Unterdessen war Krämer nach dem Revier gegangen, wo in einem Raum bereits die sechzehn für den Sanitrupp bestimmten Pfleger auf ihn warteten. Noch wussten sie nicht, zu welchem Zweck sie bestellt worden waren, das sollte Krämer ihnen sagen, der hastig den Raum betrat. Er begann ohne Umschweife:
»Kameraden, ihr seid ab heute ein Sanitrupp.«
Die Pfleger umringten ihn neugierig. Er kannte sie alle, sie waren jung, kühn und zuverlässig und schon lange im Lager.
»Was ist das, ein Sanitrupp?«
Krämer erläuterte in knappen Worten den Sinn ihres Einsatzes. Bei einem Angriff auf das Lager würden sie als Sanitäts-Hilfspersonal für die SS eingesetzt werden.
»Wir sollen sie wohl trockenlegen{, wenn sie sich die Hosen vollgemacht haben}?«, meinte einer der Pfleger sarkastisch. Die anderen lachten und horchten dann interessiert zu, als Krämer bekanntgab, dass sie mit Stahlhelmen, Gasmasken und Verbandskästen ausgerüstet werden würden und ohne Bewachung außerhalb der äußeren Postenkette …
Junge, Junge, rumorten die Pfleger durcheinander, das ist noch nicht da gewesen. Krämer kniff die Lippen zusammen und nickte ihnen zu.
»Es geht dem Ende entgegen«, sagte er.
»Und die da oben scheinen nervös zu werden, was?«, fragte ein anderer. Wieder nickte Krämer.
»Ich brauche euch nicht viel zu erzählen, ihr werdet selber wissen, worauf es ankommt.« Er sah jeden Einzelnen an und fuhr fort:
»Wir haben euch ausgesucht und nicht die da oben. Für die seid ihr nichts anderes als der Sanitrupp, verstanden?«
Er hielt inne. Die sechzehn hatten sofort erkannt, dass es hier um Besonderes ging, und als Krämer fortfuhr, gedämpfter und eindringlicher als zuvor, begriffen sie.
»Macht die Augen auf, guckt euch um, ihr kommt überallhin. Was ihr entdeckt, teilt ihr Erich Köhn mit, der übernimmt das Kommando. Alles Weitere habe ich bereits mit ihm besprochen.«
Köhn nickte zustimmend.
»Hört zu!« Krämer wandte sich im Kreise.
[»Ich bringe euch nachher zum Tor. Und dann noch was, Kameraden, hört zu …«
Hier wurde Krämer unterbrochen. Papa Berthold, der Kommandoführer des Häftlingsreviers, kam ins Zimmer. Keiner der anwesenden Häftlinge hielt es für nötig, die vorgeschriebene militärische Haltung anzunehmen. Berthold schien es auch nicht zu erwarten. Er scharrte den Dreck von seinen wulstigen Knobelbechern.
»Ihr macht wohl ’ne Versammlung?«
Sein Faltengesicht verzog sich zu einem Grinsen. Er stapfte in sein Zimmer und legte den Mantel ab, kam aber sofort wieder herüber und streifte sich den weißen Kittel über.
»Was iss ’n das hier?«, fragte er mit einer Kopfbewegung zu den Häftlingen, die um Krämer herumstanden.
»Der neue Sanitrupp, Sturmscharführer«, antwortete Krämer ebenso gemütlich, wie Berthold gefragt hatte.
»Sanitrupp?«, mummelte Berthold und stopfte sich seine Stummelpfeife, »widdr was Neies.« Er nuckelte an seiner Pfeife, die schlecht zog, und trat an die sechzehn heran: »Ich sachs ja, und der Reichert iss nadierlich ooch widdr mit drbai, der iss iwwrall, wo was los iss.«
Reichert lächelte über Bertholds Geschwätz, und Krämer beachtete ihn gar nicht, als er sich wieder an die sechzehn wandte.
Es war die Eigenart des Konspirativen, dass das Doppelsinnige, das Krämer sagte, von dem ehemaligen Zigarrenhändler nicht verstanden wurde, umso mehr aber verstanden es die sechzehn.
»Die Kommandantur hat euch eine besondere Funktion übertragen. Macht eure Sache gut. Es darf an euch nichts auszusetzen sein, verstanden?«
Und ob die sechzehn ihn verstanden!
Berthold nuckelte an seiner Pfeife und hörte Krämer wie einem Redner zu. Beifällig nickte er.
»Ich bin für euch verantwortlich«, fuhr Krämer fort, »und verlange strengste Disziplin, strengste militärische Zucht, absolute Verschwiegenheit. Was ihr zu tun habt, geht keinen im Lager etwas an, verstanden? Ihr führt das aus, was ich euch gesagt habe …«
»Was hamms ’n denn gesacht?«
»Was der Rapportführer mir befohlen hat«, antwortete Krämer, und Berthold nuckelte zufrieden.]
Mit süffisantem Lächeln empfing sie Reineboth. Er war aus seinem Zimmer gekommen, stand vor den sechzehn und zog sich genießerisch die gelben Schweinslederhandschuhe über. Mit eleganten Schritten ging er die Reihe ab, die Häftlinge standen stramm, und kein Muskel in ihrem Gesicht bewegte sich.
Reineboths Lächeln wurde hämischer.
»Da haben Sie sich wohl die Besten ausgesucht?«, meinte er zu Krämer.
»Die Allerbesten, Rapportführer, jawohl!«, antwortete Krämer ohne Scheu. Frage und Antwort waren zweideutig genug.
»Hoffentlich haben Sie Ihre Genossen schonend darauf aufmerksam gemacht, was dem Lager blüht, wenn einer von ihnen stiften gehen sollte.«
»Jawohl, Rapportführer, die Häftlinge haben durch mich die nötigen Instruktionen erhalten.«
»Großartig«, entgegnete Reineboth in geschmeidiger Zweideutigkeit.
»Wer ist der Hauptmann von diesen Sachen?«
»Aha.« Reineboth schob den Daumen hinter die Knopfleiste seines eleganten Mantels und trällerte mit den Fingern.
»Köhn. Natürlich. Der ist immer dabei, wo etwas los ist.«
Krämer nahm Köhn in Schutz und erklärte:
»Er ist der Erste Pfleger im Revier.«
»Aha«, machte Reineboth wieder, »so also hängt die Sache zusammen.«
Mit einer Kopfbewegung gab er Krämer zu verstehen, dass er ihn nicht mehr brauche, und ließ den Trupp abmarschieren. –
Die beiden im Winkel ahnten nicht, dass sie schon seit geraumer Weile einen heimlichen Zuhörer hatten – Zweiling.
Er war unverhofft nach der Kammer gekommen. Pippig, der im Gang zwischen den Kleidersäcken stand und aufmerksam den Winkel beobachtete, hatte ihn nicht bemerkt. Bei seinem Eintritt aber hatte Zweiling am Verhalten Pippigs sofort entdeckt, dass da hinten etwas los war.
Er trat leise hinter den ahnungslosen Pippig und sagte mit seiner teigigen Stimme:
»Was glotzen Sie denn?«
Pippig fuhr herum und blickte erschrocken auf Zweilings offenen Mund. Der Scharführer lächelte grau und sagte hinterhältig:
»Jetzt bist du mal ganz schön still.«
»Herr Hauptscharfü…«
»Biste still!« Zweiling zischte Pippig gefährlich an und schlich sich auf den Stiefelspitzen nach hinten, in der Nähe der Stapel stehenbleibend und lauschend. Höfel und Kropinski hatten ihn nicht gesehen, als sie den Winkel verließen und den Eingang mit einem Sackstapel verstellten. Erst als sie sich zum Gehen wandten, sahen sie sich plötzlich dem Scharführer gegenüber. – In Höfel erstarrte das Blut, sein Herz wurde zu Eis. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Gleichmütig zeigte er auf einige Stapel und sagte äußerlich ruhig zu Kropinski:
»Und dann stellst du das Zeug hier auf.«
Zweiling tat ebenfalls gleichgültig. »Ihr stapelt wohl um?«
»Jawohl, Hauptscharführer, damit die Motten nicht hineinkommen.«
Kropinski schob geistesgegenwärtig noch einen weiteren Stapel vor den Eingang.
Zweiling trat schnell heran, drückte Kropinski das Knie ins Kreuz und rückte die Stapel beiseite.
Vorn stand Pippig und sah in höchster Angst, wie Zweiling im Winkel verschwand. Mit stummen Blicken verständigten sich Höfel und Kropinski über das Gefährliche der Situation.
Als Zweiling im Winkel auftauchte, kroch das Kind, vor dem SS-Mann flüchtend, in eine Ecke und verkrümmte sich. Da trat auch schon Höfel hinzu.
Zweilings Mund verzog sich zu einem dummen Lächeln, dass die Falten am Kinn eine Krone bildeten.
»Na klar, hier gibt es Motten …«, sagte er listig.
Die gefährliche Freundlichkeit warnte Höfel, der sofort entschlossen war, der Gefahr in den Rachen zu greifen. Hier konnten nur Mut und rückhaltlose Offenheit noch etwas retten.
»Hauptscharführer …«, setzte Höfel an.
»Was denn?«
»Ich wollte Ihnen erklären …«
»Na klar, das müssen Se machen.« Zweiling wies mit der Stiefelspitze auf das Kind. »Bringen Se die Motte da gleich mit.«
Kropinski war den beiden gefolgt und mit in das Zimmer des Scharführers gegangen. Höfel hatte das Kind abgesetzt, es verkroch sich scheu in eine Ecke. Zweiling machte gegen Kropinski von unten her eine wegfegende Handbewegung. Kropinski musste das Zimmer verlassen.
Kaum hatte sich Zweiling, nachdem er mit Höfel allein war, an seinen Schreibtisch gesetzt, als vom Tor die Sirene aufheulte, sie schrie wie ein Raubtier. Zweiling blickte zum Fenster, und Höfel nutzte die willkommene Gelegenheit, um abzulenken.
»Fliegeralarm, Hauptscharführer. Wollen Sie nicht in den Keller gehen?«
Zweiling grinste, es sah aus, als ob er lächeln wollte. Erst als die Sirene mit gutturalem Ton verlosch, antwortete er:
»Nee, ich bleibe diesmal oben bei euch.«
Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte und sah vor sich hin. Sein Mund klaffte. Er schien über etwas nachzudenken.
Höfel, auf alles gefasst, verfolgte misstrauisch Zweilings eigenartiges Verhalten. Endlich hob Zweiling die Augen zu Höfel empor, es lag etwas Abtastendes in seinem Blick.
»Gestern waren sie über Erfurt«, sagte Zweiling plötzlich. Höfel schwieg, was wollte der von ihm? Zweiling schob die Zunge auf die herabhängende Unterlippe, musterte den Häftling, der ohne Spur einer inneren Anteilnahme vor ihm stand, und sagte nach einer Weile:
»Eigentlich habe ich euch immer gut behandelt …«
Er kniff dabei die Augen zusammen und fixierte Höfel durch die Schlitze, auf eine Antwort wartend. Doch Höfel schwieg beharrlich, unklar, wohinaus Zweiling wollte.
Zweiling stand auf, ging mit schlaffen Knien zur Ecke, in die das Kind sich verkrochen hatte. Mit leerem Blick sah er eine Weile auf das Lebewesen und berührte es dann vorsichtig mit der Stiefelspitze. Das Kind rutschte vor dem Stiefel davon. Höfels Spannung wuchs.
Draußen an der langen Tafel standen Kropinski und Pippig. Sie waren angelegentlich mit den Effekten des abgehenden Transportes beschäftigt, doch beobachteten sie, was da drinnen vor sich ging. Sie hatten eine dramatische Szene erwartet und wunderten sich, wie ruhig es im Zimmer von Zweiling zuging. Jetzt sahen sie, wie er an Höfel herantrat und diesem anscheinend etwas {auf die freundlichste Art} sagte. Was war da drinnen los?
Tatsächlich war Zweiling mit einem breiten Lächeln vor Höfel getreten.
»Wenn ich will«, sagte er, »wenn ich will, dann sitzen Sie heute abend schon im Bunker …« Er blinzelte leutselig, lauerte auf Höfels Reaktion.
Die beiden an der Tafel sahen, wie sich Zweiling grinsend mit dem Zeigefinger quer über den Kehlkopf fuhr.
»Du, das wird mulmig«, zischte Pippig erschrocken Kropinski zu. In Höfels Gesicht verriet sich keine Regung. Er stand bewegungslos vor Zweiling, doch in seinem Kopf rumorte es. Der will etwas von dir.
Auf einmal hob Zweiling lauschend den Kopf. Das böse Brummen der Fliegerverbände war jetzt genau über der Kammer. Eine ganze Weile hörte er auf die drohenden Geräusche, und dann blickte er Höfel wieder an. Sie sahen sich stumm in die Augen, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Zweilings Gesicht war zu arm an Ausdruckskraft, um die Gedanken widerspiegeln zu können, nur die blinzelnden Augen zeigten, dass sich hinter der öden Stirn etwas abspielte.
»Aber ich will nicht …«, sagte er nach einer langen Pause des Schweigens.
»Wenn ich nur wüsste, was der mit ihm vorhat«, flüsterte Pippig erregt, und Kropinski flüsterte ebenso zurück: »Wird er schicken ihn in Bunker?«
In Höfel schoss plötzlich das angestaute Blut zum Kopf. Mit einem Schlag hatte er den Sinn von Zweilings Gebaren verstanden. Die Überraschung war so stark, dass er nicht fähig war, etwas zu erwidern. Zweiling merkte, dass ihn Höfel verstanden hatte. Vor seiner eigenen Courage erschrocken, wandte er sich von Höfel weg und setzte sich wieder an den Schreibtisch, begann sinnlos im Ablagekasten herumzukramen. Höfels prüfender Blick machte ihn unsicher, aber nun gab es kein Zurück mehr.
Das Enthüllende war ausgesprochen.
Noch um einen Ton vertraulicher sagte er:
»Wenn es hier oben ist, dann ist es sicher …«
Nun war es noch unzweideutiger ausgesprochen. In Höfel jagten sich die Reaktionen. Alles, was ihn bisher so belastet hatte, war mit einem Schlag hinweggewischt, und er sah die Möglichkeit, das Kind gefahrlos verstecken zu können. Er machte einen hastigen Schritt auf Zweiling zu. Dieser bekam es plötzlich mit der Angst. Er schüttelte heftig den Zeigefinger gegen Höfel und kreischte auf:
»Wenn Sie erwischt werden, dann sind Sie dran und nicht ich! Haben Sie mich verstanden?«
Alle Vorsicht außer Acht lassend, entgegnete Höfel:
»Ich habe Sie sogar sehr gut verstanden.«
Zweiling, in Sorge, sich zu weit vorgewagt zu haben, riss sich zusammen, sein gewöhnlicher Befehlston gewann die Oberhand. Er machte eine harte Kopfbewegung nach dem Kind: »Raus damit!«
Höfel nahm das Kind auf den Arm und wollte das Zimmer verlassen. Schon an der Tür, wurde er von Zweiling noch einmal zurückgerufen. »Höfel!« Sie sahen sich an, schätzten sich mit stummem Blick ab, Zweiling kniff die Augen zu:
»Sie wollen doch lebend hier herauskommen, was?«
Eine kurze Pause des gegenseitigen Belauerns, bis Höfel erwiderte: »So wie auch Sie, Hauptscharführer.«
Hastig verließ er das Zimmer.
Pippig gewahrte die Erregung, in der sich Höfel befand, als er zur Tafel trat, und hielt sich klugerweise mit neugierigen Fragen zurück. Höfel zwang sich zur Ruhe.
»Bring es wieder nach hinten«, sagte er zu Kropinski und gab ihm das Kind. Kropinski wollte fragen, doch Pippig zischte ihn an:
»Weg damit, schnell!«
Kropinski drückte das Kind an sich und eilte nach hinten.
Die erwartete Katastrophe war nicht nur ausgeblieben, sondern sie hatte sich zu einer gänzlich neuen und für den Augenblick noch unfassbaren Situation gewandelt. Höfel war nicht fähig, eine Erklärung zu geben, Pippig bedurfte dieser auch gar nicht. In seinem Blick, mit dem er Höfel ansah, lag bereits das Wissen um das, was sich in Zweilings Zimmer ereignet hatte. Sie sprachen kein Wort miteinander. Höfel drehte sich schwer um und ging, als würde er geschoben, in die Schreibstube. Pippig ließ ihn allein und blieb zurück.
Von seinem Fenster aus hatte Zweiling die Vorgänge beobachtet, mit bösen und gehässigen Augen. Die da draußen waren jetzt zu seinen Mitwissern geworden. Es würgte in ihm, sich auf sie zu stürzen und sie anzubrüllen, um im gewohnten Machtrausch seine eigene Unsicherheit zu verstecken. Aber plötzlich fuhr er erschrocken herum, ganz deutlich hörte er in der Ferne das Bumsen und Kollern der Einschläge, einen nach dem andern. Mit schreckhaft offenem Mund starrte er ins Leere hinein und lauschte. Nervös rieb er sich die Backe, als wäre sie nicht rasiert …
Der Fliegeralarm hatte die sechzehn überrascht, als sie in ihrer ungewöhnlichen Maskierung vor dem Dienstzimmer des Kommandanten angetreten waren, um ihm vorgestellt zu werden.
Im Lager rannten die Häftlinge in ihre Blocks. Auf den Straßen vor dem Lager wurde es lebendig. Arbeitskommandos traten an und rückten im Laufschritt ins Lager ein. SS verzog sich eilig in ihre Unterkünfte.
Infolge des Alarms waren hohe Chargen im Dienstzimmer des {Kommandanten} versammelt, und als Reineboth eintrat, um den Sanitrupp zu melden, fuhr Schwahl nervös zu dem Rapportführer herum.
»Wieso? – Ach so.«
Er machte eine fahrige Armbewegung, jetzt sei keine Zeit zum Redenhalten. Die sechzehn hätten sofort ihren Dienst anzutreten.
Das Gebrumm der Fliegerverbände erfüllte die Luft ringsum. In der Nähe waren Einschläge zu hören.
Reineboth trat aus dem Dienstgebäude und gab den Befehl des Kommandanten in seiner schnoddrigen Art an den Sanitrupp weiter.
»Haut ab, ihr Vögel!«
Köhn kommandierte: »Sanitrupp, stillgestanden!«
Die Gruppe erstarrte.
»Linksum! Im Laufschritt … marschmaarsch!«
Reineboth sah den Davoneilenden skeptisch nach, seufzte und zog sich hastig in seine Bombenunterkunft zurück.
Weit und breit war niemand mehr zu sehen, als die sechzehn Mann durchs Gelände trabten. Sie feixten sich unter den ungewohnten Kopfbedeckungen verständnisinnig zu.
Über ihnen brummten die Pulks im Entenflug über das Lager hinweg. Pulk auf Pulk. Einschläge rumsten und kollerten.
Ob das in Gotha war oder in Erfurt? –
An der äußeren Postenkette angelangt, meldete Köhn den Trupp beim Postenführer und schien ein besonderes Vergnügen daran zu haben, seine »Leute« zackig einzuteilen.
»Vier Mann nach den SS-Kasernen! Vier Mann zum Divisionsnachschub! Vier Mann zu den Truppengaragen, und der Rest geht mit mir zu den Führerhäusern. Binnen zehn Minuten nach Entwarnung ist der Trupp vollzählig wieder hier, verstanden?!«
»Jawohl!«, dröhnte es kräftig im Chor.
»Ausschwärmen, marschmaarsch!«
Die Eingeteilten spritzten nach den angegebenen Richtungen auseinander, und der Postenführer stand stumm und hatte diesmal nichts zu befehlen.
Höfel hatte sich an seinen Tisch gesetzt und starrte auf die Transportliste, die vor ihm lag. Zum Glück hatten die Häftlinge im Schreibbüro die Vorgänge draußen nicht bemerkt, und Höfel blieb darum von neugierigen Fragen verschont. Nicht das hinterhältige Angebot Zweilings hatte Höfel so aufgewühlt, sondern die unverhoffte Möglichkeit, das Kind zu retten. Es war so verlockend leicht und einfach, dennoch riss und zerrte es in Höfels Brust. Eben noch hatte er Krämer versprochen, das Kind aus dem Lager zu schaffen. Und der vertraute seinem Wort. Wenn er es brach? – Wenn er das Kind heimlich zurückhielt? – Vor Zweiling brauchte er sich nicht mehr zu fürchten. Höfel starrte auf die Zahlenkolonnen der Liste. Jede Nummer war ein Mensch, und einer davon fehlte, das Kind. Es hatte keine Nummer. Es war nicht vorhanden. Man brauchte es nur in einen Koffer zu stecken und … Einer unter den Tausend, die am Nachmittag durchs Tor zogen, würde das Etwas mit sich schleppen … Höfel presste die Augen zu. War denn die korrekte Erfüllung seiner Pflicht nicht das beste Alibi vor seinem eigenen Gewissen?
Doch da war es wieder, das quälende Schuldgefühl. Wieder hatte Höfel die drückende Empfindung, als ob aus weiter Ferne zwei Augen auf ihn gerichtet wären, stumm und stetig. Waren es Kinderaugen? Waren es die Augen seiner Frau {(ich küsse Dich innig)}? {Waren es seine eigenen Augen? Waren es überhaupt Augen? Konnte es nicht auch ein Finger sein, der auf ihn wies? Dieses Schweigende schrie ihn an, schrie, schrie!} Noch nie in allen Jahren seiner Haft hatte sich Höfel so allein gefühlt wie jetzt.
Vor dem verlockenden Angebot war er geflüchtet. Vor Pippigs stummen Augen war er geflüchtet. Nur sich selbst konnte er nicht entfliehn, obwohl er fühlte, dass er zu schwach war, die Entscheidung aus eigener Kraft herbeizuführen.
Höfel ging hinaus zu Pippig. Der stand noch immer an der langen Tafel, als warte er auf ihn. In der Luft brummte es ununterbrochen. Das musste diesmal ein Großangriff sein. Zweiling stand in seinem Zimmer am Eckfenster und beobachtete den Himmel. Mit schnellem Blick überzeugte sich Höfel, dass er von Zweiling nicht gesehen werden konnte, und sagte rasch zu Pippig: »Komm mit.«
Sie gingen nach hinten in den Winkel. Kropinski {saß in der Ecke, wiegte das Kind im Arm und flüsterte ihm polnische Worte zu. Er setzte das Kind ab und} trat zu den beiden. Sein ganzes Wesen war von gespannter Erwartung erfüllt. Die drei standen eng beisammen. Höfel machte eine bezeichnende Kopfbewegung nach vorn. »Der hat mir ein Angebot gemacht, das Kind kann hierbleiben.«
{Im Gegensatz zu Kropinski, der hungrig an Höfels Lippen hing, blieb Pippig ungerührt. »Das hatte ich mir gedacht«, sagte er} trocken, »als Lösegeld, wenn’s andersrum geht. Gar nicht dumm. Und du, was hast du …?«
Höfel zuckte unentschlossen mit den Schultern. Pippig wurde ärgerlich. »{Ich möchte wissen, warum du Angst hast. Wenn der es zulässt, dann hast du ihn in der Hand. Mensch, André,} er kann dich nicht verraten.«
Höfel, unentschlossen, machte schwache Einwände. »Behalten wir das Kind zurück, dann glaubt er, ich sei auf sein Angebot eingegangen …«
Pippig entgegnete: »Und wennschon, es kann uns egal sein.« {»Und wenn Rose quatscht?«
Pippig winkte verächtlich ab: »Den halte ich eisern nieder, hab keine Bange …«} Kurz entschlossen entschied er: »Das Kind bleibt hier!«
Mit einem Rest von Widerstand wollte Höfel aufbegehren, da klopfte ihm Kropinski schon auf die Schulter. »{Du sein guter Bruder …« Höfel machte die Freude der beiden krank. Zwar löste sich in seiner Brust das versteinerte Schuldgefühl gegenüber dem Kind, dafür aber lastete es umso schwerer auf ihm, wenn er an Krämer dachte.} Höfel schob wortlos die Hände in die Taschen, stand überrumpelt und lächelte bitter über seine Unentschlossenheit.
Noch immer dauerte der Fliegeralarm an. In den Blocks hockten die Häftlinge um die großen Füllöfen herum, die nur eine dünne Wärmehülle um sich verbreiteten, denn die Feuerung war knapp. Die zusätzliche Wärme kam von den Ausdünstungen der Menschen, die hier auf engem Raum zusammengedrängt waren. Manche schliefen mit aufgelegten Armen am Tisch, der Lärm um sie herum störte sie nicht. Das Lager war wie ausgestorben, und der große Appellplatz lag verödet. Auch am Tor rührte sich nichts. Nur auf den Türmen rings um das Lager vertraten sich die Posten die Füße und schauten zum Himmel hinauf.
Im Gelände der SS-Mannschaftskasernen patrouillierten vier Mann des Sanitrupps. Gemächlich schritten sie zwischen den Kasernen dahin, aber sie hatten die Augen offen. Wie viel von den Kasernen waren belegt?
Eine andere Gruppe ging an der Nordseite des Lagers das Waldgelände ab. Von hier aus konnte man, sofern der Wald die Sicht freigab, weit ins Thüringer Land hineinsehen. Von den Posten scheel beobachtet, gingen die vier am Zaun entlang.
Auch sie hatten eine Aufgabe. Wo war – in Verbindung zum Lager, den Türmen und dem Wald – die Stelle am Zaun, die für einen Ausbruch am geeignetsten erschien? Die sowjetischen Stahlhelme verbargen vor den Posten die spähenden Blicke. Manchmal blieben die vier stehen, um durch einen Rundblick im Gelände die Langeweile der stundenlangen Patrouillen zu vertreiben. Doch dieser harmlose Blick war Abschätzen und Abmessen. Von den Posten ungehört, flüsterten sich die vier ihre Beobachtungen zu.
Erst am Nachmittag wurde der Alarm aufgehoben. Die Sirene gab es mit langem Heulton bekannt. Das Lager belebte sich. Aus den Blocks strömten die Häftlinge.
An der Küche klapperten die Kübel mit dem verspäteten Mittagessen, die armselige Suppe war inzwischen kalt geworden. Auch am Tor regte es sich wieder, und es dauerte nicht lange, bis Reineboth durch das Lagermikrophon den Transport ans Tor forderte. Ein Befehl, der das Kleine Lager wie einen Ameisenhaufen aufwimmeln ließ. Vor den Pferdeställen wirrten die Häftlinge durcheinander. Es hatte getaut, und die hin und her quirlenden Menschen patschten im Dreck und Schlick. Die Blockältesten und Stubendienste hatten Mühe, das Durcheinander zu ordnen, es wurde geschrien, gestoßen, gedrängelt, bis endlich nach vielem Lärm und Hin und Her die Marschkolonnen gebildet waren.
Auf der Effektenkammer war die Ausgabe der wenigen Habseligkeiten schnell erledigt worden. Wie drei Verschwörer standen Höfel, Pippig und Kropinski beisammen. In jedem Nerv spürte Höfel die Krise. Nervös wehrte er Pippigs Vorschlag ab, Jankowski zu holen, um ihn von dem Kind Abschied nehmen zu lassen. Er wollte ihn nicht sehen, er wollte nichts wissen, nichts hören.
»Mensch, André, du kannst doch den armen Kerl nicht so ziehen lassen …«
»Lass mich in Ruhe damit!« Höfel fieberte an jedem Nerv. Er ließ die beiden stehen und verkroch sich im Schreibbüro.
Pippig war verzweifelt. »Geh, Marian«, sagte er schließlich, »lauf zum Kleinen Lager, und bringe es Jankowski bei.«
Dieser befand sich in höchster Aufregung. Gleich würde der Transport abmarschieren, und keiner brachte ihm das Kind. Immer wieder lief er aus der Reihe des Marschzugs heraus und beschwor den rundköpfigen Blockältesten in wortreichem Polnisch, er möge ihn zur Effektenkammer gehen lassen. Der Blockälteste, froh, den Zug beisammenzuhaben, hatte kein Ohr für Jankowskis Flehen und schob ihn ungeduldig in den Zug zurück. Jankowski flatterte wie ein gefangener Vogel.
So fand ihn Kropinski. In heller Aufregung lief Jankowski ihm entgegen und klammerte sich an ihm fest. Tränen rannen ihm über das verstörte Gesicht. Er wollte es nicht verstehen, ohne Kind das Lager verlassen zu müssen. Kropinski fand kaum Worte, den Unglücklichen zu trösten. »Du musst nicht weinen, Bruder«, sagte er ein über das andere Mal, »wir können den kleinen Stephan viel besser beschützen als du, glaube es mir.« Jankowski schüttelte heftig mit dem Kopf. Als ein Bild des Erbarmens stand er da. Die graue Zebramütze hatte er, um sich vor der Kälte zu schützen, über die Ohren gezogen, sie war ihm tief in die Stirn gerutscht, der schlottrige Anzug war ihm viel zu groß, die nackten Füße steckten in unförmigen Holzschuhen. Mit dem langen, ausgefransten Jackenärmel wischte sich Jankowski die Tränen aus den blinden Augen. Ein armseliges Stück Mensch, das nur noch so viel Kraft des Herzens hatte, bescheiden zu bitten: »Gebt ihn mir, bitte, gebt ihn mir.« Er wollte vor Kropinski in die Knie sinken, der hielt ihn an den Ellenbogen aufrecht und rüttelte ihn, als könnte er ihn damit zur Besinnung bringen. »Weine nicht, Bruder, weine nicht«, bat er den Verstörten. »Warum weinst du nur so sehr? Du bist doch gar nicht der Vater.« Jankowski begehrte auf: »Ich bin mehr als der Vater!« In heißer Aufwallung presste Kropinski den Unglücklichen an sich und küsste ihn: »Geh, Bruder, die heilige Gottesmutter beschütze dich.«
Jankowski wollte nicht von ihm lassen und hielt sich an ihm fest, doch Kropinski ertrug die Qual nicht mehr. Wieder und wieder drückte er den Verlassenen an sich, dann befreite er sich von ihm und floh.
»Bruder, Bruder!«, rief Jankowski ihm nach, aber der Fliehende wollte nichts mehr hören. Kraftlos ließ Jankowski die Arme fallen, er wimmerte nur noch leise, und der nervöse Blockälteste, der den Polen wieder außerhalb der Reihe stehen sah, fuhr wütend auf ihn ein: »Verdammt noch mal, was stehst du bloß immer rum, scher dich endlich in dein Loch!«
Ergeben kroch Jankowski in sein Marschglied zurück und torkelte, vom Herzweh verkrümmt, mit dem langen Zug den Berg zum Appellplatz hinauf. Hier gab es noch einmal ein Gebrüll und Geschrei.
Reineboth zählte den Transport durch und stellte ihn neu zusammen, dann öffnete sich das Tor, und der graue Tausendfüßler quoll träge und mühselig zum Lager hinaus.
In der Hast der Abfertigung hatte Krämer nicht mehr an das Kind gedacht. Jetzt, da der Elendszug an ihm vorbeikroch und er einen Häftling mit einem Sack auf dem Rücken im Zug entdeckte, fiel es ihm wieder ein. Wird es dieser sein?, dachte er.
Aber es war nicht der polnische Jude Zacharias Jankowski. Der taumelte seiner nächsten Station ohne Gepäck entgegen.
Nun war es also geschehen! Das Unwiderrufliche seiner Tat stand Höfel in aller Deutlichkeit vor Augen{, doch es gab kein Zurück mehr.
Solange der Transport das Lager noch nicht verlassen hatte, vermied es Pippig, mit Höfel zusammenzutreffen, doch hielt er sich ständig auf dem Sprung, dazwischenzufahren, wenn es sich Höfel in letzter Minute noch anders überlegen sollte.
Höfel überlegte nicht mehr, er saß im Schreibbüro und wartete. Wartete …}
Pippig indessen atmete erleichtert auf. In Ordnung, das Kind war gesichert. Klarer Fall! Er hatte ein diebisches Vergnügen daran, wieder einmal ein Schnippchen geschlagen zu haben. Wem? Der SS? Dem armen polnischen Juden Jankowski? Dem Leben? Dem Schicksal? – Alles viel zu kompliziert. Darüber denkt man nicht nach. Man freut sich vielmehr, ein kleines Miezekätzchen organisiert zu haben.
Und Kropinski? Der saß {nach seiner Flucht vor Jankowski} im Schutz des Winkels, hatte das Kind auf dem Schoß und sang ihm leise, ganz leise Lieder aus der Heimat vor.
Höfel brachte die Effektenliste. »Wegen der Motte da«, sagte Zweiling, »die sollte wohl mit auf Transport gehen, stimmt’s?« Er zog die Unterlippe herab und schob die Zunge vor. Höfel zögerte einen Moment mit der Antwort und entgegnete nach kurzem Entschluss: »Jawohl, Hauptscharführer.« – »Nun müssen Sie aber dichthalten und die anderen auch.« – »Jawohl, Hauptscharführer.«
Zweiling verzog unmutig das Gesicht: »Jawohl, jawohl«, äffte er, »wir brauchen uns doch nichts vorzumachen. In ein paar Wochen sind die Amerikaner hier, und dann können Sie Ihre Motte auf den Arm nehmen und zu den Amerikanern sagen: Das haben wir unserem Hauptscharführer zu verdanken …«
Höfel quälte sich die Antwort ab: »Jawohl, Hauptscharführer.«
Zweiling vergaß seine Freundlichkeit: »Mensch, mit Ihrem ewigen Jawohl! Schließlich ist es eine tolle Sache, dass ich … wenn es rauskommt, fliegt ihr alle in den Bunker. Mir kann dabei gar nichts passieren, das ist Ihnen doch wohl klar?«
»Jawohl!«
{Zweiling überging Höfels Undurchdringlichkeit: »Was haben Sie eigentlich gedacht, dass ich Sie nicht habe hochgehen lassen?«
Dieser Frage konnte Höfel nicht mehr ausweichen, widerwillig antwortete er: »Das war anständig von Ihnen, Hauptscharführer.«
»Wirklich?« Zweiling schob die Zunge wieder auf die Unterlippe. »Hoffentlich vergessen Sie das nicht.«
»Nein, Hauptscharführer …« Höfel ekelte es vor seiner eigenen Erwiderung, aber welche Antwort blieb ihm übrig? Er wurde sich plötzlich selbst widerwärtig, und die Sache mit dem Kind kam ihm vor wie ein schmutziges Geschäft.}
Zweiling lehnte sich im Stuhl zurück: »Dann sagen Sie also Ihren Leuten, dass sie die Schnauze halten sollen.«
»Jawohl, Hauptscharführer.« –
Pippig hatte dem Kind eine Tasse warmer Kaffeebrühe gebracht, in die er einige Löffel Rübensaft verrührt hatte. Das Kind nahm einen Schluck und schob die Tasse von sich.
Pippig seufzte sorgenvoll: »Mir würde das Zeug auch nicht schmecken.«
»Was sollen wir geben kleinem Kind?«, hob Kropinski hilflos die Schultern, »es haben so dünne Ärmchen und so dünne Beinchen …«
Pippig griff den kleinen Körper prüfend ab. »Viel ist nicht dran …«
»Kleines Kind muss haben Brot, weißes, und Zucker und Milch.«
Pippig lachte auf: »Milch? Mensch, Marian! Ich habe doch keine Mutterbrust.« Kropinski wiegte sorgenvoll den Kopf. Pippig rieb sich mit beiden Händen den kurzgeschorenen Schädel und platzte plötzlich heraus: »Na klar, der Junge muss Milch haben.«
»Woher du willst nehmen?«
Doch Pippig schien schon einen Plan zu haben, und hatte er einmal einen Entschluss gefasst, dann vertrug er keinen Zweifel. »Pippst du oder pipp – ich? Ich pippe!« Das war bös gesagt, doch gleich kauerte sich Pippig zu dem Kind nieder und tätschelte dessen Händchen: »Nun pass mal auf, mein Kleiner. Morgen geht Onkel Pippig auf eine große Weide, da sind viel Kühe, und die machen Muuuuh …« Das Kind lächelte. Erfreut nahm Pippig das Gesichtchen zwischen die Hände: »Du lernst noch lachen bei uns, Kleiner.« Dem staunenden Kropinski aber drückte er den Finger auf die Schulter: »Und du legst ihn dir morgen an die Brust, verstanden?«
Im Schreibbüro machte Höfel nicht viel Worte über die veränderte Situation. Das Kind würde auf der Kammer verbleiben, die Sache ginge bereits in Ordnung, erklärte er mit einer bezeichnenden Kopfbewegung nach Zweilings Zimmer. Die Häftlinge des Kommandos hatten ihn sofort verstanden.
»Redet im Lager nicht darüber, dass bei uns auf der Kammer …«, den Schluss des Satzes ergänzte er mit einer – die »Sache« überdeckenden Handbewegung. Damit war alles gesagt.
{Nur Rose knurrte, ihm passte das nicht. Pippig kam gerade dazu, als die Häftlinge gegen Rose aufbegehrten. Es hagelte Schimpfworte: »Du alter Hosenschiss! Speckjäger, Muselmann! Mensch, wenn du auch nur ein Wort nach außen quatschst, dann hauen wir dir die Jacke voll!« Pippig zwängte sich durch den Haufen der erbosten Häftlinge.
»Was hast du gegen das Kind?«, fragte er Rose, der im Gegensatz zu den Übrigen am Tisch saß und demonstrativ arbeitete, er sah feindselig zu Pippig auf. »Ich habe nichts gegen das Kind«, verteidigte er sich. »Aber wenn es herauskommt …« Pippig beugte sich gemütlich über Roses Arbeitsplatz.
»Wenn es herauskommt, dann hat einer von uns gequatscht …«
Rose entrüstete sich: »Meinst du mich damit?« Pippig grinste ihn vielsagend an.
Höfel wollte es zwischen den beiden nicht zu einer Auseinandersetzung kommen lassen, er schob Pippig beiseite und sagte versöhnend: »Sei nicht so ängstlich, August, und habe mehr Vertrauen zu uns.«
Die Übrigen waren anderer Meinung. »Wenn es ihm bei uns zu brenzlig wird, kann er sich ja ein anderes Kommando suchen.«
Rose fuhr heftig auf: »Ich lasse mich nicht verjagen.« Einige der Häftlinge lachten geringschätzig. »Der ist froh, dass er hier seinen warmen Arsch hat.«
Rose erhob sich halb von seinem Stuhl und trommelte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte: »Ich mache meine Arbeit, sonst nichts! Hört ihr?«
Der Streit schien bedrohlich zu werden. Höfel drückte den aufgebrachten Rose auf den Stuhl zurück: »Dich vertreibt niemand. Ruhe, Kameraden! Rose ist kein Zinker.«
»Aber ein Hosenschiss«, lachten und schimpften sie durcheinander.
Rose, von Höfel besänftigt, setzte mit verbissenem Gesicht seine Arbeit fort, die Hände zitterten ihm, als er weiterschrieb.}
Nach Arbeitsschluss {auf dem Block} saß Höfel allein am Tisch. Pippig war nicht da. Viele Häftlinge waren schon in die Betten gekrochen. Hinter Höfels Tisch saß eine Gruppe zusammen, eifrig flüsternd.
In Höfel rumorten die Gedanken. Ein beklemmender Druck lag ihm auf der Brust. {Wie sich das alles komplizierte!} Er stützte den Kopf zwischen die Hände und schloss die Augen. Längst war es ihm klar, dass er Bochow Rechenschaft zu geben hatte. War er zu feig dazu? Sollte er das Kind versteckt halten und niemandem davon sagen? Keinem Bochow, keinem Krämer?
Höfel brütete vor sich hin. Das Geflüster hinter ihm drang an sein Ohr.
Bei Oppenheim haben die Amerikaner einen neuen Brückenkopf gebildet. Panzer sind nach Osten durchgebrochen! Ihre Spitzen haben den Main bei Hanau und Aschaffenburg erreicht. Bewegungskämpfe östlich von Bonn. Die Besatzung von Koblenz wurde auf das Ostufer zurückgenommen. In Bingen Straßenkämpfe.
Höfel wurde aufmerksam. So weit vor sind sie schon. So schnell geht das.
Das Kind einfach versteckt halten …, raunte es in ihm wieder. Er öffnete die Augen.
Hatte er eigentlich kühl und klar gehandelt? Er war dem Trieb des Herzens gefolgt und hatte sich von ihm überrumpeln lassen. War das Herz stärker als der Verstand? {Und gleichzeitig dachte er: Ist Bochows Verstand stärker als dessen Herz?}
Fühlen – denken. Denken – fühlen …
Wie auf einem steuerlosen Schiff trieb er mit seinen Überlegungen dahin und flüchtete sich in tausend Rechtfertigungen hinein. Was hätte er denn getan, wenn er an einem reißenden Strom vorübergegangen wäre, in dem ein Kind zu ertrinken drohte? Ohne Rücksicht auf sich selbst wäre er in die Fluten gesprungen, und nichts hätte selbstverständlicher sein können. {Hätte er nicht das gleiche drückende Schuldgefühl in sich gespürt, wenn er an dem ertrinkenden Kind vorbeigegangen wäre, feig und auf seine eigene Sicherheit bedacht, das gleiche Schuldgefühl, das er vor dem Kind dort hinten im Winkel empfunden hatte, als er noch bereit gewesen war, Bochows Anweisung zu befolgen? Hätte dann nicht aus weiter Ferne ein stummer Finger auf ihn gewiesen?
Das war es! Und es war im Grunde ganz einfach.}
Höfel atmete tief. {Er stand auf. Jetzt war er bereit, zu Krämer zu gehen, um wenigstens mit diesem zu sprechen.}
In Block 3 waren die »Kommandierten« untergebracht, jene Häftlinge, die als Kellner im Offizierskasino beschäftigt waren oder in der Küche oder als Schneider, Schuster, Läufer und Kalfaktoren für die SS.
»’n Ahmd, Karl.« Pippig setzte sich neben den in der SS-Küche beschäftigten Wunderlich und blinzelte diesen verschmitzt an. Wunderlich merkte sofort, dass der Kleine etwas auf dem Herzen hatte. »Was willst du denn?«
»Milch.«
»Milch?{« Wunderlich lachte verblüfft. »}Wozu denn?«
»Zum Trinken, Rindvieh.«
»Für dich?«
Pippig war beleidigt. »Ich trinke Bier, wenn ich welches hätte …« Er zog Wunderlich zu sich heran, flüsterte ihm ins Ohr: »Wir haben ein Kind.«
»Ein was?«
»Pscht«, Pippig sah vorsichtig im Kreise, tuschelte Wunderlich das Geheimnis zu, legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Siehste, Karl, und da brauchen wir eben ein bisschen Milch für das Kleine. – So ’ne Ärmchen hat es und so ’ne Beinchen. Das Würmchen geht uns noch ein. – Na, wie denn, Karl – ’n halben Liter?«
Wunderlich überlegte. »Wie willst du die Milch durchs Tor bringen?« Das war Zustimmung. Pippig strahlte.
»Das lass mal ganz meine Sorge sein.«
»Und wenn sie dich schnappen?«
Pippig wurde ärgerlich: »Pippst du oder pipp – ich?«
Wunderlich lachte. Sie berieten die Sache, die nicht so einfach war, denn wie kam Pippig an die Milch heran? Er konnte sich ein »Bewerbchen« nach »draußen« verschaffen und ein paar alte Klamotten zur SS-Schneiderei bringen. Das war möglich. Die Milch musste demnach zur Schneiderei gebracht werden.
Wunderlich blickte sich im Block um und winkte einen Läufer zu sich heran.
»Was ist?«, fragte dieser, als er zum Tisch trat.
»Hör zu, du kommst morgen früh mal zu mir und bringst eine Flasche Milch zur Schneiderei. Rudi holt sie sich dort ab.«
Der Läufer reichte Pippig die Hand zum Gruß: »’n Abend, Rudi.«
»’n Abend, Alfred.«
Für den Läufer war der Auftrag eine Kleinigkeit, er kam im ganzen SS-Bereich herum.
»Ist gemacht«, sagte er darum nur, ohne viel zu fragen, denn das Besondere wurde stets als das Selbstverständliche getan.
»Nun müssen wir Otto noch Bescheid sagen«, meinte Wunderlich und ging mit Pippig nach dem anderen Flügel des Blocks.
Otto Lange, der Kapo von der SS-Schneiderei, ein älterer, ehemals selbständiger Schneidermeister, der wegen Flüsterpropaganda ins Lager gekommen war, stand am Durchsage-Lautsprecher und hörte die Nachrichtensendungen ab.
Wunderlich zog ihn beiseite.
»Ich schicke dir morgen früh eine Flasche Milch. Pippig holt sie sich bei dir ab.«
Der Schneider nickte und strich sich kreuzweise über die Oberlippe. Eine Angewohnheit noch aus seinem Zivilleben, früher hatte er einen Schnurrbart getragen.
»Pass auf«, instruierte Pippig den Schneider, »ich bringe ein paar alte Mäntel zu dir. Du hast sie von uns angefordert, verstanden?«
Lange nickte: »Jaja, bring sie nur.«
Ein umständlicher Weg, um einen halben Liter Milch zu organisieren, und bei aller Bereitschaft der Beteiligten ein gefährlicher Weg. Wurde Pippig am Lagertor erwischt, platzte die Sache. Er flog unweigerlich in den Bunker, hatte er Glück, bekam er seine 25 übergezogen {über den Arsch. Bitte sehr, gern genommen. Für den Kleinen}. Hatte er Pech, dann landete er im Krematorium, und der Bart war ab. Doch Pippig {hatte keine Angst}. Bei allen tollen Sachen, die er angestellt hatte, beherrschte ihn stets ein optimistisches Gefühl: der liebe Gott verlässt keinen Freidenker. Als er sich vor dem Block von Wunderlich verabschiedete, ermahnte ihn dieser:
»Mensch, lass dich bloß nicht schnappen.«
Pippig setzte zu einer empörten Erwiderung an, aber Wunderlich winkte lachend ab:
»Ich weiß schon, du pippst …«
Pippig trollte sich befriedigt von dannen. In den Block zurückgekehrt, traf Wunderlich auf den Sanitäter vom SS-Revier.
»Du, Franz, kannst du mir morgen früh ein bisschen Traubenzucker rüberschicken?«
Der Sanitäter wiegte bedenklich den Kopf.
»Traubenzucker? Von dem Zeugs haben wir selber nicht mehr viel.«
»Ich brauch’s für einen Kumpel.«
Der Sanitäter seufzte: »Eine Packung, mehr nicht. Ich schicke sie dir mit dem Läufer.«
Wunderlich klopfte Franz auf die Schulter.
Krämer saß noch über dem Appell für den morgigen Tag, als Höfel eintrat. Er setzte sich auf einen Schemel und zündete sich eine Zigarette an. Krämer warf einen kurzen Blick auf ihn.
»Hat es geklappt?«
Höfel rauchte schweigend.
»Da hatte einer im Zug einen Sack auf dem Buckel, das war doch sicher …«, fragte Krämer überm Schreiben.
Höfel brauchte nur zu nicken, und Krämer wäre zufriedengestellt worden. Doch er reagierte nicht, sondern blickte zu Boden. Krämer wurde stutzig.
»Was ist?«
Höfel schob den Rest der Zigarette unter die Schuhsohle und zerscheuerte ihn.
»Ich muss dir was sagen …«
Krämer legte den Bleistift aus der Hand.
»Hast du etwa das Kind nicht mitgegeben?«
Höfel sah ihm ins Gesicht: »Nein.«
Ein plötzliches Schweigen stand zwischen ihnen.
»Mensch …« Krämer sprang auf, lief zur Tür und öffnete. Es war seine Gewohnheit, sich zu überzeugen, ob sie allein waren. Die Schreibstube war leer. Krämer schloss die Tür wieder und lehnte sich dagegen{, als brauche er einen Halt}. Er schob die Hände in die Taschen, presste die Lippen fest aufeinander und sah vor sich hin. Höfel wartete auf den Ausbruch, entschlossen, sich mit aller Kraft entgegenzustemmen.
Doch Krämer blieb seltsam ruhig, und es dauerte eine ganze Weile, ehe er sprach.
»Du hast dich einer Anweisung widersetzt!«
»Ja und nein!« {Von Krämers Blick festgehalten, wurde Höfel unsicher. »Jaja, natürlich, Walter.«}
Krämer wartete, dass Höfel weitersprach, aber der schwieg.
»Und?«, fragte Krämer schließlich.
Höfel schöpfte Atem.
»Es ist etwas eingetreten …« Er stockte, und stockend auch berichtete er, was sich zwischen ihm und Zweiling zugetragen hatte. Es sollte Erklärung und Entschuldigung zugleich sein.
Krämer ließ ihn zu Ende sprechen, seine Backenknochen arbeiteten, und er schwieg noch, als Höfel längst zu Ende war. Sein Gesicht bekam einen harten Zug, die Pupillen wurden eng. Endlich sagte er mit sonderbar heiserer Stimme:
»Glaubst du das alles auch, was du mir da erzählst?«
Höfel hatte seine Sicherheit zurückgewonnen und entgegnete barsch:
»Ich lüge dir nichts vor.«
Krämer stieß sich mit einer umständlichen Bewegung der Schultern von der Tür ab, ging einige Male hin und her und sagte mehr zu sich selbst:
»Natürlich belügst du mich nicht, aber …« Er blieb vor Höfel stehen. »Aber vielleicht belügst du dich selber?«
Höfel machte eine unwillige Bewegung, da brach es aus Krämer heraus:
»Du hast dich mit einem Spitzbuben eingelassen!{« Fast schreiend sagte er es. »Der} Zweiling ist doch ein Spitzbube! Der Bursche sucht bei uns nur Rückendeckung!«
Aber auch Höfel, entschlossen, den Kampf aufzunehmen, wurde lebendiger: »Damit haben wir ihn in unserer Hand.«
Ein trockenes Lachen kollerte aus Krämer heraus.
»In der Hand? Mensch, André, wie lange bist du im Lager? Sechs Monate, was?« Er fuchtelte mit dem Daumen. »Der schafft sich auch Rückendeckung bei seinen Leuten. Mal so, mal so, wie der Wind weht. Sie brauchen die Amerikaner nur fünf Kilometer zurückzuschlagen, schon kriegt mein Zweiling wieder Luft auf den Kasten, und dann hat er dich beim Arsch und das arme Wurm dazu! Mensch, André, was hast du da angerichtet!«
Höfel hob die Hände, es sah aus, als wolle er sich die Ohren zuhalten.
»Mach es mir doch nicht so schwer!«
»Du machst es uns schwer!«{, parierte Krämer kühl.}
Höfel stöhnte gequält:
»Ich konnte doch das Kind nicht …«
»Du solltest das Kind an seinen Betreuer zurückgeben, so war die Anweisung. Du hast sie nicht befolgt. Das ist Disziplinbruch!«
»Wenn wir lebend herauskommen, dann werde ich es vor der Partei verantworten, verlass dich darauf«, versicherte Höfel.
Krämer sah ihm hart in die Augen: »Die Partei ist hier!«
Höfel hatte eine heftige Entgegnung bereit, aber sie erstarb ihm auf den Lippen.
Von Krämers Blick festgehalten, schlug er die Augen nieder. Zu seiner eigenen Zerknirschung musste er sich gestehen, dass Krämer recht hatte. Dennoch bäumte sich alles in ihm auf, wenn er auch nur daran dachte, das Kind seinem Schicksal überlassen zu müssen. Als ob eine mächtige Hand einen Schlüssel ihm ins Herz stoßen und es verschließen würde, so war es ihm. Schuldig fühlte er sich am Kind und schuldig an der Partei. Der Kopf sank ihm auf die Brust.
»Ich konnte nicht anders … ich … konnte … es nicht«, sagte er leise, es war Bitte und Qual.
In diesem Augenblick liebte Krämer den gepeinigten Mann, aber er bezwang sich. »Nicht irgendwann einmal, sondern hier und jetzt wird das geregelt«, sagte er unerbittlich.
Beide schwiegen. Krämer hatte eine scharfe Falte zwischen den Brauen. Unruhig begann er umherzuwandern, er schien nach einem Ausweg zu suchen.
»Das Kind nimmt mir keiner mehr ab«, sagte er schließlich {mehr zu sich selbst} und fuhr zugleich auf Höfel los: »Oder bildest du dir ein, dass ich es irgendjemandem noch als Reisegepäck mitgeben kann?«
Er geriet in neuen Ärger und stapfte wütend umher.
»Hättest du das Kind dem Polen zurückgegeben, dann wäre es schon aus dem Lager, und alles wäre gut. Und was ist nun? Was ist nun?«
Er setzte sich auf den Tisch und faltete die Hände zwischen den offenen Knien. Höfel ließ sich müde auf dem Schemel nieder. In ihm war nichts mehr von jenem befreienden Flug des Herzens …
Der erwartete Zusammenstoß war ausgeblieben, und alles Hohe und Hehre der Tat hatte sich verflüchtigt. Zurückgeblieben war nur ihr nackter und nüchterner Bestand: Disziplinbruch! Höfel sah vor sich hin.
Krämer zog die gefalteten Hände auseinander und sagte endlich milder als sonst:
»Wir wollen nicht zu Feinden werden, André, nicht zu Feinden. Der Spitzbube ist es nicht wert.«
Schwerfällig ließ er sich vom Tisch gleiten und setzte, einem plötzlichen Entschluss folgend, hinzu:
»Du musst mit Bochow sprechen. Du musst!«, beharrte er, als Höfel heftig verweigerte. »Lass es unter uns bleiben, Walter. Mag Bochow glauben, das Kind sei mit dem Polen gegangen.«
Höfels Bitten machten Krämer nervös.
»Jetzt, da das Kind im Lager bleiben muss – muss! hörst du?«, knurrte er, »ist es nicht mehr unsere Sache allein. Ich kenne deine Funktion nicht. Du sollst mir gar nichts davon erzählen, aber du musst wissen, in welche Gefahr du dich mit dem Kind gebracht hast.«
»Was hätte ich tun sollen, als ich es fand?«
»Quatsch! Darum geht es nicht. Du hattest Anweisung, das Kind aus dem Lager zu bringen.«
»{Nach Bergen-Belsen!}« Höfels verzweifelter Ruf war wie ein Schnitt. Krämer schnaufte, sein Blick wurde finster. Die beiden Männer standen sich wortlos gegenüber und grübelten. Krämer vermochte es nicht länger zu ertragen. Nach einem Ausweg suchend, stapfte er auf und ab.
Er hörte nur halb auf Höfel, der ihn bedrängte.
»Es dauert nicht mehr lange, Walter, bestimmt nicht. Jeden Tag kann der Amerikaner hier sein. Walter! Die paar Tage halten wir durch. Warum soll ich noch mit Bochow sprechen und ihn unruhig machen? Das Kind kriegen wir doch nicht mehr aus dem Lager. Du sagst es selbst. Also was dann? Lass es unter uns bleiben. Keiner weiß es. Nur du und ich, und sonst aus.«
»Und Zweiling?«
»Der kuscht.« {rief Höfel voll Eifer.}
Krämer lachte in bitterem Hohn. Die Situation drängte zum Handeln, gleich, ob Bochow verständigt wurde oder nicht. {Was konnte dieser schließlich tun? Er konnte fluchen und auf Höfel schimpfen, aber damit kam das Kind nicht aus dem Lager. Blieb es nicht an ihm, dem Lagerältesten, hängen, Höfel aus der Gefahr zu ziehen, in die ihn sein Fehler gebracht hatte? Krämer hatte es längst. Er ahnte, dass es am besten war, Bochow gar nicht erst in die neue Lage einzuweihen.} Den Auftrag, der ihm durch Bochow gegeben worden war, hatte er nicht korrekt durchgeführt. Seine Pflicht wäre es gewesen, Höfel zu kontrollieren, aber er hatte es diesem überlassen, und nun …? »Verdammter Mist«, knurrte Krämer, wütend über sich und alles, und stapfte, wie getrieben, umher. Da es ihm widerstrebte, Höfel Zugeständnisse zu machen, bellte er ihn ärgerlich an:
»Und wenn wir Bochow nichts davon sagen? Was dann? Was dann?«
Das war halbe Zustimmung! Höfel hob erfreut die Hände, als wolle er sie Krämer auf die Schulter legen. Der entzog sich ihm und schnauzte: »Das Kind muss raus aus der Kammer, weg von dir!«
»Wohin?«, fragte Höfel.
»Ja, wohin? Siehst du, was du angerichtet hast? Wohin stecken wir nun das Kind? Es muss weg von dir und dem verfluchten Zweiling an eine Stelle, wohin keine SS kommt.«
Es gab dafür nur einen Ort, die Seuchenbaracke im Kleinen Lager. Um diese machte jeder SS-Mann einen scheuen Bogen, aus Furcht, sich mit Typhus oder Fleckfieber anzustecken.
Krämer blieb vor Höfel stehen und sah ihn hart an.
»Block 61!«, sagte er knapp.
Höfel erschrak. »In die Seuchenbaracke? Ausgeschlossen!«
»{Quatsch!«, schnitt Krämer Höfels Widerspruch energisch ab.} »Das Kind kommt nach 61! {Aus! Punkt! Schluss!}« Krämer redete sich selbst in die Richtigkeit seines Entschlusses hinein.
»Die polnischen Pfleger hausen monatelang in der Baracke und haben sich noch nichts geholt. Die sind auf Draht. Über das Kind halten sie alle Hände, verlass dich drauf. Ist doch ihr Kind, ein polnisches. – Oder soll ich es vielleicht bei mir im Papierkorb verstecken? Hm?«
Höfel schwieg, biss die Lippen aufeinander. Krämer polterte:
»Es gibt nichts anderes, basta. Genug, dass du mich mit hineingezerrt hast! {Immer noch besser als Bergen-Belsen.} Also keine Geschichten! Das Kind kommt nach 61! {Ich spreche mit dem polnischen Blockältesten und werde dafür sorgen, dass das Wurm gut untergebracht wird.}«
Höfel stierte vor sich hin. Immer noch besser als {Bergen-Belsen}.
Er schaute auf. »Und Bochow?«
Krämer wurde ungehalten.
»Ich denke, das ist unsere Sache? Hast du es nicht selber gesagt?«
Höfel nickte wortlos, er hatte nicht die Kraft, froh zu sein.
Zweiling wohnte abseits vom Lager in einer hübschen, von Häftlingen erbauten Siedlung für die SS. Seit zwei Jahren war er verheiratet und hatte in der 25-jährigen Hortense eine Frau, um die er im Geheimen von so manchem Scharführer aus der Siedlung beneidet wurde. Vollbrüstig war die Frau und von strotzender Gesundheit. Doch die Ehe war aus vielerlei Gründen nicht in Ordnung. Die schicke Uniform hatte Hortense ehedem mächtig imponiert, doch konnte dieser Umstand im Laufe der kurzen Ehe nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter der schneidigen Dekoration ein öder und willensschlapper Kerl steckte. Hortense hatte oft schon heimliche Vergleiche angestellt zwischen ihrem Mann und dem straffen Hauptsturmführer Kluttig, der zwar nicht ansehnlich, dafür aber männlich war. Als Ergebnis dieser Vergleiche blieben nur Verachtung und Geringschätzung für Zweiling übrig. Die Ehe wurde immer langweiliger und lustloser, und die beiden hatten sich kaum noch etwas zu sagen. Doch das war nicht die größte Enttäuschung für die Frau. Hortense bekam keine Kinder. Auch der Arzt konnte nicht helfen, innere Verwachsungen verhinderten die Konzeption. Die Frau hatte sich damit nicht abfinden können, und sie schob heimlich die Schuld auf ihren engbrüstigen Mann, der mit seinem untrainierten Körper und seiner käsigen Haut so unvorteilhaft von ihr abstach. Hortenses Gefühlsleben hatte sich verhärtet, und oft hatte sie den Mann im Bett von sich gewiesen mit einem unwirschen: »Ach, lass mich.«
Manchmal aber tat er ihr leid, und wenn sie es ihm dann lustlos gestattet hatte, war er hinterher wie ein gestreicheltes Hündchen in sein Bett zurückgekrochen. In ihrer Haushaltführung war Hortense sehr selbständig und ließ sich von Zweiling in nichts hineinreden, wie sie überhaupt alles tat, ohne ihn vorher um seine Meinung gefragt zu haben.
An diesem Abend saß Hortense im Wohnzimmer vor der Anrichte und packte Porzellangeschirr, vorsorglich mit Zeitungspapier umwickelt, in eine Kiste.
Zweiling war nach Hause gekommen. Er hatte einen Stiefel ausgezogen und den nackten Fuß auf einen Polstersessel gestellt. Mit der dicken grauen Socke wischte er zwischen den warm-feuchten Zehen, von denen ein säuerlicher Geruch aufstieg, und betrachtete sich sorgenvoll die wieder einmal wundgelaufene Ferse.
Hortense beachtete ihn nicht. Sie war mit dem Verpacken beschäftigt. Zweiling zog die Socke wieder über und zwängte sich den anderen Stiefel ab. Er trug die Stiefel hinaus, kam, Latschen an den Füßen, mit aufgeknöpfter Uniformjacke, wieder ins Wohnzimmer zurück und setzte sich in den Polstersessel.
Eine Weile sah er Hortense zu, die Unterlippe zurückgezogen. Ihm kam es in den Sinn, dass ein Scharführer mit appetitvollem Schmunzeln gesagt hatte: »Beine hat deine Frau … oho …«
Zweiling betrachtete Hortenses runde, ein wenig zu volle Waden und das Stück nackten Schenkels unter dem hochgerutschten Rock. – Das könnte dem so passen.
»Was machst ’n denn da?«
Hortense antwortete nebenhin:
»Man kann nie wissen …«
Zweiling war diese Antwort unverständlich. Er versuchte einen Sinn hineinzudenken, es gelang ihm nicht. Er fragte wieder: »Was meinste?«
Hortense sah von ihrer Beschäftigung hoch und entgegnete gereizt: »Denkst du, ich lasse mein schönes Porzellan im Stich?«
Jetzt hatte Zweiling begriffen. Er machte eine nichtssagende Handbewegung:
»So weit ist es noch nicht.«
Hortense lachte hässlich auf, sie packte weiter, wütend geworden. Zweiling hatte sich im Sessel zurückgelehnt, die Beine behaglich ausgestreckt und die Hände überm Bauch gefaltet. Nach einer Weile sagte er: »Aber ich habe schon vorgebaut …«
Hortense antwortete nicht sogleich, es schien ihr nicht wichtig, doch dann drehte sie den Kopf nach Zweiling um und fragte neugierig: »So? Was denn?«
Zweiling lachte vor sich hin.
»Na, dann rede doch?«, fuhr Hortense ihn heftig an.
»Da hat einer bei mir – mein Kapo – einen Judenbalg versteckt.«
Zweiling lachte aufs Neue vor sich hin. Hortense drehte sich auf ihrer molligen Sitzfläche vollends zu ihrem Mann um:
»Na und? – Was dann?«
»Geschnappt habe ich ihn.«
»Haste ihm das Kind weggenommen?«
»Echa. Ich bin doch nicht blöde.«
»Na, was haste denn gemacht?«, drängte Hortense ungeduldig.
Zweiling verzog hämisch den Mund und kniff ein Auge zu, dabei beugte er sich vertraulich zu Hortense: »Du versteckst Porzellan und ich ein Judenbalg.« Er kicherte tonlos.
Hortense erhob sich schnell: »Erzähle!«
Zweiling lehnte sich im Sessel zurück und meinte:
»Was gibt’s da groß zu erzählen? – Ich habe ihn eben dabei geschnappt, und das andere ging alles ganz einfach. – Wenn ich ihn in den Bunker gebracht hätte, dann hätte er jetzt schon ’nen kalten Arsch.«
Hortense hörte immer gespannter zu: »Ja … warum hast du ihn denn nicht …?«
Zweiling tippte sich schlau an die Schläfe:
»Haust de meinen Juden – nicht, dann hau ich deinen Juden – nicht. Sicher ist sicher.«
Überrascht bemerkte er, dass Hortense ihn angstvoll anstarrte, und fragte sie deshalb verwundert:
»Na, was is denn, was glotzte denn so?«
»Und das Kind?«, fragte Hortense atemlos.
Zweiling hob die Schultern und bemerkte beiläufig:
»Das ist noch bei mir auf der Kammer. – Die Kerle passen schon auf, da kannste dich drauf verlassen.«
Hortense setzte sich sprachlos auf einen Stuhl.
»Und du verlässt dich auf die Kerle? – Du willst wohl gar noch im Lager bleiben, wenn die Amerikaner kommen? Ja, sag mal …«
Zweiling winkte gelangweilt ab. »Red doch nicht so ’n Blech zusammen. Im Lager bleiben? Aber weißt denn du, ob ich schnell genug aus dem Lager rauskomme, wenn’s so weit ist? Dann ist das Judenbalg ’ne ganz großartige Sache. Meinste nicht? Da wissen se wenigstens, dass ich ein guter Mensch bin.«
Hortense schlug entsetzt die Hände zusammen.
»Gotthold, Mensch! Was hast du da gemacht?!«
Zweiling wunderte sich über ihre Erregung: »Was willste denn, das geht doch alles in Ordnung.«
»Wie stellst du dir das eigentlich vor?«, entgegnete Hortense heftig. »Wenn das mal andersrum geht, dann fragen die Kerle nicht danach, ob du ’n guter Mensch gewesen bist. Die legen euch noch um, ehe der erste Amerikaner da ist.«
Sie schlug wieder die Hände zusammen. »Sechs Jahre ist der Mann nun bei der SS …«
Zweiling wollte aufbrausen. Seiner Zugehörigkeit zur SS wegen ließ er sich von Hortense nicht verspotten, hier duldete er keine Kritik. Doch die Frau schnitt ihm respektlos das Wort ab: »Was haste denn nun weiter gedacht? Na? – Wenn’s mal andersrum kommt, was willste dann machen?«
Von ihrer Heftigkeit irritiert, blickte Zweiling auf. Hortense stand mit aggressiv aufgestützen Armen vor ihm. Zweiling blinzelte ohne Gedanken. Hortense keifte plötzlich unbeherrscht los: »Ich kann arbeiten! Kochen kann ich gehen! Und du? – gelernt haste nischt, gar nischt! Und wenn’s aus ist mit dir bei der SS, was dann?«
Zweiling hatte nur eine lässige Geste zur Antwort, damit gab sich Hortense nicht zufrieden.
»Soll ich dich etwa ernähren?«
»Quatsch nicht so!« Zweiling spürte Hortenses Geringschätzung. »Warte erst mal ab, was kommt. Du siehst doch, dass ich vorgebaut habe.«
»Mit deinem Judenbalg?« Hortense lachte kreischend auf. »Vorgebaut! Na so was! Hand in Hand mit der Kommune!«
Zweiling ruckte sich ärgerlich hoch und ging mit heftigen Schritten durchs Zimmer. Hortense lief ihm nach und zerrte ihn am Ärmel zu sich herum, seine hochmütige Zurechtweisung hatte keine Wirkung auf sie.
»Und wenn’s rauskommt? Na?«
Zweiling blickte Hortense erschrocken an.
»Was soll denn rauskommen?«
Sie rüttelte an seinem Ärmel und wiederholte drängend:
»Wenn’s rauskommt …?«
Zweiling stieß ihre Hand unwillig von sich, aber Hortense gab nicht nach, sie vertrat ihm den Weg, als er an ihr vorbeigehen wollte.
»Mensch! – Bist du denn von Gott verlassen? – So was noch anzurichten zu guter Letzt! – Begreifst du nicht, was du da angestellt hast? Wenn’s rauskommt, dann knallen dich deine eigenen Leute im letzten Moment noch ab.«
Zweiling, unsicher geworden, bellte:
»Was soll ich denn machen?«
»Schrei nicht so«, zischte Hortense scharf, »du musst dir das Judenbalg vom Halse schaffen, so schnell wie möglich!«
Hortenses echte Angst griff auf Zweiling über. Er erkannte plötzlich die Gefahr.
»Wie ich das machen soll, will ich wissen!«
Hortense schrie:
»Das weiß ich doch nicht! – Du bist doch der Scharführer und nicht ich!«
Sie hatte zu laut geschrien und schwieg erschrocken. Das Gespräch stockte plötzlich.
Hortense kniete sich vor den Korb und packte weiter. Wütend zerrte sie die Zeitungsbogen auseinander {Nackte Angst hockte zwischen ihnen}, und sie sprachen den ganzen Abend über kaum noch ein Wort miteinander. –
Zweiling suchte nach einem Ausweg. Er grübelte noch darüber, als er schon lange im Bett lag. Plötzlich richtete er sich auf und stieß die Frau ins Kreuz. »Hortense!«
Erschrocken fuhr diese hoch und konnte sich, verschlafen, wie sie war, nicht zurechtfinden, als Zweiling triumphierend rief:
»Ich hab’s!«
»Was denn?«
Zweiling knipste das Licht an: »Los, raus hier!«
In der Kälte zusammenschauernd, maulte Hortense mürrisch: »Was soll ich denn?«
Zweiling war schon an der Tür und knurrte befehlend: »Los, komm!«
Das war der Scharführer, und vor dem hatte Hortense Angst. Sie kroch daher aus dem warmen Bett, zog den Morgenrock über das dünne Nachthemd und folgte Zweiling nach der Stube. Der kramte bereits in einem Kasten der Anrichte herum.
»Papier brauche ich zum Schreiben.«
Hortense schob ihn beiseite und wühlte in dem Kram, der liederlich im Kasten durcheinanderlag.
»Da haste.« Sie reichte Zweiling eine alte Einladung der NS-Frauenschaft, doch Zweiling warf den Zettel wütend in den Kasten zurück.
»Bist wohl verrückt?« Er sah sich suchend um. Auf einem Stuhl lag ein eingewickeltes Paket. Zweiling riss von der Verpackung ein Stück ab.
»Das ist das Richtige.« Er legte den Fetzen auf den Tisch und herrschte Hortense an: »Bleistift, los! Setz dich her, du musst schreiben.«
In Eifer geraten, schabte er sich die Backe.
»Wie schreibt man denn da?«
»Ich weiß doch noch gar nicht, was du willst«, keifte Hortense, die sich mit dem Bleistift an den Tisch gesetzt hatte.
»Schreib!«, herrschte Zweiling sie an, hielt ihr aber sofort die Hand fest, als Hortense den Bleistift aufsetzte. »Nicht so, mit Druckbuchstaben. Es muss aussehen, als ob es ein Häftling geschrieben hat.«
Hortense warf den Bleistift hin: »Na höre mal …«
»Quatsch, schreib!«
Er schabte sich die Backe, dann diktierte er:
»Der Kapo Höfel und der Pole Kropinski haben auf der Effektenkammer ein Judenkind versteckt, und Hauptscharführer Zweiling weiß nichts davon.«
Hortense malte es mit kräftigen Druckbuchstaben aufs Papier. Zweiling überlegte. Das war noch nichts.
Er riss ein neues Stück von der Verpackung ab und schob es Hortense hin.
»Höfel von der Effektenkammer und der Pole Kropinski wollen Hauptscharführer Zweiling eins auswischen. Sie haben ein Judenkind versteckt in der Kleiderkammer rechts hinten in der Ecke.«
Zweiling trat hinter Hortense und schaute ihr über die Schulter zu.
»So ist’s richtig. – Und nun schreibste drunter: Ein Häftling von der Effektenkammer.«
Noch während Hortense malte, fragte sie:
»Was willste denn mit dem Zettel?«
Zweiling scheuerte genüsslich die Hände aneinander:
»Den schiebe ich Reineboth unter die Weste.«
»Du bist mir vielleicht ’n Gauner«, meinte Hortense verächtlich.
Zweiling nahm es als Anerkennung. Hortenses pralle Brüste unter dem dünnen Nachthemd kitzelten seine Augen. {Er umgriff feixend die Frau.}
Gleich nach dem Morgenappell des anderen Tages lief Pippig zum Revier hinunter. Hier erwischte er Köhn in der Ambulanz.
»Du, ich brauche eine Gummiwärmflasche.«
»Zu was?« Köhn blickte verwundert auf Pippig, der vom schnellen Lauf noch außer Atem war, und schüttelte verneinend den Kopf.
»Wir haben selber bloß ein paar von den Dingern.«
»Ich bringe sie dir gleich wieder.«
Pippig bettelte, und es bedurfte seiner ganzen Überredungskunst, dem misstrauischen Köhn einen dieser kostbaren Wärmbeutel abzuringen. Damit rannte Pippig zur Kammer zurück und ließ sich von Kropinski die Wärmflasche auf den Leib binden. Mit einem Packen von Kropinski schon zurechtgelegter Mäntel verließ er die Effektenkammer und stieg den Appellplatz hinauf zum Tor. Hier meldete er sich ab. Der SS-Mann hinter dem Schalterfenster schrieb gleichmütig den Passierschein aus, und der Blockführer, der vor dem Fenster den Einlassdienst versah, musterte Pippig.
»Was schleppst du da für Klamotten fort?«
Pippig, auf Fragen und Zwischenfälle vorbereitet, machte ein straffes Linksum, wohl wissend, dass militärische Exaktheit, auf die die SS besonderen Wert legte, der beste Passierschein war.
»Ausgesuchte Wollsachen für Reparaturzwecke zur SS-Schneiderei!«, meldete er und drückte einen Akzent auf das Wort »Wollsachen«, das im Ohr des Blockführers besonders wohlklingend sein musste. Der Krieg stand immerhin im fünften Jahr …
Mit Genugtuung ließ Pippig die Mäntel von dem Blockführer begutachten. Die korrekt abgegebene Erklärung und die vorzügliche Qualität der Mäntel gaben dem Blockführer keinen Grund, an dem Häftling etwas auszusetzen. Mit einer kurzen Kopfbewegung entließ er ihn.
»Hau ab, du Vogel.«
Pippig riss sich überflüssigerweise noch eine vorbildliche Kehrtwendung aus den Hacken. Als er das Tor passiert hatte, war ihm zumute, als wäre er soeben durch ein Nadelöhr geschlüpft.
In der Schneiderei nahm ihn ein Rottenführer in Empfang.
»Was bringen Sie da für Zeug?«
Noch ehe Pippig antworten konnte, rief Lange von hinten dem SS-Mann zu: »Ausbesserungsmaterial, Rottenführer, ich habe es von der Effektenkammer angefordert. Geht in Ordnung.« Der Rottenführer ließ Pippig passieren.
Dieser schleppte die Mäntel durch die Reihen der an ihren Maschinen emsig nähenden Häftlinge und knallte den Packen auf den Zuschneidetisch vor Lange hin. Der Kapo begutachtete umständlich jeden einzelnen der Mäntel. Er hielt ihn hoch, drehte und wendete ihn nach allen Seiten, breitete ihn auf der Tafel aus, prüfte das Futter und den Stoff und war sehr beschäftigt. Nur seine Augen gingen während dieser eifrigen Tätigkeit in bestimmter Richtung, die Pippig gelehrig ablas.
Aha, in der Lumpenkiste unter der Tafel! –
Pippig kauerte sich schnell nieder. Sein Verschwinden wurde von Lange durch hochgehaltene Mäntel gedeckt, und unten war Pippig durch die Umspannung um die Tafel vor Sicht verborgen. Mit flinken Fingern öffnete Pippig Jacke und Hemd, schraubte den Verschluss von der Wärmflasche ab, wühlte im Lumpenkasten, fand die Flasche, und noch während er die Milch umgoss und die leere Flasche wieder in den Lumpen versteckte, fiel von oben ein Päckchen herab. Der Traubenzucker! Pippig blickte zu Lange auf. Der kniff ein Auge zu. Sie hatten sich verständigt.
Pippig steckte das Päckchen ein, brachte seine Kleidung in Ordnung und richtete sich auf. Noch einige belanglose Worte, und dann zockelte der Kleine davon. Vorn signierte der Rottenführer den Passierschein.
Die eiskalte Milch kühlte Pippigs Bauch. Unterwegs legte er das Päckchen Traubenzucker in die Griffstelle seiner schirmlosen Häftlingsmütze, so dass er es immer in der Hand hielt, wenn er vor einem SS-Mann die Mütze ziehen musste.
Als Pippig zum Lagertor kam, sah er schon von weitem einen Haufen von Häftlingen am Schalter stehen und gewahrte, dass der Blockführer jeden Einzelnen von ihnen abtastete.
Verflucht! Der Kerl filzt! –
Umkehren oder stehen bleiben konnte Pippig nicht mehr, dazu war er zu nah am Tor. Was machen? Frechheit siegt! Pippst du oder pipp ich? – Ich pippe! Furchtlos ging Pippig auf das Nadelöhr zu. Hier zwängte er sich durch den Häftlingshaufen, riss die Mütze mit dem Päckchen herunter, knallte mit den Hacken und rief: »Häftling 2398 von SS-Schneiderei ins Lager zurück!«
Als der mit dem Filzen beschäftigte Blockführer sich umdrehte, hielt ihm Pippig den Passierschein hin, machte eine elegante Kehrtwendung und – da war er auch schon durchs Nadelöhr geschlüpft. Sekunden, mit Spannung angefüllt bis zum Zerreißen! Würde es hinter seinem Rücken schreien: »He! Der von der Effektenkammer! Zurück ans Tor!«
Mit jedem Schritt, der Pippig vom Tor wegführte, lockerte sich die Spannung. Die Kälte auf dem Bauch fühlte er nicht mehr. Der Ruf blieb aus! – Hinter Pippig dehnte sich eine unendliche, schützende Leere. Als er die Hälfte des Appellplatzes hinter sich gebracht hatte, verfiel Pippig in Trab. Die Spannung entwich vollends, und an ihrer Stelle strömte ein ungeheurer Jubel in seine Brust.
Pippig rannte! Freu dich, Kleiner, es gibt Milch! –
Kropinski hatte Freudentränen in den Augen. Immer wieder streichelte er Pippigs Arm, als sie beide vor dem Kinde kauerten und andächtig zusahen, wie es dem Kleinen schmeckte. Das Kind hielt die große Aluminiumtasse mit beiden Händen fest, sah aus wie ein kleiner Bär und schmatzte – schmatzte …
»Guter Bruder, tapferer Bruder«, flüsterte Kropinski.
Pippig erwiderte: »Mensch, wenn du wüsstest, was ich für ’nen Schiss in den Hosen gehabt habe …«
Er lachte, er glaubte es selber nicht.
Unvermittelt stand Höfel hinter ihnen, sie schauten glücklich zu ihm auf.
»Woher habt ihr die Milch?«
Pippig griente Höfel an, stach dem Kind mit dem Zeigefinger in den Bauch: »Auf der Weide steht ’ne Kuh, und die macht muuuhhh …«
Das Kind lachte.
Pippig ließ sich auf den Hintern fallen und schlug die Hände zusammen.
»Es hat gelacht! Habt ihr’s gehört? Es hat gelacht!«
Höfel blieb ernst. Er sah müde aus, weil er eine unruhige Nacht hinter sich hatte. Noch vor dem Morgenappell hatte er durch Krämer erfahren, dass mit Zidkowski, dem polnischen Blockältesten von 61, alles klargemacht worden war.
Nun stand Höfel vor dem Kind, sah zu, wie diesem die Milch schmeckte. Jetzt galt es, den beiden begreiflich zu machen, dass das Kind …
»Hört zu«, begann Höfel.
Pippig, der Krämers morgendlichen Besuch beobachtet hatte, wusste sofort, dass aus Höfel der Lagerälteste sprach, und der musste Gründe haben, das Kind aus der Kammer zu entfernen. Aber ausgerechnet in die Seuchenbaracke?
Höfel beruhigte die beiden. Am hellen Tag war es nicht möglich, das Kind nach dem Kleinen Lager zu bringen. Es konnte nur in der Dunkelheit geschehen. Nach dem allgemeinen Appell verließ Zweiling in der Regel die Effektenkammer. Das war die günstige Gelegenheit. Pippig schob die Hände in die Hosentaschen und sagte voll Trauer: »So ’n kleines Miezekätzchen …«
Ein Häftling kam und warnte sie. Zweiling sei eben gekommen. Sie mussten abbrechen.
Zweiling hatte sich sofort in sein Zimmer zurückgezogen und noch keine Gelegenheit gehabt, den Zettel unterzubringen. Als er ins Lager gekommen war, hatte er vorsichtig ins Rapportzimmer hineingesehen. Reineboth, am Schreibtisch sitzend, hatte verwundert aufgesehen, als sich Zweiling mit einem verlegenen Gruß zurückzog. Was wollte der blöde Heini von der Effektenkammer? –
Am Vormittag war Zweiling des Öfteren nach draußen gegangen, aber niemals klappte es, immer war am Tor etwas los.
{Zweiling hoffte auf eine Gelegenheit während der Mittagspause, da saßen sie alle im Kasino. Lange drückte sich Zweiling im Kasino herum, aber Reineboth kam nicht.}
Für den Rest des Nachmittags saß Zweiling grübelnd in seinem Zimmer. Nach dem Abendappell schwang sich Reineboth gewöhnlich auf sein Motorrad und fuhr zu seinem Liebchen nach Weimar hinunter. Um den Zettel loszuwerden, blieb Zweiling nichts übrig, als den Appell vorbeizulassen und abzuwarten, bis Reineboth das Lager verlassen hatte.
War es überhaupt richtig mit dem verdammten Zettel?
Die Angst, die Hortense ihm eingejagt hatte, saß ihm noch immer lähmend in den Gliedern. Solange er bei der SS war, hatte er es nie nötig gehabt, sich über seine Zukunft Gedanken zu machen. Seine Zugehörigkeit zum Totenkopfverband und zur Lager-SS hatte ihn bisher aller Mühe des Lebens enthoben. Erst seit der gestrigen Auseinandersetzung mit Hortense sah er das Ende des Lagers erschreckend nah vor sich, es ließ sich nicht mehr in eine bequeme Ferne schieben. An seinen möglichen Tod dachte Zweiling nicht, dazu war er zu träge. Während er durch das Fenster in stumpfer Langeweile die Häftlinge betrachtete, die im Kleiderraum beschäftigt waren, schwelten die Gedanken in ihm. Was wurde aus ihm?
»Soll ich dich etwa ernähren? Gelernt haste nischt, gar nischt …« Das zupfte ihn immer wieder, und die Unbequemlichkeit eines Lebens in ungewisser Zukunft machte ihn verdrießlich. Dass es aber auch so schiefgehen musste mit dem Krieg!
Bis jetzt hatte Zweiling sein Auskommen gehabt. Auf einmal sollte das nicht mehr so weitergehen? Der Führer hatte sich verkalkuliert. Führer? – Scheiße! An diesen dachte Zweiling im Augenblick wie an einen völlig Fremden und Unerreichbaren, der irgendwo in einem sicheren Bunker saß, bombensicher! {Für den stand eines Tages ein Flugzeug bereit.}
Zweiling fühlte sich alleingelassen. Der Lagerkommandant beachtete ihn kaum. Und die anderen? Kluttig? Reineboth? Sie taten nur schön mit ihm, wenn es bei ihm etwas abzukochen gab. Ein goldenes Zigarettenetui von einem Juden, einen Brillantring, einen goldenen Füllhalter … Kamerad Hauptscharführer … und auf die Schulter geklopft. –
Kamerad? Zweiling lachte sich selbst den Hohn zu, mit dem diese »Herren Kameraden« ihn bedenken würden, wenn er eines Tages ihre Hilfe notwendig hatte. Die allgemeine Angst wurde plötzlich zur Angst vor Kluttig und Reineboth. Diese ließen ihn unweigerlich hopsgehen, wenn es mit dem Judenbalg herauskommen würde. –
Höfel war an die lange Tafel getreten und unterhielt sich mit den Häftlingen. Feindselig sah Zweiling durchs Fenster. Die Angst in ihm verfärbte sich zum Hass auf den Sauhund da draußen, der ihm die Schweinerei mit dem Judenbalg eingebrockt hatte. Dem habe ich’s zu danken, dachte Zweiling, über den Rost lasse ich dich gehen, du Aas! –
»Mach die Luke dicht, du sabberst wieder …«
Hortense hatte sich diese Redensart angewöhnt, weil sie Zweilings ewig offenen Mund nicht leiden mochte.
Als hätte sie es eben wieder gesagt, schreckte Zweiling aus seinem Grübeln auf, klappte ertappt den Mund zu, erhob sich, stakte zur Tür, öffnete:
»Höfel!«
Der Angerufene blickte hoch und folgte Zweiling ins Zimmer nach. Sooft sie sich gegenüberstanden, war etwas zwischen ihnen, das geflissentlich ignoriert werden musste, die Sache mit dem Kind! Sie lauerte nur als gefährliches Wissen hinter den Stirnen, und Höfel wartete stets mit einer gewissen Spannung auf das, was Zweiling ihm zu sagen hatte. Ruhig und mit geradem Blick sah er den Scharführer an. Dieser streckte hinter dem Schreibtisch die langen Beine aus.
»Heute kommt kein Transport mehr. Nach dem Appell schert ihr euch alle auf eure Blocks.«
Was bedeutete das?
»Es passt euch wohl nicht mal, wenn ihr zeitig Feierabend habt?« Leutselig sollte es klingen.
»Wir haben noch sehr viel zu tun.«
Zweiling winkte ab. »Morgen. Für heute ist Schluss. – Ist sowieso bald Schluss«, fügte er hinzu.
»Wie meinen Sie das, Hauptscharführer?«, stellte Höfel sich naiv.
»Tun Sie nicht so«, entgegnete Zweiling mit gemachter Vertraulichkeit. »Wir zwei wissen doch Bescheid …«
Sie maßen sich mit Blicken.
»Lassen Sie zum Zählen antreten. Den Schlüssel nehme ich heute selber mit.«
Als Höfel das Zimmer verließ, meinte er Zweilings lauernden Blick im Rücken zu spüren. Ein kurzes Zwinkern der Verständigung zu Pippig, der an der Tafel gestanden und den Vorgang argwöhnisch beobachtet hatte, sagte diesem, dass etwas im Gange war. Sie wechselten kein Wort, nur ihre Augen sprachen: Aufpassen!
»Antreten zum Zählappell!« Höfel ging durch die Kammer.
»Antreten zum Zählappell!«
Die Häftlinge des Kommandos, verwundert über das vorzeitige Zählen, sammelten sich im Raum vor der langen Tafel. Indessen ging Höfel durch die Kammer und kontrollierte die verschlossenen Fenster. Dabei überlegte er. Schaffte Zweiling diesmal den Schlüssel selbst zum Tor, dann waren sie ausgesperrt und konnten nur von außen in das Gebäude gelangen.
Der ursprüngliche Plan musste umgestoßen werden.
Das Gefühl einer versteckten Gefahr ließ Höfel nicht mehr los.
Warum blieb Zweiling länger als sonst in der Kammer, was hatte er vor? – Kropinski, ebenfalls über den frühen Zählappell verwundert, kam aus dem Winkel.
»Was ist?«
Höfel beruhigte den Polen und schickte ihn nach vorn. Als er allein war, öffnete Höfel eines der beiden Fenster, die sich an der Stirnseite des Gebäudes befanden, und beugte sich orientierend hinaus. Knapp drei Meter unter dem Fenster lag das Dach eines Verbindungsgebäudes, das von der Bekleidungskammer im ersten Stock nach dem Bad führte. Höfel sah es mit Befriedigung. Er klappte die Fensterflügel zu, sperrte aber deren Verriegelung so lose, dass sie nachgeben musste, wenn man von außen gegen den Fensterrahmen drückte. Dann ging er nach vorn. –
Es war schon finster und der Appell des Lagers längst vorbei, doch Zweiling befand sich noch immer in der Effektenkammer. Im bergenden Dunkel einer Ecke zwischen der Küche und dem Bad standen Höfel, Pippig und Kropinski. Schweigend beobachteten sie die Fenster im zweiten Stock des großen Steingebäudes.
Im scharfen Sprühregen frierend, die Hände tief in die Taschen der dünnen Hosen vergraben, starrten sie zu den Fenstern empor. Reglos lastete die Stille über dem Lager. Kein Häftling war zu sehen. Hin und wieder lief ein eiliger Blockältester, von der Schreibstube kommend, über den knackenden Schotter und verschwand irgendwo in einem Block. Die aufgescheuchte Stille beruhigte sich und erstarrte wieder. Verhalten glimmten die roten Lämpchen am Zaun. Der regenfeuchte Asphalt des weiten Appellplatzes schimmerte fahl. Rund um das Lager stand der schwarze Wald.
Kropinski flüsterte etwas, es war nicht zu verstehen, und keiner der beiden antwortete.
Ob das Kind schon schlief?
Zweiling hatte die Lampe unter den Schreibtisch gestellt und sie mit einem Tuch verhängt, um das Licht gegen die nicht abgedunkelten Fenster abzuschirmen. Jetzt durfte er sicher sein, dass Reineboth das Lager verlassen hatte und die Torwache abgelöst worden war. Den Zettel steckte er griffbereit in die obere Außentasche der Uniform, knipste die Lampe aus und stellte sie auf den Tisch zurück. An der Fensterseite des Kleiderraums tappte er sich im Dunkel nach hinten zum Winkel, schob den Stapel zur Seite. Mit einer Stablampe leuchtete er in den Raum hinein. Das Kind blickte mit aufgerissenen Augen in das blendende Licht und verkroch sich unter der Decke.
Draußen riss Kropinski Höfel am Arm: »Da!«
Die drei starrten auf das letzte Fenster, hinter dem der Schein geisterte. – Plötzlich rannte Pippig auf die Effektenkammer zu. Höfel erwischte ihn, noch ehe er durch die unverschlossene Tür ins Gebäude jagen konnte, zerrte ihn zurück und zischte: »Bist du verrückt?!«
Pippig keuchte: »Den Hund schlage ich tot!«
Auch Kropinski war hinzugekommen. Oben knarrte eine Tür. Nur Sekunden blieben für Entscheidungen. Die drei flüsterten miteinander, heiß und hastig. –
Höfel verschwand im Gebäude, und die beiden anderen huschten wie Mäuse in die dunkle Nische unter einer vorgebauten Treppe. Blitzschnell hatte Höfel die Tür hinter sich zugemacht. Über ihm klappten die Stiefeleisen auf dem Stein der Stufen. Ein fahler Lichtschimmer der abgeblendeten Stablampe gespensterte die Stufen herunter. Der Hausflur war dunkel. Weniger als eine Sekunde hatte Höfel Zeit zu überlegen, wo er sich verstecken konnte, und hatte keine Wahl. Es blieb nur die Ecke der zwei Meter breiten Wand neben der Eingangstür. Stehen oder kauern? Instinktiv kauerte sich Höfel blitzschnell an der nackten Wand zusammen, drückte den Kopf auf die Knie und legte die Arme darum. Sogar die Augen presste er zu, als könne er sich dadurch noch unsichtbarer machen.
Zweiling hatte den letzten Treppenabsatz erreicht und ging auf die Tür zu. Jetzt entschied sich, ob der kommende Augenblick ein glücklicher war oder … Die Stablampe brauchte nur lässig zur Seite zu schwenken, und Höfel war entdeckt. Doch Zweiling richtete den Lichtschlitz auf die Klinke der Tür.
Höfel presste die Luft in die Lungen zurück und lauschte den abrasenden Sekunden nach. Sie blieben ohne Ereignis!
In tiefer Erleichterung hörte Höfel, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Von außen lärmte der Schlüssel im Schloss, und es schnappte zweimal. Schritte knirschten davon.
Höfel hob den Kopf. Ihm wurde bewusst, dass er in diesen Sekunden rasend schnell gedacht hatte. Aber es war nicht Zeit, sich zu erinnern. Er richtete sich auf. –
In der Nische unter der Steintreppe hielten die beiden den Atem an und drückten sich noch flacher an die Mauer. Ganz nah ging Zweiling an ihnen vorbei. Sein Ledermantel glänzte, und der hochgeschlagene Kragen stieß an den Mützenrand.
Mit seinen langen Beinen, deren Knie sich niemals durchdrückten, stakte er den bergan steigenden Weg hinauf, und die hagere, nach vorn gekrümmte Gestalt verwischte schemenhaft im Regen und Dunkel. –
Jetzt ging alles so, wie sie es in der Zeit zwischen dem ihren und dem Appell des Lagers besprochen und vorbereitet hatten.
Pippig und Kropinski schlichen sich an der Fassade des Kammergebäudes entlang. Zu ebener Erde befanden sich die Lichtschächte der vielen Fenster des unterirdischen Kellers. In den letzten von ihnen ließen sie sich lautlos hinabgleiten. Ein paarmal sanft gegen das Fenster gewippt, und die Flügel öffneten sich. Die beiden schlüpften durch. –
Zur gleichen Zeit befand sich Höfel im ersten Stockwerk. Er hatte alles genau durchdacht. Während er blitzschnell vom Dach des Verbindungsgebäudes in die Effektenkammer gelangen musste, konnte das Kind auf dem gleichen Wege nicht befördert werden. Der Vorgang hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen, und die Gefahr der Entdeckung war zu groß.
Höfel öffnete das Fenster des Treppenflurs und horchte ins Dunkel hinein. In der Spannung des Augenblicks spürte er, wie hellwach er war. Das tat gut. Haarscharf konstruierte er den Ablauf des Kommenden. Erst einmal warten und lauschen. Zwei, drei Augenblicke lang, bis er das sichere Gefühl hatte, dass nichts, aber auch gar nichts im nahen Umkreis war. Kein Häftling, kein SS-Mann, der vielleicht gerade in dieser Minute irgendwo aus dem Lager ging. Dort hinten war der Zaun, im Dunkel nicht zu sehen, nur die verschwiegenen roten Pünktchen verrieten ihn. Der Giebelwand gegenüber stand ein Wachturm. Er machte Höfel keine Sorge. Zwischen diesem und dem Kammergebäude war das Bad, und das deckte die Sicht. Der nächste Turm befand sich in 25 Meter Entfernung. Das war schon gefährlicher. Aber auch diesen Gefahrenpunkt hatte Höfel immer wieder durchdacht. Der Posten hätte in diesem Regendunkel schon eine geraume Weile auf einen bestimmten Punkt zu starren, um etwas wahrzunehmen. Es gab keinen Grund zur Annahme, dass ein Posten gerade in dem Augenblick, als sich Höfel vom Dach aus ins obere Fenster schwingen musste, den Punkt fixieren würde. Gewiss, man konnte auch Pech haben. Dann leuchtete die Suchlampe auf, und … aus war es. –
{Der Arsch} wurde jedoch bereits für weniger wichtige Sachen riskiert, und etwas Dusel gehörte immer dazu. Also los, André! Lautlos kroch Höfel aufs Dach des Verbindungsgebäudes, blieb platt liegen, horchte um sich. – Nichts.
Vorsichtig rutschte er an die Giebelwand der Effektenkammer, zog sich kauernd zusammen. – Mit dem ersten Sprung bereits musste er den Sims über sich erwischen.
Höfel hockte sich hin wie ein Läufer am Start, Bewusstsein und Willen auf einen Punkt konzentriert, dann schnellte er hoch, mit aller Kraft. Die Hände griffen, hielten fest, er hing! Doch der Klimmzug ging viel langsamer und mühseliger vonstatten als in der Vorstellung. In Bruchteilen von Sekunden hatte Höfel das Gefühl, in helles Licht getaucht und allen sichtbar zu sein. Angst schoss plötzlich in ihm auf, heiß und schneidend. Aber sie verteilte sich sofort als zähe Kraft in den Muskeln. So zog er sich hoch. Mit der Stirn drückte er gegen den Fensterrahmen, hatte das Gefühl, sich von der Wand, an der er klebte, abzudrücken und zu stürzen. Völlig unvorbereitet ließ er eine Hand los, presste die Flügel auseinander, als wäre es das Selbstverständlichste, und schon klammerte sich die Hand am Fensterrahmen fest. Ein Schwung noch, und Höfel war drinnen. Schnell schloss er das Fenster, duckte sich zusammen, schloss die Augen und ließ die Welle der Entspannung über sich hingleiten.
Ein kurzer Augenblick des Mattseins, dann war Höfel wieder hellwach. Er zerrte den Stapel beiseite. Seine Hände ertasteten den Körper des Kindes.
»Ich bin’s, Kleiner, still, ganz still!«
Ursprünglich wollte sich Kropinski in die Effektenkammer einschließen lassen, um das Kind zu holen, aber Höfel hatte dem widersprochen, denn er wäre, falls Zweiling ihn erwischt hätte, mit diesem besser fertiggeworden als der Pole.
{In tiefer Freude, dass dem Kind durch Zweiling nichts geschehen war, presste} Höfel {den kleinen Körper an sich und} eilte mit dem Kind durch die lange Kleiderkammer nach vorn in das Schreibbüro. Es musste alles schnell vor sich gehen, im Keller warteten sie auf ihn. Das Kind, an außergewöhnliche Vorgänge in seiner Lagerwelt gewöhnt und durch Kropinski vorbereitet, verhielt sich musterhaft. Höfel setzte es auf den Fußboden, holte aus dem Kleiderraum eine der vielen Bockleitern, die zum Aufhängen der Kleidersäcke benutzt wurden. An der Leiter hing, anscheinend vergessen, ein solcher Sack. Er enthielt eine lange Leine. Höfel nahm sie heraus, packte das Kind in den Sack, verschnürte ihn und befestigte die Leine daran. Dann stellte er die Leiter auf einen Tisch und stieg hinauf. Neben dem Kamin befand sich die Ausstiegluke zum Dach. Jedes Geräusch vermeidend, öffnete Höfel die Luke. Wieder witterte er in die Dunkelheit hinaus, ehe er, mit der Leine in der Hand, auf das schräg abfallende Dach kroch. Hinter der Luke sich verbergend, zog er den Sack nach. Er drückte sich platt aufs Dach, robbte an den niedrigen Kamin heran und lauschte. Dann hob er mit einem entschlossenen Griff den Sack in den Kamin hinein. –
Im Keller horchten sie am geöffneten Rußloch. Ungeduldig steckte Pippig den Kopf durch die enge Öffnung. Sehen konnte er nichts, im Kaminschacht war es stockdunkel. Dreck fiel ihm ins Gesicht. Pippig zog den Kopf zurück und rieb sich fluchend den Staub aus den Augen. Die Leine schürfte kratzend an den scharfen Kanten der Kaminöffnung. Wenn sie sich aufrieb und zerriss? –
Höfel hielt erschrocken inne und überlegte in Sekundenschnelle. Die Gefahr der Entdeckung missachtend, richtete er sich am Kamin auf, legte den Arm als Schutz unter die Leine und ließ sie abrollen.
Sie rutschte vom schützenden Ärmel auf das nackte Handgelenk und zischte glühend über die Haut. Um nicht aufzustöhnen, presste Höfel die Stirn gegen den Kamin. Endlich kam vom Keller das verabredete Zeichen, ein Rucken an der Leine. Höfel ließ sie locker und sank erschöpft aufs Dach. Er schob die brennende Hand unter die Achselhöhle und ließ den Kopf nach vorn fallen. So saß er eine ganze Weile, bis er Herr des Schmerzes geworden war.
Im Keller bemühten sich die beiden, den Sack durch das Rußloch zu ziehen. Das Kind wimmerte.
»Mensch, Marian, sei vorsichtig!«
Kropinski hielt inne und redete flüsternd auf das Kind ein. Es verstummte und bewegte sich. An dem schlaff heraushängenden Teil des Sackes half Kropinski vorsichtig ziehend nach. Das Kind arbeitete sich selbst aus der engen Öffnung heraus.
»Ist es da?«
»Tak.«
Kropinski löste mit fliegenden Fingern die Leine ab und öffnete den Sack. »Gott sei Dank«, stöhnte Pippig. »Das war die reinste Zangengeburt.«
Das kleine Menschenwesen zitterte am ganzen Leibe. Sein Seelchen war in Erschütterung geraten. Kropinski streichelte und tröstete den Knaben, der sich schluchzend und hilfesuchend an den Mann drückte. Endlich hatte sich das Kind so weit beruhigt, dass sie es wagen konnten, den gefährlichen Weg durchs Lager anzutreten. Sie verpackten das Kind wieder im Sack und brachten das Rußloch in Ordnung. Höfel hatte die Leine schon nach oben gezogen. Sie besprachen sich. Kropinski hatte vorauszugehen und zu sichern. Falls er in einer Entfernung von zwanzig Metern nichts Verdächtiges bemerken würde, sollte er zurückkommen und Pippig holen. Sie krochen aus dem Lichtschacht ins Freie. Ein Glück, dass der Regen dicker geworden war. Sie bohrten ihre Blicke in die Dunkelheit hinein.
»Los, Marian!«
Kropinski ging davon, und Pippig blieb im dunklen Winkel an der Kammer zurück. Kropinski ging an den ersten Barackenreihen entlang. An einigen von ihnen standen die Türen offen. Dort rauchten sie ihre Kippen. Kropinski blieb stehen und horchte. Sein ausgezeichnetes Gehör drang weit in die Stille hinein. Untrüglich hätte er den Schritt eines Scharführers von dem eines Häftlings unterschieden. Der eine Schritt in schweren festen Stiefeln war knirschend und sicher, der andere, in unbequemen Holzschuhen, noch dazu in diesem hässlichen Regen, war klappernd und eilend. Kropinski lauschte. Nichts war in der Nähe. Schnell lief er zurück und holte Pippig. Sie gingen gemeinsam bis zu der Stelle, an welcher Kropinski eben gestanden hatte. Hier blieb Pippig im Schutz einer dunklen Baracke stehen, und Kropinski ging weitere zwanzig Meter voraus. So lotste er Pippig an den Baracken entlang, die Zwischenwege überquerend, bis in die Nähe des Kleinen Lagers. Das letzte Stück des Weges war das unsicherste. Aus den schützenden Blockreihen heraus mussten sie ein beträchtliches Stück auf dem breiten Weg, der zum Revier führte, zurücklegen, ehe sie seitwärts abbiegen konnten. Hier gingen, wenn auch infolge des Regens in geringerer Zahl als sonst, Häftlinge zur Ambulanz. Im Schutz einer Baracke beobachteten die beiden den Weg. Es waren nur noch wenige Häftlinge unterwegs, ein Zeichen dafür, dass bald abgepfiffen wurde. Mancher von ihnen hatte sich zum Schutz vor dem Regen den dünnen Zebramantel oder einen Sackfetzen über den Kopf gehängt.
»Wollen wir, Marian?«, fragte Pippig.
»Werden eben brauchen Glück«, meinte der Pole.
»Da, an die drei dort hängen wir uns an. Los.«
Schon sprang Pippig auf den Weg. Kropinski ihm nach. Sie hielten sich hinter drei Häftlingen, die zum Revier gingen. Zwei von ihnen hatten sich gegen den Regen vermummt. Kaum waren sie einige Schritte gegangen, als Kropinski Pippig am Arm packte. »SS!«
Tatsächlich kamen ihnen in einiger Entfernung zwei Scharführer entgegen. Pippig erschrak nicht weniger als Kropinski, doch seine im Lager erworbene Geistesgegenwart ließ ihn in Sekundenschnelle reagieren. Noch ehe die Scharführer nah genug heran waren, hatte sich Pippig den Sack auf die Schulter gehoben und sich den überhängenden Teil desselben über den Kopf geworfen. Er fühlte, wie sich der Körper des Kindes an den seinen drückte und die Händchen unter dem Sack versuchten, sich anzuklammern. Als gleichsam Vermummter dirigierte er sich geschickt an den Scharführern vorbei, die drei Häftlinge als Deckung benutzend. Die Scharführer hatten den Vorgang nicht bemerkt, sie stapften verdrießlich den regennassen Weg hinauf.
Endlich konnten sie nach dem Kleinen Lager abbiegen, hinter dessen Stacheldraht waren sie in Sicherheit. Hierher kam keine SS. Die Baracke 61 war einer jener fensterlosen Pferdeställe. Ein entsetzlicher Geruch schlug den beiden entgegen, als sie den düsteren Raum betraten, der von ein paar armseligen Glühbirnen notdürftig erhellt wurde. Die ganze Fläche der Baracke war mit Strohsäcken belegt. Zidkowski und seine Helfer mussten haushalten mit dem kargen Raum und jedes Fleckchen ausnutzen, um alle Kranken unterzubringen. Die Sterbenden lagen auf den Strohsäcken. Es war weniger umständlich, einen Toten von ebener Erde nach draußen zu tragen, als ihn aus einem Fach der dreifach gestaffelten Holzgestelle zu zerren, die sich längs der Wände hinzogen. {Die rationelle Aufteilung der einzelnen Kategorien gebot es, dass die »leichteren« Fälle in den Fächern untergebracht waren. Die Vergabe der wenigen Strohsäcke war nicht so sinnvoll vorgenommen worden. Zweifellos hätten ihrer die »leichteren« Fälle} dringender bedurft als die Sterbenden, die ohnehin nicht mehr lange mitmachten. Doch diese lagen ausnahmslos auf dem weichen Lager. Hier hatte nicht das vernünftige Denken, sondern das unvernünftige menschliche Gefühl entschieden, und die »leichteren« Fälle lagen deshalb auf blanken Brettern, mit einer zerschlissenen Decke oder einem alten Zebramantel gegen die Kälte geschützt. –
Stumpf und starr lagen die Kranken, die »leichten« und die sterbenden, denen der Tod voreilig die Züge geprägt hatte, und das Leben war nur noch in einem kindhaften Wimmern oder in einem rasselnden Atemzug vernehmbar.
Pippig und Kropinski hasteten durch den schmalen Gang, den die Strohsäcke eben noch frei ließen, nach vorn. Ein polnischer Pfleger trat aus einem Verschlag und sah ihnen entgegen. Mit ihm verschwanden die beiden hinter dem Verschlag. Zidkowski war auf ihr Kommen vorbereitet. Er half Pippig, den Kleinen aus dem Sack zu befreien, nahm das Kind mit väterlichen Händen hoch und setzte es behutsam auf die Bettstatt. Alle Männer standen um das Wesen herum und lächelten es neugierig an. Das Kind, noch von den Ereignissen erschüttert, blickte ängstlich auf die fremden Gestalten. Es wollte weinen und streckte sehnsüchtig die Ärmchen nach Kropinski aus.
Pippig drängte. {Er musste noch vor dem Abpfeifen seinen Blockältesten davon benachrichtigen, dass Höfel für diese Nacht in der Effektenkammer verblieb.} Sie mussten Abschied nehmen.
Als die beiden auf dem Wege zu ihren Baracken waren, stöhnte Kropinski auf: »Ich kann nicht vergessen die beiden Scharführer. Was würde sein gekommen, wenn sie dich gefragt hätten: Was Sie haben da in Sack? Oh, oh …«
Er konnte den überstandenen Schreck noch nicht verwinden, darum klopfte ihm Pippig beruhigend auf den Buckel.
»Man keene Bange, Marian, der liebe Gott verlässt keenen Freidenker.«
Schüpp führte einen Auftrag Krämers aus. Dazu war es gekommen, als er nach den Truppengaragen gerufen wurde, um hier den Radioapparat des Unterscharführers Brauer, der die Oberaufsicht über die Garagen hatte, in Ordnung zu bringen.
»Bei dieser Gelegenheit kannst du ein bisschen herumhorchen«, hatte Krämer gesagt und das Abhören ausländischer Sender damit gemeint. In letzter Zeit, seit Remagen, waren die Frontberichte sehr undurchsichtig geworden.
Brauer war nicht allein in seinem Zimmer, als Schüpp mit der üblichen Meldung: »Lagerelektriker bittet eintreten zu dürfen«, den Raum betrat. Meisgeier, der Rottenführer, der sich mit Brauer in die Aufsicht teilte, war mit anwesend.
»Komm her, du Radiot!«, brüllte Brauer, offenbar in bester Laune. »In fünf Minuten hast du die Klamotte in Ordnung gebracht, sonst verbiege ich dir jeden Finger einzeln.«
Schüpp sah auf den ersten Blick, dass die beiden angetrunken waren. Der hagere Rottenführer, dessen Gesicht von dicken Pusteln überzogen war, hatte die Mütze schief auf dem Kopf und saß vor dem defekten Apparat, dem er vergeblich Töne zu entlocken versuchte. Mit seiner hohen, gequetschten Stimme fistelte er ebenfalls auf Schüpp ein: »Hier ist ein Furz in der Röhre, den wirst du uns schön herauspolken, und wenn du Arschloch das nicht fertigbringst, dann verbiege ich dir auch noch den Hals.«
Schüpp ließ sich durch den rüden Ton nicht beeindrucken. Er stellte den Werkzeugkasten ab und entgegnete ungescheut: »Das lassen Sie lieber bleiben, wer soll Ihnen denn den Quatschkasten wieder in Ordnung bringen? Immer haben Sie etwas daran herumzuspielen.«
»Herumspielen«, krächzte Meisgeier belustigt auf und gab dem Skalensucher einen verächtlichen Schwung. Die grobe Behandlung rief in Schüpp den Protest des Fachmanns hervor.
»So was macht man nicht«, verwies er Meisgeier. Er konnte sich den freien Ton leisten, denn die SS war auf seine Fachkenntnisse angewiesen. Die beiden Kerle lachten auf, und Brauer, der am Tisch saß, trat, unsicher auf den Beinen, ebenfalls an den Apparat. Er grinste Schüpp an.
Plötzlich verzog sich sein Gesicht. Staunend wies er auf Schüpp und winkte Meisgeier zu sich.
»Guck dir mal das dämliche Gesicht an«, sagte er, und die beiden betrachteten sich den Elektriker. Schüpp, der nicht begriff, machte seine runden Augen. Plötzlich grölte Brauer:
»Der Radiot sieht aus wie unser ›Reichsheini‹!«
Meisgeier bestätigte die unerhörte Entdeckung. Schüpp durchzuckte ein unvernünftiger Schreck. {Das konnte gefährlich werden.} Im nächsten Augenblick konnte Brauers Faust ihm im Gesicht sitzen, weil er die Frechheit besaß, Himmler ähnlich zu sehen.
Die Schrecksekunde löste sich ebenso plötzlich auf, wie sie eingetreten war. Brauer und Meisgeier brachen gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. Brauer schlug Schüpp anerkennend auf die Schulter und lachte brüllend, von Meisgeiers Diskant sekundiert.
Die Gefahr war vorüber, und Schüpp machte klugerweise ein freundliches Gesicht zu dem üblen Spiel, das für die beiden mit der großartigen Entdeckung noch nicht zu Ende war.
Brauer zerrte Meisgeier die SS-Mütze vom Kopf und stülpte sie Schüpp auf, riss ihm die Häftlingsmütze aus der Hand und drückte sie Meisgeier auf den spitzen Schädel.
Jetzt erst war der Spaß komplett. Vor ihnen stand die gelungene Karikatur ihres »Reichsheinis«, und Meisgeier nahm vor ihr in grotesker Weise Haltung ein, vor Lachen prustend.
In einer Viertelstunde gab der Engländer den Heeresbericht durch, den musste Schüpp erwischen. Tapfer kämpfte er den Schmerz der menschlichen Erniedrigung in sich nieder und wartete vorsichtig, bis sich die zwei üblen Schläger ausgelacht und an dem Spaß genug hatten. Dann nahm er die SS-Mütze vom Kopf und legte sie auf den Tisch. Die Geste, mit der Schüpp dies tat, war so unmissverständlich, dass sie Brauer nicht entging. Er zog anerkennend die Stirn in Falten und sagte zu Meisgeier:
»Guck nur, den kannste sogar beleidigen.«
In Schüpp zuckte eine Entgegnung, doch unterließ er sie.
Hätte er durch eine entsprechende Erwiderung die Beleidigung bestätigt, dann wäre der Spaß umgeschlagen. Erfahrungsgemäß wusste er, wie unberechenbar die Kerle waren, gleich Raubtieren im Käfig, deren verspielte Pranken plötzlich zuschlagen konnten. Darum dirigierte Schüpp die Situation geschickt um, ging zum Radio und begann, an ihm zu hantieren.
Hier, in seiner sachlichen Beschäftigung, war er immun, und mit Genugtuung stellte er fest, dass das Lachen der beiden verebbte. Meisgeier warf ihm das wertlos gewordene Requisit, die Häftlingsmütze, zu, stülpte sich seine eigene auf und verließ das Zimmer: {Schüpp atmete auf:} einen war er los.
Den Schaden am Apparat hatte er bereits entdeckt, es war ein Wackelkontakt, den er mit ein paar Handgriffen hätte in Ordnung bringen können. Aber er hütete sich, das zu tun, denn es kam ihm darauf an, auch Brauer noch loszuwerden. Der steckte seinen Kopf in den Kasten und wollte wissen, was eigentlich kaputt sei. Mehr als einmal hatte Schüpp seine fast immer erfolgreiche Methode angewandt, einen aufdringlichen SS-Mann fortzugraulen. {So beliebt er als Fachmann war, so gefürchtet waren seine fachtheoretischen Referate.} Je unwissender die SS-Leute in fachtechnischen Dingen waren, desto mehr gaben sie sich den Anschein vom Gegenteil, um sich vor einem {schäbigen} Häftling keine Blöße geben zu müssen. Das nutzte Schüpp aus, und so gab er Brauer auf dessen Frage eine ausschweifende Darstellung von der Geschichte des Radios. Er kam von Faraday auf Maxwell zu sprechen, ging von Heinrich Hertz zu Marconi über, garnierte sein Referat mit technischen Floskeln, schlug dem Unterscharführer elektrische Wellen um die Ohren, verstopfte dessen Gehirnkasten mit Kondensatoren, Spulen, Röhren, umnebelte ihn mit Schwingungskreisen und magnetischen Feldern, mit Induktionen, Hoch- und Niederfrequenzen, bis das Mühlrad kreiste.
Brauer knurrte ungeduldig:
»Was ist nun aber an der Klamotte kaputt?«
Schüpp machte sein unschuldigstes Gesicht.
»Das müssen wir erst einmal feststellen.«
Brauer hatte genug. Er drückte sich die Mütze fester und brüllte:
»Wenn du in einer Viertelstunde nicht fertig bist, dann mache ich dich zu Mus. Hast du es gehört, du Radiot?«
Wütend knallte er die Tür hinter sich zu.
Der Spitzbube in Schüpp feixte sich eins. Schnell brachte er den Kontakt in Ordnung und stellte den Apparat auf Empfang. Ganz leise und fern hörte er die vier bekannten Schläge der Kesselpauke. Das war der Engländer! Und dann, ebenso leise und fern, in deutscher Sprache mit englischem Akzent:
»Von der unteren Sieg bis zur Rheinschleife nördlich Koblenz tobt die Schlacht.
Aus dem Brückenkopf Oppenheim sind amerikanische Panzerköpfe nach Osten durchgebrochen. Ihre Spitzen haben den Main bei Hanau und Aschaffenburg erreicht. Zwischen den nördlichen Ausläufern des Odenwaldes und dem Rhein sind heftige Bewegungskämpfe im Gange …«
Schüpp kroch fast in den Lautsprecher hinein. Jedes Wort brannte er sich ins Gehirn, um nichts zu vergessen.
Als Brauer zurückkam, hing Schüpp noch immer am Lautsprecher, er verwischte aber sofort den Empfang und gab volle Lautstärke, so dass der Apparat aufkreischte. Begeistert stürzte Brauer herzu:
»Mensch! Radiot! Wie hast du das fertiggebracht? Ich habe selber schon dran herumgemurkst, aber bei mir wollte es nicht klappen. Du bist doch ein …«
Mehr Lob war einem Häftling nicht zuträglich, Brauer revidierte deshalb seine Anerkennung mit einem groben:
»Ach, leck mich am Arsch, die Hauptsache, der Kasten ist wieder in Ordnung.«
Schüpp packte sein Werkzeug ein. –
Kurze Zeit darauf stand er mit Krämer in dessen Raum vor der Landkarte, die sich Krämer an die Wand geheftet hatte. Von Remagen waren sie in wenigen Tagen schon bis Oppenheim durchgestoßen. Von hier aus ging es in Richtung Frankfurt, und nördlich Koblenz zeigte sich bereits die Stoßrichtung nach Kassel an. Ohne Zweifel, es ging nach Thüringen hinein! –
Die beiden Männer sahen sich wortlos an, dachten beide das Gleiche. Krämer nahm ein Lineal und maß die Strecke Remagen-Frankfurt. Er übertrug sie von hier bis Weimar. Es waren noch knapp zwei Drittel des bisher zurückgelegten Weges, und …
Krämer machte einen tiefen Atemzug, er legte das Lineal auf den Tisch zurück und sagte mit schwerer Stimme: »In vierzehn Tagen sind wir frei oder tot …«
»Tot? Mensch, Walter, die da oben tun uns nichts mehr. Denen kocht doch schon das Wasser im Arsch.«
Krämer warnte:
»Abwarten …«
Plötzlich packte er Schüpp beim Arm und wies durchs Fenster. Sie sahen Kluttig und Reineboth mit schnellen Schritten über den Appellplatz eilen. Häftlinge, die den beiden auf dem Platz begegneten und ihre Mütze zogen, drehten sich verstohlen nach ihnen um. Krämer und Schüpp verfolgten gespannt den Weg, den die beiden einschlugen, bis sie ihnen aus dem Gesichtskreis entschwunden waren.
»Da ist etwas los, lauf, Heinrich, häng dich an sie und pass auf, wohin sie gehen.«
Schüpp lief fort.
Krämer überkam eine nervöse Unruhe. Er hatte plötzlich das Gefühl, als wären die beiden seinetwegen ins Lager gekommen, als müsste jeden Augenblick die Tür aufgerissen werden und Kluttigs schneidende Stimme aufpeitschen:
»Sie kommen sofort mit!«
Krämer presste die Fäuste an die Schläfen, die Unruhe steigerte sich zur Angst, dass alles entdeckt worden sei. Alles!
Und als tatsächlich die Tür aufgerissen wurde, fuhr Krämer entsetzt herum. Es war Schüpp, der hastig eintrat.
»Sie sind nach der Effektenkammer gegangen.«
Einen Augenblick lang empfand Krämer eine wohltuende Erlösung, die aber sofort in neue, noch größere Angst umschlug. Er starrte Schüpp entgeistert an. –
Reineboth hatte am Morgen den Zettel hinter seiner Tür gefunden und ihn verständnislos hin und her gewendet.
»Höfel und Kropinski wollen Hauptscharführer Zweiling eins auswischen. Sie haben ein Judenkind versteckt, im Kleiderraum rechts hinten in der Ecke …«
Reineboth überlas den Text mehrere Male.
»Ein Häftling von der Effektenkammer«, stand als Unterschrift darunter.
Reineboth fiel plötzlich die Szene ein, die er am vergangenen Morgen mit Zweiling erlebt hatte. Der hatte die Tür geöffnet, war verdutzt stehengeblieben, hatte einen verlegenen Gruß gestammelt und war wieder gegangen.
Reineboth pfiff durch die Zähne und schob den Zettel in die Tasche. Später zeigte er ihn Kluttig. Auch dieser las ihn einige Male durch, ohne etwas damit beginnen zu können. Er drückte die rotgeränderten Augen zusammen, und auf den dicken Brillengläsern brach sich hart das Licht.
Reineboth rekelte sich hinter dem Schreibtisch:
»Was sagst du zu der Unterschrift?«
Kluttig meinte verständnislos:
»Da hat einer gezinkt.«
»Ein Häftling?«
»Wer sonst?«
Reineboth setzte ein überlegenes Lächeln auf.
»Zweiling«, sagte er und erhob sich phlegmatisch.
Er nahm Kluttig den Zettel weg {»Ein Glück, dass es für dich zum Kommandanten zu spät ist, dich würden sie schön überfahren …«
Er} schlug unvermittelt einen scharfen Ton an.
»Zweiling und kein anderer hat den {Wisch} geschrieben!«
Kluttigs dummstaunendes Gesicht machte Reineboth ärgerlich. Gallig fuhr er auf den Lagerführer ein:
»Mensch, begreifst du denn nicht? Das ist doch ein klarer Fall. Dieser blöde Heini hat mit der Kommune gemauschelt, und jetzt {hat er Schiss in den Hosen}.«
Kluttig bemühte sich, den scharfsinnigen Gedanken des Jünglings zu folgen. Der legte den linken Arm auf den Rücken und schob den Daumen der rechten Hand hinter die Knopfleiste der Dienstjacke. So stelzte er vor Kluttig auf und ab, und seine Worte waren voll Zynismus:
»Belieben Herr Hauptsturmführer den Bericht des hochgeschätzten OKW mit der Durchgabe der Engländer zu vergleichen?«
Er blieb vor Kluttig stehen und sagte scharf:
»Dann wirst du nämlich feststellen, mein Lieber, dass der Amerikaner von Oppenheim vorrückt. Sie sind schon bei Aschaffenburg. Kriegsschauplatz gefällig?«
Mit verbindlichem Hohn wies Reineboth auf die Karte an der Wand.
»Stoßrichtung Thüringen! Na also, wie bitte? – Machen wir uns nichts vor, meine Herren, sagt unser Diplomat. Kombinieren, sage ich!« Er stelzte zufrieden auf und ab und forderte den schweigenden Kluttig auf:
»Nun bitte, Herr Lagerführer, kombiniere!«
Kluttig schien den Zusammenhang zu sehen.
»Du meinst, Zweiling hätte mit der Kommune, um sich, wenn es schiefgeht …?«
»Scharfsinnig«, spöttelte Reineboth, »jeder auf seine Weise. Es kann schnell gehen, sehr schnell sogar. In einer Woche von Remagen bis Frankfurt, dann kannst du dir ausrechnen, wann sie hier sein werden. – Mal herhören, was ich kombiniere. Mit dem Judenbalg haben sie den Zweiling weichgemacht. ›Herr Hauptscharführer, drücken Sie mal ein Auge zu, wir machen dasselbe, wenn’s andersrum geht.‹ Stimmt’s?«
Reineboth wartete Kluttigs Antwort nicht ab, er stach mit dem Finger in die Luft:
»Das hat der Höfel eingerührt, und das ist einer von der Organisation. Ergo, wer steckt hinter dem Rummel? Die illegale Organisation; gefressen? Wir müssen uns den Höfel schnappen und den Polen dazu, den Dingsda, wie heißt der Kerl?«
Jetzt hatte Kluttig begriffen. Er stützte empört die Hände in die Hüften.
»Was machen wir mit Zweiling?«
»Nichts«, entgegnete Reineboth, »haben wir Höfel und den Dingsda, dann halten wir das Ende des Fadens in der Hand. Der lahmarschige Heini wird noch froh sein, uns beim Aufspulen behilflich sein zu dürfen.«
Kluttig staunte ihn in ehrlicher Bewunderung an:
»Mensch, was bist du für ein gerissener Hund …«
Die uneingeschränkte Anerkennung seines Scharfsinns vergoldete die Eitelkeit des Jünglings, er trommelte mit den Fingern auf der Knopfleiste.
»Das machen wir alles ohne unseren Diplomaten, vielmehr gegen ihn. Wir müssen klug sein, Herr Hauptsturmführer, sehr klug! Es kann auch schiefgehen. Habe dir schon einmal gesagt und wiederhole deshalb: Wenn wir zuschlagen, dann auf die Richtigen, verstanden? Wir können uns nur einen Schlag leisten, und der muss haargenau sitzen.«
Reineboth trat dicht an Kluttig heran und sprach eindringlich:
»Jetzt darfst du keine Dummheiten machen. Kein Wort über die Organisation, die existiert nicht, verstanden? Es geht nur um das Judenbalg, kapiert?«
Kluttig nickte und vertraute sich Reineboths Klugheit an. Der wollte keine Minute mehr verlieren, er ruckte sich entschlossen die Mütze in die Stirn: »Also los!«
Sie rissen die Tür zur Effektenkammer auf und traten rasch ein.
{Innen steckte der Schlüssel. Reineboth verschloss die Tür.}
Die Häftlinge, die im Kleiderraum beschäftigt waren, fuhren überrascht herum, einer rief:
»Achtung!«
Und alle nahmen dort, wo sie sich gerade befanden, stramme Haltung an. Höfel, durch den Achtungsruf im Schreibbüro aufmerksam geworden, erschrak, als er den Lagerführer und Reineboth gewahrte. Er kam eilig in den Kleiderraum und meldete gewohnheitsmäßig:
»Kommando Effektenkammer bei der Arbeit!«
Reineboth, mit dem Daumen hinter der Knopfleiste, schnarrte:
»Alles antreten lassen!«
Mit überlauter Stimme gab Höfel den Befehl durch die Räume. In seinem Kopf wirbelte es. Noch während die Häftlinge aus allen Richtungen herbeieilten und sich, des Gefahrvollen bewusst, das in dem plötzlichen Auftauchen der beiden lag, hastig in den gewohnten zwei Zählreihen aufstellten, fragte Kluttig nach Zweiling.
Höfel meldete:
»Hauptscharführer Zweiling ist heute morgen noch nicht hier gewesen.«
{Aha, dachte Reineboth, der Bursche drückt sich.}
Eine unheilvolle Stille lag über dem Raum. Die Häftlinge standen reglos und starrten auf Kluttig und Reineboth, die kein Wort sprachen. Die wenigen so ereignisvollen Augenblicke seit ihrem Erscheinen waren wie wilde Vögel über die Köpfe der Häftlinge hinweggerauscht. Jetzt erschien die Stille wie vereist.
Kluttig gab Reineboth ein Zeichen. Dieser ging schnell in den Kleiderraum hinein, nach rechts hinten. Kluttig setzte sich derweilen auf die lange Tafel und baumelte mit dem hängenden Bein. Im hinteren Glied standen Pippig und Kropinski nebeneinander. Pippig stieß Kropinski verstohlen mit der Faust an. Im ersten Glied stand Rose. Sein angstoffenes Gesicht unterschied sich merklich von den verschlossenen Mienen der Übrigen. In Höfel, der am Ende der ersten Reihe seinen üblichen Platz hatte, rasten die Gedanken.
Sein Herz schlug pulsend am Hals, übermäßig fühlte er das heiße Tucken. {Er dachte nicht an das Kind, er dachte an die 7,65 mm Walther.} Außer ihm wusste niemand von ihrem Versteck.
Plötzlich kam ihm das alte Kindersuchspiel in den Sinn, und er frohlockte: Wasser, Wasser, Wasser … In Gedanken tastete er das Versteck der Waffe ab, rechnete die Möglichkeiten der Entdeckung aus und erinnerte sich, wie er als Knabe aufgejubelt hatte, wenn das Versteck trotz eifrigen Suchens nicht aufzufinden war.
Wasser, Wasser, Wasser! – Er wurde ganz ruhig, das böse Tucken verebbte, und die Erregung glättete sich. Jetzt konnte er sogar aus den Augenwinkeln heraus Kluttig beobachten, der mit den Fingern auf sein Knie trommelte. Kluttigs Augen liefen heimtückisch die bewegungslosen Reihen der Häftlinge ab, jeden Einzelnen von ihnen fixierend, die Blicke der Häftlinge waren geradeaus ins Leere gerichtet. Im Raum hing eine lähmende Spannung, die jeden Augenblick zu zerreißen drohte. Es dauerte eine ganze Weile, bis Reineboth wieder nach vorn kam. Er hatte ein mokantes Lächeln aufgesteckt und zog die Brauen hoch:
»Nichts«, sagte er lakonisch. Kluttig sprang vom Tisch. Die Spannung zerriss. Wut schoss wie ein jäher Windstoß in Kluttig hoch.
»Höfel vortreten!«
Höfel trat aus der Reihe und blieb zwei Schritte vor Kluttig stehen. Der blickte suchend über die Köpfe der Häftlinge hinweg.
»Wer ist das polnische Schwein Kropinski? Herkommen!«
Kropinski löste sich langsam von seinem Platz, ging durch die Reihen und stellte sich neben Höfel auf. Reineboth wippte in den Knien. Rose stand wie erstarrt und presste alle Kraft in die Kniekehlen, die ihm weich zu werden drohten. Die Gesichter der anderen Häftlinge waren hart, finster, reglos. Pippigs Augen glitten von Reineboth zu Kluttig.
Dem saß die Wut in der Kehle. Sein Kopf stand steif auf dem langen Hals. Er wollte sich beherrschen und zischte unheilvoll durch die Zähne:
»Wo ist das Kind?«
Kropinski schluckte aufgeregt. Keiner gab Antwort. Kluttig verlor die Beherrschung, kreischend schrie er:
»Wo das Judenbalg ist, will ich wissen!!!«
Gleichzeitig fuhr er auf Höfel los: »Antworten Sie!!!«
Speichel spritzte ihm von den Lippen.
»Hier ist kein Kind.«
Kluttig sah hilfesuchend auf Reineboth, die Wut verklemmte jedes Wort in seiner Kehle. Nachlässig ging Reineboth auf Kropinski zu, zog ihn sich an der Jacke heran und sagte fast freundlich:
»Sag es, Pole, wo ist das Kind?«
Kropinski schüttelte heftig mit dem Kopf.
»Ich nicht wissen …«
Da holte Reineboth aus. Mit einem gut trainierten Boxhieb schlug er gegen Kropinskis Kinn. Der Schlag war so kräftig geführt, dass Kropinski rückwärts taumelnd in die Reihen der Häftlinge fiel. Sie fingen ihn mit den Armen auf, aus dem Mundwinkel sickerte ihm ein dünner roter Faden.
Reineboth holte sich Kropinski wieder heran, ein zweiter Schlag auf die gleiche Stelle. Kropinski sackte zusammen.
Reineboth stäubte sich die Hände ab und schob den Daumen hinter die Knopfleiste.
Mit den beiden Schlägen hatte er Kluttig das Signal gegeben, der jetzt ebenfalls zuschlug, wild und unbeherrscht mit beiden Fäusten in Höfels Gesicht hinein, und dann kreischte:
»Wo habt ihr das Judenbalg? Raus mit der Sprache!«
Höfel hielt die Arme schützend vor den Kopf. Kluttig trat ihn mit solcher Wucht in den Unterleib, dass Höfel mit einem Wehlaut zusammenknickte.
Pippigs Atem ging stoßweise. Er verkrampfte die Hände zu Fäusten. Sinnlos dachte er: Durchhalten, durchhalten! Sie sind schon bei Oppenheim! Es dauert nicht mehr lange. Durchhalten, durchhalten …!
{Ob er es für sich selbst dachte oder für die beiden Zusammengeschlagenen? Er hätte es niemals sagen können. Ihm war zumute, als ob seine Gedanken, die so stark in ihm waren, in die beiden hineinfließen und ihnen Kraft geben würden.}
Kluttigs Unterlippe zitterte, er straffte die verrutschte Uniform zurecht. Höfel erhob sich mühsam. Der Stiefeltritt hatte ihm die Luft genommen. Keuchend und mit vorhängendem Kopf stand er da. Kropinski blieb unbeweglich liegen.
Reineboth blickte lässig auf seine Armbanduhr.
»Ich gebe euch allen eine Minute Zeit. Wer mir sagt, wo das Judenbalg versteckt ist, bekommt eine Belohnung.«
Die Häftlinge standen starr. Pippig lauschte in das Schweigen hinein. Wird einer etwas sagen? – Seine Augen suchten Rose. Von ihm sah er nur den Rücken, aber er gewahrte, wie Roses Finger zitterten.
Nach einer unendlich langen halben Minute kontrollierte Reineboth die Uhr. Nach außen schien er gelassen, doch er überlegte intensiv die Taktik. Den Kerlen einen Schock einjagen, dachte er, das macht sie weich.
»Noch 30 Sekunden«, sagte er verbindlich, »dann nehmen wir die beiden mit … zum Mandrill …«
Er machte eine eindrucksvolle Pause und verzog gefährlich lächelnd die Lippen.
»Was mit ihnen dann passiert, geht auf euer Konto.«
Geschickt vermied er es, die Häftlinge anzusehen, schaute wie ein Starter auf die Uhr.
Kluttigs Augen irrten wild von einem zum andern. Die Reihen standen wie gegossen. In Pippig zitterte es. Soll ich alles auf mich nehmen? Vortreten, sprechen: Ich habe das Kind, ich ganz allein …?
Die Minute war um. Reineboth senkte die Uhr. Pippig hatte die Empfindung, als würde er in den Rücken gestoßen! Jetzt! Vortreten! Aber er stand starr.
Reineboth stakte Kropinski mit der Stiefelspitze in die Seite: »Aufstehen!«
Jetzt, jetzt, jetzt!, zerrte es in Pippig, und tatsächlich war es ihm, als ob er vortreten würde, schwerelos, wie im Traum. Kropinski erhob sich wankend und erhielt von Reineboth einen Tritt ins Kreuz, dass er zur Tür taumelte. Und doch waren es weder Angst noch Feigheit, die Pippig zurückhielten. Mit starren Augen sah er Höfel nach, der ebenfalls zur Tür ging …
Noch eine geraume Weile standen die Häftlinge steif und stumm, nachdem sie allein waren, von der ausgestandenen Erschütterung gelähmt, bis Rose die Fäuste in die Luft warf und mit zerrissenen Nerven losschrie:
»Ich mache das nicht mit!«
Da endlich kam Leben in die Reihen, und auch Pippig erwachte aus seiner Starre. Er stürzte durch das Gewirr der sich auflösenden Reihen zu Rose, packte diesen hart und drohte mit erhobener Faust:
»Schnauze halten!«
Zweiling hatte tatsächlich abgewartet, bis alles vorüber war, erst dann erschien er auf der Kammer. Mit scheelen Blicken musterte er die Häftlinge. Im Schreibbüro saßen sie untätig an den Tischen, und an der langen Tafel im Kleiderraum standen die anderen, die offenbar auch noch nichts getan hatten und erst bei seinem Eintritt Geschäftigkeit zur Schau trugen.
Zweiling wollte die gedrückte Stimmung der Häftlinge geflissentlich übergehen und in sein Zimmer retirieren. Ein unbehagliches Gefühl überkroch ihn mit einem Male. Sollten sie es etwa wissen, dass der Zettel von ihm stammte? Er blieb unschlüssig stehen und verzog das Gesicht zu einem ungeschickten Lächeln.
»Was macht ihr für dumme Gesichter? Wo ist denn der Höfel?«
Pippig, ebenfalls an der Tafel stehend, sah Zweiling nicht an und zerrte die Verschnürung eines Kleidersackes auf.
»Im Bunker«, antwortete er finster, und Zweiling hörte den Unterton heraus.
»Hat er was ausgefressen?« Zweiling schob die Zunge auf die Unterlippe. Pippig antwortete nicht, und das harte Schweigen der anderen blockierte in Zweiling jede weitere Frage. Wortlos ging er in sein Zimmer, von den misstrauischen Blicken der Häftlinge verfolgt. Pippig schickte ihm einen unterdrückten Fluch nach. Zweiling warf den braunen Ledermantel achtlos auf einen Stuhl und überlegte. Das unbehagliche Gefühl wollte nicht weichen. Sein Instinkt sagte ihm, dass die Häftlinge auf ihn Verdacht hatten. Er blinzelte trübe vor sich hin. Das Beste war, freundlich zu sein und sich im Übrigen dumm zu stellen.
Er rief Pippig zu sich.
»Nu erzählen Sie mal, was ist los gewesen?«
Pippig antwortete nicht sofort.
In diesem Augenblick, da es um das Schicksal seiner liebsten Kameraden ging, erlebte Pippig den unwiderstehlichen Drang, das tief Menschliche aus sich hervortreten zu lassen, in der trügerischen Hoffnung, bis zum Herzen jenes durchzustoßen, der mit lauernden Augen vor ihm saß. Es wäre das Höchste und Edelste gewesen, was Pippig an einen SS-Mann zu vergeben gehabt hätte, sein ewig getretenes Menschentum, das hinter den Gitterstäben der blau-grau gestreiften Häftlingskleidung gefangen gehalten wurde. Der Drang, als Mensch zu sprechen, war so stark, dass ihm das Herz zerschmelzen wollte, und einen Augenblick lang glaubte Pippig auch wirklich an die allbezwingende Gewalt jener unzerstörbaren Stimme; die Gedanken hinter seiner Stirn wollten sich schon zu Worten formen. Doch als ihm die fade Lüsternheit in Zweilings Gesicht bewusst wurde, riss es ihn zurück.
So wie seine Zebrakleidung ein Gitter war, hinter dem der Mensch niedergehalten wurde, so war die graue Uniform des SS-Mannes ein Panzer, undurchstoßbar, und dahinter lauerte es, verschlagen, feig und gefährlich, wie eine Raubkatze im Dschungel.
Vor ihm saß der Zinker, der kaltblütig genug war, das in einem schwachen Augenblick dargebotene Menschentum auszunutzen und zu vernichten, wenn es ihm zum Vorteil gereichte.
Pippig schämte sich, auch nur eine Minute lang dem Drang seines Herzens verfallen gewesen zu sein.
»Na, nu erzählen Sie mal …«
Pippigs Herz wurde kühl.
»Was soll schon los gewesen sein? Höfel und Kropinski sind wegen des Kindes in den Bunker geflogen.«
Zweiling blinzelte.
»Es muss einer gezinkt haben.«
Pippig antwortete schnell:
»Jawohl, Hauptscharführer, es hat einer gezinkt!«
Zweiling ließ die Entgegnung in sich verhallen und sagte daraufhin: »Da müßt ihr doch einen Schweinehund unter euch haben?«
»Jawohl, Hauptscharführer, wir haben einen Schweinehund unter uns!«
Wie stark sich das sagen ließ.
»Und da haben sie … das … wohl mitgenommen?«
»Nein, Hauptscharführer!«
»Wo ist es denn?«
»Ich weiß es nicht.«
Zweiling war sichtlich überrascht.
»Wieso? Gestern Abend war es noch da.«
Zweiling sprang auf.
»Ich habe es selber gesehen!«
Jetzt hatte er sich verraten. Was bisher starker Verdacht gewesen war, wurde Pippig nun zur Gewissheit: Zweiling war der Zinker. Er war es!
Zweiling starrte in Pippigs undurchdringliches Gesicht. Plötzlich brüllte er Pippig an:
»Alle sollen antreten, das ganze Kommando! Den Schweinehund kriegen wir schon!«
Im gleichen Augenblick aber schlug er um. Er sprang mit einem Satz zu Pippig, der bereits die Türklinke in der Hand hatte, und sagte mit einem Anflug von Vertraulichkeit:
»Nee, Pippig, das machen wir nicht. Wir reden lieber erst gar nicht von der Sache. Meiner Anständigkeit wegen geht es mir vielleicht noch an den Kragen. Wir hängen es nicht an die große Glocke. Versuchen Sie rauszukriegen, wer der Schweinehund gewesen ist, und den melden Sie mir dann. Wir lassen ihn hochgehen.«
Auf Pippigs Zustimmung lüstern, schob Zweiling die Zunge auf die Unterlippe. Doch Pippig schwieg. Er machte die vorgeschriebene Kehrtwendung und verließ das Zimmer. Zweiling sah ihm durchs Fenster nach. Der Mund stand ihm offen. –
Von seinem Raum aus sah Krämer die Verhafteten über den Appellplatz gehen, hinter ihnen Kluttig und Reineboth, Kropinski schwankte, und Höfel ging mit gesenktem Kopf.
Hinter den Fenstern der Schreibstube standen die Häftlinge und verfolgten mit neugierig aufgerissenen Augen die Gruppe.
Pröll kam zu Krämer gestürzt. Jetzt waren die vier oben am Tor angelangt. Man musste scharf hinsehen, um auf die weite Entfernung noch etwas zu erkennen. Dennoch gewahrten die beiden am Fenster, dass die Verhafteten in den rechten Flügel des Torgebäudes gebracht wurden.
Der Bunker verschluckte sie.
{»Aus«, sagte Krämer wie unter einem Zwang.}
Pröll sah Krämer an, keines Wortes mächtig, nur in seinen Augen flackerte die entsetzte Frage: Warum?
Krämers Züge verfinsterten sich. –
Die Kunde von dem Ereignis sprang schnell durchs Lager. Höfels Verschleppung roch nach »dicker Luft«. Was war los? Häftlinge trugen die erregende Neuigkeit in die Blocks. In die Optikerbaracke brachte sie ein Läufer.
»Eben haben sie Höfel und einen Polen in den Bunker geschafft. Kluttig und Reineboth haben sie geholt. Da ist etwas faul …«
Pribula und Kodiczek sahen sich besorgt an: der militärische Ausbilder im Bunker? Was bedeutete das? Auch bis zum Revier eilte die Nachricht. Van Dalen verhielt sich still, als er davon erfuhr. Er wusch im Spülraum schmutzige Binden aus. Seine buschigen Brauen zogen sich nachdenklich zusammen. Das konnte eine gefährliche Sache sein. Er war versucht, alles stehen und liegen zu lassen und zu Bochow zu laufen. Doch unterließ er es klugerweise, eingedenk des obersten Gebots für alle illegalen Funktionäre, unauffällig zu bleiben. Wenn es wirklich gefährlich war, dann würde er rechtzeitig entsprechende Anweisungen erhalten.
Schüpp, der sich in der Gegend der Effektenkammer herumgedrückt hatte, wurde von Häftlingen des in der Nähe befindlichen Bades ausgefragt. Sie brachten es zu Bogorski, der verbarg seine Besorgnis hinter Gleichgültigkeit.
»Nun, was wird sein? Wird Höfel nicht haben aufgepasst.«
Bochow erfuhr es durch die Stubendienste, die es aus der Küche mitbrachten. Die Unruhe hielt ihn nicht lange auf dem Block. Er benutzte einen Vorwand, um nach der Schreibstube zu gehen. Zum Glück traf er Krämer allein an. Insgeheim hatte sich dieser vor der Begegnung mit Bochow gefürchtet. Nur zu gut wusste Krämer, warum er es dem bedrängten Höfel überlassen hatte, mit Bochows Anweisung allein fertigzuwerden. Es war der geheimnisvolle menschliche Widerstand gewesen, der sein Gewissen beide Augen zudrücken hieß, nachdem er den Auftrag weitergegeben hatte. Nichts mehr damit zu tun haben. Nichts mehr sehen, nichts mehr wissen!
Aus dem gleichen Widerstand heraus begehrte er gegen Bochow auf, der ihm Vorwürfe machte, das Fortbringen des Kindes nicht bis zum Abgang des Transports überwacht zu haben. »Ich habe meine Pflicht getan!«, verteidigte er sich überlaut. Bochow erwiderte nichts darauf. Seine disziplinierte Art, der Wirklichkeit in ihrer jeweils veränderten Form zu begegnen, ließ ihn sofort erkennen, dass es nutzlos war, über begangene Fehler zu streiten. Durch Höfels Verhaftung war eine gefährliche Lage eingetreten. Sein sicherer Instinkt ließ Bochow wissen, dass zwischen der Verhaftung und dem Bestreben Kluttigs und Reineboths, sich an den Apparat heranzutasten, ein Zusammenhang bestand. Bestimmt vermuteten die beiden in Höfel einen illegalen Mann, des Kindes wegen hätten sie sich nicht in so auffälliger Weise bemüht. {Das Kind bedeutete ihnen nicht mehr als eine junge Katze. Um eine Katze ausfindig zu machen, hätte ein Blockführer genügt, um nach der Effektenkammer zu gehen, aber sie waren selbst gekommen.}
Bochow presste die Lippen aufeinander, suchte nach Auswegen, fand sie aber nicht.
»Was nun? –«
Krämer hob hilflos die Schultern hoch.
»Aus dem Lager kriegen wir das Kind nicht mehr. Ich bin froh, dass ich es noch rechtzeitig habe beiseitebringen lassen. Der Zweiling steckt dahinter.«
Bochow hörte nur mit halbem Ohr zu. Er überlegte. Nur Krämer, als Lagerältester, hatte die Möglichkeit, aufzuspüren, was mit Höfel und Kropinski im Bunker geschah. {Zwar hätte sich Bochow erst mit den Genossen des ILK besprechen müssen, doch der Augenblick drängte zum Handeln, und Bochow konnte sich nur mit sich selbst beraten, um zu entscheiden, dass sein Vorhaben richtig und notwendig war.}
»Hör zu, Walter«, sagte er schließlich, »du musst helfen. Es hat keinen Zweck mehr, dich nur immer in halbem Wissen zu lassen. Du weißt ohnedies mehr, als ich dir sagen kann.«
»Was ich nicht wissen soll, das weiß ich nicht, selbst wenn ich es weiß«, entgegnete Krämer.
»Sind wir jetzt ungestört?«
»Red nur«, knurrte Krämer. Bochow dämpfte die Stimme.
»Du weißt, dass wir Waffen besitzen. Wo wir sie versteckt halten, ist Nebensache. Höfel ist der militärische Ausbilder der Widerstandsgruppen. Einer unserer wichtigsten Kumpel! Begreifst du?«
Krämer zog die Brauen zusammen und nickte stumm.
»Was sie mit ihm jetzt im Bunker anstellen, weiß keiner«, fuhr Bochow fort. »Sicher ist, dass sie ihn aushorchen werden. Wenn Höfel schwach wird, dann kann durch ihn der ganze Apparat hochgehen. Er kennt die Waffenverstecke, er kennt die Kumpel der Widerstandsgruppen, er kennt uns, die illegale Leitung …«
Bochow machte eine Pause. Auch Krämer schwieg. Er senkte die Hände langsam in die Taschen und sah vor sich hin. Von der Standhaftigkeit eines Einzelnen hing das Leben vieler, wenn nicht gar die Existenz des gesamten Lagers ab! –
Diese Ungeheuerlichkeit erschütterte Krämer.
»Es wäre richtiger gewesen, wenn ich rechtzeitig mit dir gesprochen hätte«, sagte Bochow nach einer Weile, »dann hättest du Höfel das Kind weggenommen, bevor Zweiling dahinterkam …«
Krämer nickte stumm.
»Hör zu, Walter, du musst herausbekommen, ob Höfel dichthält. Wir kommen an den Bunker nicht heran. Wie du es anstellst, muss ich dir überlassen, ich kann dir keinen Rat geben. Vielleicht kannst du Schüpp einspannen.«
Krämer hatte selbst schon an diese Möglichkeit gedacht.
»Gib mir über alles, was du erfährst, sofort Bescheid. Du weißt nun, worum es geht. Sei vorsichtig, Walter. Wen du auch einspannen magst, sag ihm nur das Notwendigste, sonst aber – Schweigen!«
»Das brauchst du mir nicht erst unter die Weste zu schieben«, brummte Krämer.
Bochow klopfte ihm auf die Schulter.
»Ich weiß, ich weiß …«
Es lag nicht in Bochows Natur, bei Gefahr den Kopf zu verlieren. Sein Mut war nicht draufgängerisch, sondern abwägend, beobachtend und berechnend. Wenn Bochow etwas als richtig erkannt hatte, dann setzte er es in stiller Beharrlichkeit durch, manchmal sogar ohne Wissen der Genossen, wie es beim Verbergen der sechs Karabiner geschehen war, die im August 1944 unter Ausnutzung des allgemeinen Durcheinanders nach dem amerikanischen Bombenangriff ins Lager geschmuggelt worden waren.
Bochow hatte den Auftrag erhalten, die kostbaren Waffen schleunigst an einem absolut sicheren Ort zu verstecken, und zwar so, dass sie jederzeit griffbereit und vor dem Verderben geschützt waren. {Noch in derselben Nacht löste Bochow die schwierige Aufgabe auf die einfachste Weise. Köhn hatte ihm dabei geholfen.}
Am anderen Tage meldete er den Genossen vom ILK die Ausführung des Auftrags. Auf ihre Frage, wo er die Gewehre verborgen habe, antwortete er: »Im Revier«, und war nicht zu bewegen, das Versteck genauer anzugeben.
»Wenn ich es euch vorgeschlagen hätte, dann wäret ihr bestimmt dagegen gewesen.«
Die Genossen bekamen es mit der Angst, doch Bochow schwieg sich aus.
»Sucht«, sagte er, gegen alle Vorwürfe und Bedenken gefeit, »wer die Waffen findet, dem trete ich für eine Woche lang meine Brotration ab.«
Van Dalen, selbst im Revier beschäftigt, kroch überall herum. Kodiczek und Pribula, sobald sie tagsüber Gelegenheit hatten, nach dem Revier zu kommen, suchten mit heimlichen Blicken alle möglichen Stellen ab, an denen sie das Versteck vermuteten. Es war für sie ein ärgerliches, für Bochow jedoch ein erheiterndes Suchspiel. Nur Bogorski beteiligte sich nicht daran.
»Wird Herbert schon gemacht haben richtig.«
An einem Sonntagnachmittag, Ende August, spazierte Bochow mit Kodiczek und Pribula zum Revier. Van Dalen gesellte sich ihnen zu, und die vier saßen auf einer Bank gegenüber der langen Hauptbaracke des Reviers. Sie waren zusammengekommen, weil Bochow ihnen das Versteck nennen wollte.
»Du nun sagen«, drängte Pribula, »wo sie sind.«
Er meinte die Karabiner. Bochow lächelte im Mundwinkel.
»Du sitzt ja vor ihnen.«
Pribula und die anderen schauten über den freien Platz und tasteten mit verstohlenen Blicken die Front der Hauptbaracke ab. Bochow half ihnen und machte mit dem Kopf verschwiegen eine hinweisende Bewegung nach den grünen Blumenkästen vor den Fenstern, in denen rote Geranien blühten.
Van Dalen begriff zuerst.
»Da drinnen?«, flüsterte er überrascht. Bochow bestätigte mit den Augen. Sprachlos starrten sie auf die Blumenkästen. Bochow überließ sie ihrem Staunen.
»Hättet ihr mir zugestimmt«, fragte er, »wenn ich dieses Versteck vorgeschlagen hätte?«
Keiner antwortete, in ihrem Schweigen lag die Verneinung.
»Das ist gewagt«, sagte van Dalen endlich.
»Aber richtig«, fügte Bochow schnell hinzu.
»Wer nach Verborgenem sucht, kriecht in Winkel, geht aber an dem vorüber, was ihm vor der Nase liegt, und außerdem …«
Bochow stockte. Ein SS-Mann bog vom Revierweg nach der Hauptbaracke ein. Er ging achtlos an den Blumenkästen vorbei. Vor dem letzten jedoch, zunächst der Eingangstür, blieb er stehen. Etwas an dem Kasten hatte sein Interesse geweckt. Erschrocken griff Pribula nach Bochows Hand, die auf der Bank lag. Sie sahen, wie der SS-Mann eine Geranie, die schief über den Kasten hinaushing, aufrichtete und sie in der Erde festdrückte. Mit unerhörter Spannung verfolgten sie das Tun des SS-Mannes. Bochow lächelte sicher. Und lächelnd nahm er den abgebrochenen Satz wieder auf, nachdem der SS-Mann in der Baracke verschwunden war.
»… und außerdem bringt die sentimentale Bestie zwar Menschen um, aber keine Blumen …«
Sie schwiegen. Der Vorgang hatte sie überzeugt. Bochow sagte ruhig:
»Auftrag ausgeführt. Sie liegen sicher, jederzeit griffbereit und vor Verderben geschützt.«
Köhn hatte sie nämlich sorgfältig in ölgetränkte Lappen gewickelt.
Als sie sich trennten, kniff Bochow ein Auge zu:
»Kann ich meine Brotration behalten?«
Van Dalen ging kopfschüttelnd ins Revier zurück. Pribula knuffte Bochow anerkennend ins Kreuz.
Bochow lachte.
Der Winter war vergangen, er hatte die Geranien verdorren lassen. Die Blumenkästen standen noch immer an den Fenstern. Von niemand beachtet. Trocken und unansehnlich war ihre Erde …
Doch so sicher, wie er damals gewesen war, war Bochow heute nicht. Die Unruhe trieb ihn zu Bogorski. Jede Stunde war kostbar, denn jede Stunde konnte sich unübersehbares Unheil ereignen. Die Zeitnot zwang Bochow, das Gebot der Vorsicht zu durchbrechen. Vielleicht fand sich eine sichere Gelegenheit, mit Bogorski zu beraten, was zu geschehen hatte. Auch jetzt kam Bochow ein günstiger Zufall zu Hilfe.
Der Scharführer des Bades lungerte in seinem Zimmer herum, der Brauseraum war leer, und die Häftlinge des Kommandos schleppten die vor dem Bad abgelegten Klamotten eines kurz zuvor angekommenen Transports nach der Desinfektion hinüber. Bogorski war unter ihnen. Kurz entschlossen packte Bochow mit zu, raffte sich einen Berg Lumpen zusammen und ging mit den anderen nach der Desinfektion. Bogorski hatte den Sinn von Bochows Verhalten sofort verstanden und folgte ihm unauffällig. Durch die Häftlinge hatten sie nichts zu befürchten, und in der Desinfektion waren sie ungestört. Sie hielten sich an einem hohen Haufen zusammengeworfener Kleidungsstücke auf, von dem aus sie den Eingang beobachten konnten. Bogorski hatte von der Verhaftung bereits erfahren.
»Wenn sie Höfel da oben weichmachen … Wenn er nicht durchhält.«
Stumm sahen sich die beiden an. Bogorski hob ein wenig die Arme, eine andere Antwort hatte er nicht. Über die ungeheure Gefahr wagten sie kaum zu sprechen. Dunkel und schwer schob sie sich zusammen und türmte sich auf wie ein Berg. Sie empfanden ihre Wehrlosigkeit. Was konnten sie tun, wenn Höfel auch nur einen einzigen Namen angab …
Dann rollte die Kette ab! Und sie riss alle in die Tiefe. So gut getarnt der Apparat auch war, so bestand er doch aus Menschen, entschlossenen zwar und allen Gefahren trotzenden Menschen. Und dennoch, da oben in den einsamen Zellen des Bunkers galten andere Gesetze. Hier war der Mensch ganz mit sich allein, und wer wusste von sich, ob er unter den körperlichen und seelischen Foltern wahrhaft eisenhart blieb oder zu erbarmungsvoller Kreatur zusammenschrumpfte, zu einem zusammengeschlagenen Bündel Mensch, in dem, angesichts der Qualen und eines sicheren und martervollen Todes, die nackte Lebensangst zuletzt nicht doch stärker war als aller Wille und aller Mut? Jeder Einzelne hatte den Schwur gegeben, eher zu sterben, als Verrat zu begehen. Aber zwischen Schwur und Bewährung lagen viele Stationen der unbekannten menschlichen Natur.
Schon in dieser Minute konnte Höfel zusammengeschlagen in seiner Zelle liegen, mit bebender Seele an Frau und Kinder denken, schwach werden und nur einen einzigen Namen nennen, einen Namen, von dem er glaubte, dass er weniger wichtig sei. Dann rollte die furchtbare Kette. –
Welches einzelne von den tausend Mitgliedern der Widerstandsgruppen insgesamt wusste von sich, ob es da oben stark genug war, bis zum Letzten standzuhalten?
»Das kann einen Erdrutsch geben …«, flüsterte Bochow.
Bogorski riss seinen Blick aus der Leere heraus, in die er ihn gesenkt hatte. Er lächelte matt, gleichsam das Gewirr der unruhigen Gedanken hinter sich lassend und die Schwächen des Augenblicks überwindend.
»Was wird sein«, sagte er leise, »noch wir gar nichts wissen. {Kann bleiben Gefahr nur bei kleines Kind. Kann bleiben Höfel tapfer und Kropinski tapfer …}«
Bochows Gesicht wurde finster.
»Wir müssen haben Vertrauen zu Höfel«, sagte Bogorski.
»Vertrauen, Vertrauen!{«, entgegnete Bochow ungehalten. »}Weißt du so sicher, ob er durchhalten wird?«
»Ob du es wissen von mir? Oder von dir? Oder von anderen?«
Mit unwilliger Hand wischte Bochow die harten Fragen hinweg.
»Natürlich weiß es keiner von sich. Gerade darum hätte Höfel sich nicht in die Geschichte mit dem Kind einlassen sollen. Von allem Anfang an nicht. Na, und was ist nun? Erst versteckt er das Kind bei sich, dann begeht er einen großen Disziplinbruch, jetzt sitzt er im Bunker und … und …«
»Und du haben auch gemacht Fehler mit Kind.«
»Ich?«, fuhr Bochow auf. »Was habe ich damit zu tun?«
»Du sagen, es ist nicht Sache von mir, es ist Sache von Höfel.«
»Na und?«, verteidigte sich Bochow. »Habe ich nicht Höfel die Anweisung gegeben, das Kind aus dem Lager zu schaffen?«
»Wer haben das gesagt? Haben das gesagt auch dein Herz?«
Bochow hob entsetzt die Hände.
»Um Gottes willen, Leonid, wohinaus willst du? Ist es nicht genug, dass sich Höfel vom Herzen hat irreleiten lassen? Und nun verlangst du von mir …«
»Nix gutt, gar nix gutt!« Bogorski zog unwillig die Stirn in Falten. »Weil du haben gemacht Fehler mit Kopf, musste machen Höfel Fehler mit Herzen. Waren beide allein, Kopf von dir und Herz von André. Nix gutt.«
Bochow gab keine Erwiderung. Gefühlsbetonte Erwägungen lagen ihm nicht. Ärgerlich warf er ein paar der mitgebrachten Klamotten auf den Haufen und hörte Bogorski missmutig zu, der ihm Vorhaltungen machte.
Er habe einfach befohlen und angeordnet, und er habe Höfel in seiner Herzensnot alleingelassen. Statt ihm zu helfen, habe er ihn fortgeschickt. »Du musst geben Kind zurück an Polen. Basta! Aus!«
Bochow schlug wütend die Faust auf den Lumpenberg. »Was hätte ich sonst tun sollen?« Bogorski zog den Kopf zwischen die Schultern. »Ich nicht wissen …«, sagte er.
»Na also«, trumpfte Bochow auf. Bogorski blieb gleichmütig. {»Njet.«} Neben dem Fehler steht das Richtige, wie der Schatten neben dem Licht. Und so, wie Bochow das Falsche getan habe, so hätte er ebenso gut das Richtige tun können. Charascho!
Fort mit dem Kind aus dem Lager! Das war das Richtige, und das habe er von Höfel verlangt, beharrte Bochow.
»Nun gutt«, gab Bogorski zu, aber warum habe es Höfel nicht getan? Wütend fuhr Bochow auf: »Weil er …«, doch plötzlich stockte der Aufgebrachte vor Bogorskis Blick. {Vielleicht war er über Höfels Herzensnot wirklich zu brutal hinweggegangen?}
Kopf allein – Herz allein …
Vielleicht hätte er sich selber darum kümmern müssen, dass das Kind tatsächlich aus dem Lager geschafft wurde … Hätte er Höfel bis zur letzten Minute hart kontrollieren sollen? Vielleicht hatte er Höfel nur darum sich selbst überlassen, weil in ihm, dem so verstandeskühlen Bochow, der gleiche menschliche Widerstand wirksam gewesen war wie in Krämer, der beide Augen zugedrückt hatte, nachdem der Auftrag gewissenhaft erfüllt worden war. Von allen alleingelassen, hatte Höfel die ganze Last auf seine Schultern nehmen müssen. {Schuld?} Wer hatte Schuld? {Keiner? Alle? Fehler?} Wer hatte den Fehler gemacht? Keiner! Alle! … Bochow sah in die Augen seines Freundes …
Menschenaugen! In deren Licht wie unter dem Spiegel des unergründlichen Meeres all das Geheimnisvolle des Wissens und Nichtwissens verborgen lag, alle Fehler und Irrungen des Herzens, alles Verstehen und Begreifen und alle Liebe.
Ein tiefes Gefühl spürte Bochow in seiner Brust. Er dachte: Du bist ein Mensch, beweise es …
Dachte er es von sich? Von Höfel? Oder war der Gedanke so weltengroß, dass er alles umfasste, was diesen Namen trug?
Du bist ein Mensch, beweise es! –
Bochow spürte, dass es jenseits des Verstandes eine unergründbare Tiefe gab, in der alle Worte und Gedanken ohne Echo waren und aus der keine Antwort kam. Vielleicht hatte Höfel in diese Tiefe hinabgesehen und das Selbstverständliche getan ohne Frage und Antwort.
{Schuld? Fehler?}
Ein Mensch, der Anspruch erhebt, diesen Namen zu tragen, muss sich in all seinem Tun stets für die höhere Pflicht entscheiden.
In Bochows Brust wirbelte es. Er mochte nicht weich werden.
»Also, was machen wir?«, fragte er darum und verbarg hinter der Sachlichkeit seine Scham.
Bogorski hob wieder die Schultern. Was konnten sie tun? – Alle militärischen Übungen mussten sofort unterbleiben. Kein Waffenunterricht durfte mehr stattfinden, keine Zusammenkunft der Gruppen. Das weitgespannte Netz des Apparates musste tief auf den Grund der Verborgenheit versenkt werden. Das war alles, was getan werden konnte. Es galt zu warten, abzuwarten.
Die Einlieferung in den Bunker war vor sich gegangen, ohne dass den beiden etwas geschehen war. Keine der üblichen Misshandlungen hatte stattgefunden. Mandrak, der Bunkerscharführer, der eben dabei war, sein Frühstück zu verzehren – es roch in seinem Aufenthaltsraum lieblich nach Bratkartoffeln –, war kauend auf den Gang getreten und hatte Höfel und Kropinski auf einen Wink Kluttigs gemeinsam in eine der Zellen gesperrt. Ein weiterer Wink des Lagerführers bedeutete ihm, mit in das Zimmer Reineboths zu kommen. Mandrak tat es ohne Eile. Er ließ die beiden vorangehen und zog sich in seinem Raum erst die Uniformjacke an. Gelassen trat er dann ins Zimmer des Rapportführers und knöpfte sich die Jacke zu. Er blieb stehen, obwohl Kluttig und Reineboth sich gesetzt hatten. Kluttig zog nervös an der Zigarette, Reineboth lag lässig im Stuhl zurückgelehnt und hatte den Daumen hinter der Knopfleiste. Mandrak kaute noch am Rest des Frühstücks.
»Hören Sie zu, Kamerad«, begann Kluttig, »das mit den beiden ist ein besonderer Fall, wir bearbeiten ihn gemeinsam.«
»Vernehmung bis zur Aussage«, warf Reineboth ein und zog hämisch einen Mundwinkel nach oben. Kluttig hob beschwörend die Hand. »Um Gottes willen, dass Sie mir keinen von den beiden kaltmachen, wir brauchen sie.«
Er setzte Mandrak die Zusammenhänge auseinander und wies ihn darauf hin, dass sie mit Höfel den Schlüsselmann zur Aufdeckung der illegalen Organisation in der Hand hätten. Mandrak hörte wortlos zu, er fuhr nur einmal mit der Zunge über die Lippen. In seinem Gesicht, dessen erdfahle Haut von zahlreichen Pockennarben übersät war, zeigte sich keine Anteilnahme. Auch der stumpfe Blick seiner dunklen, lichtlosen Augen verriet nichts. So, wie er vor dem Lagerführer stand, schien er fast unterwürfig. Kluttig hatte sich erhoben. »Sie wissen nun«, sagte er eindringlich, »worum es geht.«
Mandrak schob die Hände langsam in die Hosentaschen und fragte mit leiser Stimme:
»Was soll ich mit ihnen machen?«
Reineboth trommelte mit den Fingern. »Hätscheln, Mandrill, hätscheln«, sagte er zynisch.
Mandrak warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf Reineboth, um seinen Mund huschte so etwas wie ein Grinsen. Er mochte es gern, »Mandrill« genannt zu werden. Dieser furchtbare Name hatte in seiner Unheimlichkeit etwas Urwaldhaftes und Schreckenerregendes, das Mandrak mit Behagen genoss. Er sprach nicht viel und fragte noch weniger. Und als Kluttig ängstlich dazwischenfuhr: »Nein, Mandrill, lassen Sie die beiden vorläufig in Ruhe, wir sprechen noch darüber«, wandte der Mandrill langsam den Kopf zum Lagerführer und nickte nur stumm. Er verließ das Zimmer, und es war ihm anscheinend unbequem, die Hand aus der Tasche zu ziehen, um die Klinke niederzudrücken. Draußen stieß er die Tür mit dem Fuß zu. Er schlenderte nach dem Bunkerflügel hinüber. Der langgestreckte, kaum zwei Meter breite Gang lag ständig im Halbdunkel. Einige nackte Glühbirnen an der Decke verstärkten mit ihrem trüben Schein das Zwielicht. Der Gang war durch eine starke Gittertür gesichert, und am hinteren Ende des Ganges war ein kleines vergittertes Fenster angebracht. Hinter den massiven, eisenbeschlagenen Holztüren der Zellen regte sich nichts. Sie lagen beiderseits des Ganges starr und steif wie Totenkammern. Als einziges lebendes Wesen huschte der Bunkerkalfaktor Förste durch den Gang.
Der Mandrill trat an die Zelle Nummer 5 und schob den Verschluss des Spions beiseite. Eine ganze Weile blickte er durch das Loch. Die Bunkerzelle war vollkommen leer, kein Möbelstück, weder Tisch noch Stuhl, kein Strohsack und keine Decke befanden sich in ihr. Sie war ein viereckiger Kasten. Zwei Meter lang, drei Meter hoch und knapp anderthalb Meter breit. Als einziges Inventar war oben an der nackten Decke eine vergitterte Glühbirne angebracht. An der Stirnwand der Zelle befand sich ein kleines, stark vergittertes Fenster. Der Mandrill schloss die Zelle auf. Höfel und Kropinski nahmen die übliche militärische Haltung ein. Wortlos packte der Mandrill Kropinski an der Brust und zerrte ihn nach vorn, mit dem Gesicht zur Tür. Dasselbe machte er mit Höfel, den er ein wenig seitlich vor Kropinski aufstellte. Er kontrollierte Haltung und Position der Arrestanten und trat beiden gegen die Kniescheiben. »Strammstehen«, sagte er finster. »Wer sich rührt, kriegt Prügel, bis er lacht.« Er verließ die Zelle und winkte Förste zu sich.
»Kein Fressen.«
Förste nahm den Befehl in strammer Haltung entgegen.
Höfel und Kropinski standen reglos lauschend, wie erschreckte Tiere. Gebannt starrten sie auf die Tür der Zelle und warteten auf Ungeheuerliches, das sich jeden Augenblick ereignen konnte. Ihre Gedanken waren erstarrt, und nur der Gehörsinn war hellwach. Sie lauschten auf die Lagergeräusche, die vom Tor auf sie eindrangen. Da draußen ging alles weiter im gewohnten Gang. Wie verwunderlich das war …
Der diensttuende Blockführer schnauzte am Tor herum, Holzschuhe klapperten, eilig und ängstlich. – Im Lautsprecher knackte das eingeschaltete Mikrophon, der Strom summte, eine Stimme rief nach dem Kapo der Arbeitsstatistik. Nach einer Weile bat eine andere Stimme irgendeinen Obersturmführer zum Kommandanten. Dann klappert ein ganzes Rudel von Holzschuhen durchs Tor, es klingt wie Pferdegetrappel. Der Blockführer schimpft, schnauzt, schreit. Höfel wird aufmerksam. Die vereiste Starre löst sich, die Gedanken tauen auf. Er hört in das geschäftige Lärmen des Lagertages hinein, das, sonst nie beachtet, jetzt in seine Ohren hineinschreit wie das erschreckte Klingeln einer Straßenbahn. Verrückte Gedanken durchgeistern ihn. Du bist doch im Konzentrationslager! Was ist das eigentlich? Plötzlich entdeckt er, dass er die wirkliche Welt, das Leben draußen, vergessen hat. Über den Stacheldraht hinaus konnte er weder denken noch fühlen. Das einzig Wirkliche und Begreifliche ist das stumpfe Gebrüll des Blockführers, das ewige Geschrei, Gestampf und Geklapper. Im Augenblick des gespannten Hinhörens wird Höfel auch diese Wirklichkeit geisterhaft und gespenstisch. Auf einmal denkt er ganz klar: Das ist doch alles gar nicht echt, das ist doch nur ein Spuk!
Wie aus weiter Ferne in diese gespenstische Wirklichkeit hereinkommend, fühlt Höfel eine unendliche Zärtlichkeit: »… ich küsse Dich innig …«
Aber auch das ist ebenso gespenstisch und schemenhaft und sucht sich verloren irrend einen Weg. Höfel durchschauert es frostig. Er starrt auf die Essenklappe an der Tür, hat vergessen, dass Kropinski hinter ihm steht …
{Da richtet sich in ihm etwas hoch, erwachend, wie ein zweiter Mensch,} Und auf einmal sieht Höfel die Wirklichkeit! Von fern nur, aber sie rückt heran, unaufhaltsam, auf Panzern und Geschützen! Das ist echt, nur das! Nichts anderes!
Plötzlich wird er sich Kropinskis bewusst. »Marian …«, haucht er, denn Sprechen ist verboten.
»Tak?«, haucht es zurück.
»Die Amerikaner kommen immer näher … das dauert nicht mehr lange …« Kropinski erwidert erst nach einer Weile:
»Haben ich doch gesagt, immer …«
Sie sprechen nicht mehr. Sie stehen reglos. Aber sie haben einen Halt tief in sich. Das wiedererwachte Lebensgefühl durchblutet sie warm …
Kluttig war von regelrechtem Lampenfieber befallen worden. Er saß mit Reineboth im Kasino. Sie hatten sich bei einer Flasche Wein in eine ungestörte Ecke zurückgezogen und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Kluttigs Brillengläser glitzerten vor Jagdlust. Der Fang musste ausgewertet werden! Reineboth kniff die Augen zusammen und riet:
»Zuerst hauen wir ihnen den Arsch voll. Dann lassen wir sie schmoren im eigenen Saft, und in der Nacht machen wir Vernehmung bis zur Aussage.«
Kluttig soff ein Glas Wein nach dem anderen. Er rutschte unruhig auf dem Stuhl herum. »Und wenn wir nichts rauskriegen?«
Reineboth tröstete. »Dann klopfen wir sie so lange, bis sie nicht mehr wissen, ob sie Männchen oder Weibchen sind. Ohne Sorge, die Kerle singen wie die Nachtigallen.«
Reineboth nahm genüsslich einen Schluck und verwies Kluttig tadelnd, der ein neues Glas hinunterschüttete:
»Sauf nicht so viel.« Nervös fuhr sich Kluttig mit der Zunge über die Lippen und meinte besorgt: »Und wenn der Schlag danebengeht? Er muss sitzen!«
Reineboth bewahrte seine Gelassenheit, lehnte sich im Stuhl zurück und entgegnete kühl:
»Weiß ich, Robert, weiß ich.«
Umso zerrissener wurde Kluttig. »Mensch, Hermann, wie kannst du nur so ruhig sein?«
Von sich eingenommen, schürzte Reineboth die Lippen auf, ruckte sich von der Stuhllehne ab und beugte sich über den Tisch hinweg nah zu Kluttig. Der saugte jedes Wort in sich hinein, das ihm Reineboth zuflüsterte.
»Jetzt müssen wir zeigen, was wir können. Verstehst du was von Psychologie? – Herhören, Herr Lagerführer. Der Höfel und der Dingsda müssen für das Lager gestorben sein. Ihre einzige Gesellschaft sind nur noch wir. Du und ich und der Mandrill. Sie müssen sich vorkommen wie vom lieben Gott verlassen.«
Er tippte gegen Kluttigs Ellenbogen, Kluttig blinzelte in Reineboths schlaues Gesicht hinein, und dieser wartete, bis seine Gedanken in Kluttigs Gehirn eingedrungen waren, dann fuhr er fort:
»Je gottverlassener sie sich vorkommen, desto leichter können wir sie ausquetschen. Der Mandrill kriegt Vollmacht, mit ihnen zu spielen, wie er will, nur kaltmachen darf er sie uns nicht.«
Kluttig nickte zustimmend.
»Aus dem Höfel prügeln wir die Bestätigung eines jeden Namens einzeln heraus. Das haut hin, all right.«
»Englisch lernen und auf dem Kien sein, kapiert, Herr Lagerführer.« Er stand auf. »Volk ans Gewehr«, meinte er dabei.
»Wohin?«, fragte Kluttig.
»Arsch vollhauen«, antwortete Reineboth freundlich.
»Jetzt schon?« Kluttig blickte mit weintrüben Augen zu Reineboth hoch.
Der rezitierte: »Schmiede das Eisen, solange es warm ist.«
Der Mandrill schloss die Zelle auf. Wortlos packte er Höfel und schlenkerte ihn auf den Gang hinaus, Kropinski folgte hinterher. Der Mandrill verschloss die Zelle wieder. Dieser kurze Augenblick der Ablenkung genügte Höfel, mit Kropinski einen Blick zu wechseln, einen angstvoll erwartenden, in dem aber auch Entschlossenheit lag. Der Mandrill trat sie in den Hintern und trieb sie zum Bunker hinaus, an Förste vorbei, der sich vor ihnen im engen Gang an die Wand drückte. In der großen Blockführerstube des gegenüberliegenden Torflügels stand bereits der Bock. Ein Rudel dienstfreier Blockführer lungerte herum, auf das Schauspiel neugierig. Hinter dem Bock saß Kluttig auf einem herangeschobenen Stuhl und wippte mit dem übergelegten Bein. Als der Mandrill die beiden ins Zimmer stieß, ging Reineboth auf Kropinski zu, fasste ihn am Knopf der Jacke.
»Wo ist das Judenbalg?«, fragte er, und als Kropinski nicht antwortete, wurde Reineboth eindringlich: »Überlege es dir, Pole.«
In Kropinskis Augen irrlichterte es, er versuchte eine Ausflucht. »Ich nicht verstehen Deutsch …«
Das war hilflos und ungeschickt.
»Ah«, entgegnete Reineboth, »du nicht verstehen Deutsch. Wir dir geben Unterricht im Deutschen.«
Mit Vorbedacht hatte sich Reineboth zuerst den Polen gegriffen, Höfel sollte zusehen. {Reineboth gab einen Wink.}
Drei der Blockführer packten Kropinski und stießen ihn zum Bock. Kropinski musste die Füße in einen herausgezogenen Kasten stellen, der wieder zugeschoben wurde und die Füße festklemmte.
Die Blockführer zerrten Kropinski die Hosen herunter und warfen ihn über den nach der Kopfseite zu abfallenden, muldenförmigen Lattenrost. Das Gesäß stand nach oben. Mit geübten Griffen rissen zwei Blockführer Kropinskis Arme nach vorn, hielten die Handgelenke fest und drückten die Schultern an. Der dritte presste Kropinskis Kopf auf die Latten. Nun war der Körper wie angeschraubt. Inzwischen hatten sich Reineboth und der Mandrill bereitgemacht. Reineboth zog sorgsam die schweinsledernen Handschuhe über und bog prüfend den überlangen, fingerdicken Rohrstock {wie ein Florett}. Dann begann die Exekution.
Höfel stand aufgereckt, ein erstickter Schrei würgte ihm die Kehle ab, sein Herz flatterte wild. In grausamer Sachlichkeit sah er zu. Reineboth hatte die Beine gegrätscht. Zielnehmend legte er den Stock auf das nackte Gesäß. Elegant ausladend, mit geschmeidig zurückgebogenem Oberkörper schwang er den Arm nach hinten, und dann fauchte der Stock durch die Luft. Klatsch! Kropinskis Zucken war das durch die Blockführer gefesselte Aufbäumen des Körpers. Nach Reineboth schlug der Mandrill. Dessen Schlag, mit gleicher Wucht geführt, wenn auch nicht mit Reineboths sportlicher Eleganz, traf die Hüftgegend.
Kropinski ächzte erstickt, seine Lenden flatterten. Die Blockführer pressten sich auf die zuckenden Schultern. Wieder legte Reineboth den Stock fixierend an, der glührote Streifen vom ersten Hieb diente zur Orientierung. Während er ausholte, schob sich sein Unterkiefer wollüstig vor. Zuschlagend zielte er durch die Augenschlitze auf den roten Streifen. Kropinski gab einen hohen, speichelblasigen Ton von sich. Der Mandrill schlug mit unbeteiligter Routine dorthin, wo die Nieren saßen. Es folgte Hieb auf Hieb. Von Reineboth sportlich exakt gezielt, klatschten die Schläge fast genau auf die gleiche Stelle. Der rote Striemen verbreiterte sich, schwoll an und platzte auf. Das angestaute Blut spritzte heraus, floss an den Schenkeln herab. Kropinski wimmerte erstickt. Darauf schien Reineboth nur gewartet zu haben.
Sein genüßliches Lächeln verhärtete sich, die Augen wurden zu Schlitzen, und die folgenden Hiebe trafen haarscharf {den blutenden Riss}. Kropinski sackte zusammen. Reineboth und der Mandrill unterbrachen die Exekution. Während die Blockführer von dem leblosen Körper abließen und einer von ihnen einen Guss Wasser aus dem bereitgestellten Eimer über den Ohnmächtigen ausschwabbte, warf Reineboth einen abschätzenden Blick auf Höfel. Der hatte die ganze Zeit über starr und steif dagestanden wie ein Stock. In seinem Gesicht war das Entsetzen zu Stein geworden. Jetzt fühlte er Reineboths Augen auf sich gerichtet. Ihrer beider Blicke trafen sich. Reineboth spürte die Wirkung auf Höfel und war zufrieden. Ein fadendünnes Lächeln lag ihm zwischen den Lippen, er schwenkte die Augen von Höfel auf Kluttig, die Verständigung mit diesem herstellend. Der Mandrill hatte sich inzwischen eine Zigarette angesteckt.
Kropinski bewegte sich, er machte den Versuch, sich aufzurichten. {Anscheinend hatte er die Orientierung verloren.} Da {packten} ihn die Blockführer {und drückten ihn} auf den Lattenrost zurück. Der Mandrill warf die Zigarette fort, und die Exekution nahm ihren Fortgang. Durch den Wasserguss wach geworden, begann Kropinski zu schreien, und die Blockführer hatten Mühe, den sich bäumenden Körper festzuhalten. Die Hiebe hagelten mit wilder Wucht nieder, bis es den beiden dünkte, dass es genug sei. Die Blockführer rissen den zermarterten Kropinski vom Bock hoch und schleuderten ihn beiseite. Kropinski fiel wie ein Sack in sich zusammen.
»Aufstehen!«, brüllte Kluttig.
Mechanisch versuchte Kropinski, den Befehl auszuführen. Mit zitternden Armen und Beinen kroch er hoch und blieb schaukelnd aufgerichtet.
»Zieh die Hosen hoch, du Schwein!«, brüllte Kluttig aufs Neue. »Oder willst du uns deine Nippsachen zeigen?«
Kropinski reagierte wie ein Automat.
Reineboth stieß Höfel mit der blutigen Spitze des Rohrstocks gegen die Brust und wies auf den Bock. Die Geste hatte etwas Einladendes: Bitte Platz zu nehmen …
Mit steifen Beinen ging Höfel die wenigen Schritte und wurde von den Blockführern über den Bock gezogen.