Wartenden in den Ambulanzraum hinein. Hier herrschte Hochbetrieb. Schubweise wurden die Kranken hereingelassen, immer zehn Mann zugleich. Der saure Ichthyolgeruch und der von Körperwärme aufdringlich ausgedünstete Wundgestank machten die Luft im Raum zum Atmen kaum noch brauchbar. Häftlingspfleger in abgetragenen weißen Leinensachen fertigten die Kranken ab. Stumm und routiniert wurde gearbeitet. Sie zerrten die verschmutzten und zerflederten Papierbinden von den Gliedmaßen, reinigten die Wunden, die, von einem schwarzen Krustenring verhärteter Ichthyolsalbe umgeben, brandig klafften. Mit dem Holzspatel strichen sie einen Klecks frischen Ichthyols über der Wunde breit. Schnell und geübt wurde eine neue Kreppbinde umgewickelt, wie die Papiermanschette um den Blumentopf. Kaum ein Wort wurde dabei gesprochen.
Die knappe Zeitspanne zwischen Abendappell und dem Abpfeifen für die Nacht musste genutzt werden. Mit einem sanften Druck ins Kreuz schob der Pfleger den Patienten von sich fort.
»Fertig, der Nächste.«
Dieser Nächste hatte die Hosen schon heruntergelassen und zeigte dem Pfleger in wortloser Bitte ein schwarzblaues Ekzem auf dürrem Schenkel. Er wurde ausgesondert und humpelte, die rutschenden Hosen festhaltend, in die Reihe derjenigen, die bereits am Operationstisch warteten.
Erich Köhn, der Erste Pfleger, Kommunist und einstmaliger Schauspieler, war der Operateur. Er hatte keine Zeit für einen Blick auf den Kranken, der auf dem Operationstisch, einer stabilen Holztafel mit einem Kopfkissen aus schwarzem Wachstuch, für ihn zurechtgelegt wurde. Köhn sah nur Geschwüre und Beulen, und noch während seine Operationsassistenten die Äthermaske auflegten, taxierte er die Geschwülste nach Längs- und Kreuzschnitt, und schon knirschte sein Skalpell in das kranke Fleisch hinein. Mit beiden Daumen drückte er den Unrat heraus und reinigte die Wunde. Der Pflegerassistent stand schon mit Ichthyol und Kreppbinde bereit{. Mit Ruckzuck} wurde verbunden.
Ein zweiter Assistent richtete den Operierten in Sitzstellung auf und machte ihn mit ein paar kräftigen Ohrfeigen, links und rechts um die Backen, munter. (Nimm’s nicht krumm, Kumpel, wir haben nicht Zeit, bis du dich selber besinnst.)
Noch völlig im Rausch, kroch der so jäh Ermunterte vom Tisch und torkelte ohne Orientierung für das, was um ihn herum geschah, zur Bank an der Wand. Hier konnte er sitzen bleiben und mit den anderen, die es ebenfalls hinter sich hatten, seinen Rausch verdösen. Keiner kümmerte sich um sie. Von Zeit zu Zeit nur sortierte einer der Pfleger die Schaukelbank aus.
»Na, Kumpel, bist du wieder beisammen? Geh nach Hause, komm, mach Platz.«
In innerer Abwehr sah Krämer zu. Willig und ergeben legten sich die Kranken auf den Tisch. Süchtig saugten sie sich in die Betäubung hinein. Es kam darauf an, wer schneller war, der Schlaf oder das Messer … neunzehn … zwanzig … einundzwan… manche stöhnten auf, das Messer war schneller gewesen.
Köhn hatte Krämer bei dessen Eintreten nur kurz zugenickt und sich nicht weiter um ihn gekümmert, obwohl er wusste, dass der Lagerälteste mit ihm sprechen wollte. Nach weiteren drei Operationen hatte es Köhn für diesmal geschafft. Er ging mit Krämer in den Aufenthaltsraum der Pfleger hinüber und wusch sich die Hände. Krämer, noch beeindruckt, meinte:
»Wie du das machst …«
Die Hände abtrocknend, setzte sich Köhn auf die Bank neben Krämer und lächelte wissend:
»Tja, wie macht man das …« Als Magenkranker vor Jahren ins Revier eingeliefert, war er von den Pflegern wieder hochgepäppelt worden und – geblieben. Er hatte sich in der Folgezeit zum halben Mediziner entwickelt und sich allmählich auch, von der Notwendigkeit dazu gezwungen, die Praxis des Operierens angeeignet. Jetzt schnitt er wie ein Arzt. »Tja, wie macht man das …« Es lag ein wenig Eitelkeit darin, wie er es sagte.
So wortkarg und konzentriert er im Operationsraum war, so gelöst und unbeschwert konnte er sein, wenn {er die anspruchsvolle Arbeit hinter sich gebracht hatte}. Der hagere Vierziger hatte seinen Freunden vom Revier manche gute Stunde aus dem unversiegbaren Quell seiner Theatererinnerungen geschenkt und im Krankensaal, aus der Fröhlichkeit seines starken Herzens heraus, manchen verglimmenden Funken Lebenskraft wieder angeblasen.
»Na, Junge, will’s wieder werden?«, munterte er den Kranken auf, wenn er ans Bett trat. »Siehst du, ich habe dir immer gesagt, alles ist halb so schlimm wie noch mal so schlimm.«
{Erich Köhn konnte zaubern, und er machte von dieser Begabung reichen Gebrauch.} Jetzt aber saß er ernst und nachdenklich neben Krämer.
»Jaja«, nickte er vor sich hin, nachdem ihm Krämer den Grund seines Besuches erklärt hatte, »mit dem Blitzkrieg fängt so was an, und mit einem Häftlingssanitätstrupp hört es auf. Erst Siegesfanfaren, dann Luftschutzsirenen …«
Er stand auf und hängte das Handtuch an den Nagel.
»Deutsches Volk, was für ein Rindvieh bist du, im Ganzen gesehen! Erst verdunkelst du dir das Gehirn und dann die Fenster …«
Er lachte bitter auf. Plötzlich fuhr er zu Krämer herum, der Blick seiner grauen Augen wurde scharf.
»Ohne Bewachung über die Postenkette? – Mensch, das ist doch …«
»Deshalb will ich mit dir reden«, entgegnete Krämer.
Köhn setzte sich interessiert zu ihm, und sie sprachen lange miteinander, bis Krämer das Revier verlassen musste, um zur Nacht abzupfeifen. Die sechzehn Pfleger für den Trupp hatten sie sich ausgewählt.
»Sag noch nichts darüber«, riet Krämer, »ich spreche selbst mit ihnen.«
Am anderen Vormittag brachte Pippig die Transportliste von der Schreibstube. Mit besorgtem Gesicht übergab er sie an Höfel. Der nahm sie schweigend entgegen. Seit sie das Kind aufgenommen hatten, war etwas Fremdes zwischen ihnen. Das bisherige Verhältnis war gestört.
Höfel, sonst gleichbleibend freundlich, war wortkarg geworden, besonders, wenn es um das Kind ging. Gegen jeden Überredungsversuch Pippigs, das kleine Wesen hierzubehalten, blieb er unzugänglich. Es war zwischen ihnen nicht üblich, nach Gründen zu forschen, wenn sie nicht einer Meinung waren. Einer beugte sich der besseren Einsicht des anderen. Des Kindes wegen konnte Pippig den Freund nicht verstehen, er sah hier alles recht unkompliziert.
Die Fronten rückten immer näher ans Lager heran. Lange konnte es ohnehin nicht mehr dauern. Entweder waren sie alle bald frei oder – tot. Zwischen den beiden Möglichkeiten lag keine dritte.
Was war einfacher, als das Kind bis zu diesem Zeitpunkt, wo die Zunge der Waage nach der einen oder der anderen Seite ausschlug, hierzubehalten? Es konnte mit ihnen gemeinsam in die Freiheit gehen oder mit ihnen zusammen sterben.
Aus diesem einfachen Schluss heraus wollte es Pippig nicht verstehen, warum Höfel so fest entschlossen war, das Kind wegzugeben. Hatte er Angst?
Höfel warf die Liste auf die lange Tafel.
»Mach die Effekten fertig. Wenn wir sie am Mittag ausgeben, dann holst du den Polen und gibst ihm den Koffer zurück«, sagte er karg. Pippig schob die Hände in die Hosentaschen und kniff die Augen zusammen.
»Den leeren Koffer natürlich?« – Die Frage war ein Angriff.
Höfel sah dem Kleinen scharf ins Gesicht.
»Nein!«, erwiderte er kurz und wollte gehen. Pippig hielt ihn am Arm zurück.
»Das Kind bleibt hier!«
Höfel fuhr herum: »Das bestimmst du nicht!«
»Du auch nicht!«, schlug Pippig zurück.
Sie sahen sich mit harten Augen an, in beiden schoss die gleiche Welle hoch.
»Hast du Angst?«, fragte Pippig versöhnend.
Höfel wandte sich verächtlich ab.
»Rede keinen Quatsch!«
Pippig hielt ihn erneut am Arm zurück, bat:
»Lass das Kind hier, André. Du brauchst dich um nichts zu kümmern, ich übernehme alle Verantwortung.«
Höfel lachte trocken auf.
»Verantwortung? Und wenn es herauskommt, wen haben sie dann beim Arsch? Dich oder mich? – Mich, den Kapo! Nichts ist, das Kind geht mit dem Polen.« Er ließ Pippig stehen und ging in das Schreibbüro.
Pippig blickte ihm traurig nach. Jetzt war es ihm klar: Höfel hatte Angst! In Pippig stieg eine Welle des Unmuts und der Verachtung auf. Gut, wenn der Angst hat und nichts riskieren will, dann werde ich dafür sorgen, dass das Kind in Sicherheit gebracht wird. Es musste aus der Kammer verschwinden, und zwar sofort. War es erst einmal anderswo versteckt, dann konnte Höfel ihm nichts mehr wollen. Pippig schnaufte sorgenvoll.
Wohin mit dem Kind? Er wusste es nicht sogleich, doch das änderte nichts an seinem Entschluss.
Mit Kropinski wollte er sich besprechen, irgendetwas würde sich finden.
Für Höfel war es nicht leicht, den braven Pippig so hart anzunehmen, und er wusste auch, was dieser über ihn dachte.
Ein Wort, und Pippig würde alles verstehen. Doch dieses Wort konnte nicht gesprochen werden.
Später kam Krämer. Er zog sich mit Höfel in eine Ecke der Kammer zurück.
»Am Nachmittag geht der Transport ab.«
Höfel nickte. »Ich habe schon die Liste.«
»Was ist?«, forschte Krämer.
Höfel blickte von Krämer weg zum Fenster hinaus.
»Was soll sein?«, entgegnete er und zuckte mit den Schultern.
»Das Kind geht selbstverständlich mit.«
Krämer hörte den Schmerz aus Höfels Entgegnung heraus und wollte ihm ein gutes Wort sagen.
»Ich bin doch kein Unmensch, André, aber du musst doch begreifen …«
»Begreife ich etwa nicht?« Fast feindselig fuhr Höfel auf Krämer ein. Der wollte es nicht zu einer Auseinandersetzung kommen lassen und musste sich selbst zu einer Härte zwingen, die schmerzvoll war. Darum nickte er nur stumm, streckte Höfel die Hand hin und sagte versöhnend:
»Ich kümmere mich nicht weiter darum, damit du es weißt. Alles ist nun deine Sache.« Er ging.
Höfel blickte finster hinterher. Alles war nun seine Sache. Müde ging er nach hinten in den Winkel. Das Kind saß auf seinem Lager und spielte mit »bunten Bildchen«, einer alten Skatkarte, die Kropinski ihm gebracht hatte.
Kropinski, der neben dem Kind hockte, blickte dankbar zu Höfel auf. Der schob die Mütze ins Genick und strich sich über die Stirn.
Dem Kind war er bereits vertraut geworden, es lächelte ihn an. Doch Höfel blieb seltsam ernst. Sein Blick glitt über das Kind hinweg, und er sagte zu Kropinski mit einem Klang in der Stimme, der ihm selbst fremd war:
»Du musst das Kind zu dem Polen zurückbringen.«
Kropinski schien nicht recht zu verstehen, darum fügte Höfel barsch hinzu:
»Er geht auf Transport.«
Kropinski erhob sich langsam.
»Transport?«
In Höfel war ein ärgerliches Drängen, er wollte die Sache schnell hinter sich haben. Plötzlich schnauzte er Kropinski an: »Ist das was Besonderes?«
Kropinski schüttelte mechanisch mit dem Kopf. Transport war nichts Besonderes. Warum aber war Höfel so böse zu ihm?
»Wohin Transport?«, fragte Kropinski.
Höfels Gesicht wurde noch finsterer, grob antwortete er:
»{Was geht es dich an?} Tu, was ich dir sage.«
{Welch fremder Ton!}
In plötzlich aufschießender Angst weiteten sich Kropinskis Augen. {Bergen-Belsen!} Ein Wort des Widerspruchs formte sich auf seinen Lippen, doch er blieb stumm und blickte nur mit einem leeren, fatalen Lächeln in Höfels finsteres Gesicht. Dieser fürchtete sich, seine Spannkraft zu verlieren, und herrschte Kropinski an: »Nimm das Kind, ehe Zweiling kommt und … und …«
Kropinski kauerte sich nieder, nahm die »bunten Bildchen« behutsam aus den kleinen Händen, legte die Spielkarten sorglich zusammen und hob das Kind auf den Arm.
Als er gehen wollte, strich Höfel dem Kind über das weiche Haar.
Kropinskis Gesicht erwärmte sich hoffnungsvoll, er nickte Höfel ermunternd zu, und in seiner Stimme lag viel Bittendes.
»Musst dir richtig ansehen kleines, kleines Kind«, sagte er weich. »Hat so schönen Augen und so kleinen Näschen, ganz kleinen Näschen und kleinen Ohren und kleinen Händchen … Ist alles noch so klein …«
Höfel wurde es heiß und eng um die Brust, er {strich noch einmal zart und abschiednehmend über das Köpfchen und} ließ die Hand sanft herabgleiten, als zöge er etwas Verdeckendes über das Gesicht des Kindes {Dabei stöhnte er}: »Jaja, ein kleines polnisches Judenkind …«
Kropinski, lebendiger werdend, schüttelte den Kopf.
»Was heißt Kind aus Polen! Kind ist auf der ganzen Welt überall! Man muss liebhaben und beschützen …«
Gepeinigt begann Höfel zu fluchen.
»Verdammt noch mal! Ich kann doch nicht anders! Krämer hat mir … er verlangt, ich soll das Kind …«
Kropinski fiel ihm schnell ins Wort, seine Augen glänzten hell auf: »Du nicht hören auf Krämer. Krämer ist harter Mann. Du sehen auf Rote Armee. Kommen immer näher, immer näher und auch Amerikaner. Immer näher. Nun, was wird sein? Noch ein paar Wochen und Faschisten alle weg und wir frei … auch kleines Kind.«
Höfel presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß wurden. Er starrte vor sich hin, als wären die Gedanken aus ihm geglitten. Endlich erwachte er und machte eine wegwischende Bewegung, als wollte er die rumorenden Gedanken beiseiteschieben.
»Ich habe es mir überlegt«, sagte er völlig verändert, »du kannst das Kind jetzt nicht zu dem Polen bringen. Was soll er mit ihm anfangen? Bei einem Transport geht alles drunter und drüber. Warte bis zum Nachmittag.«
Kropinski atmete erleichtert auf.