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Momentan gehe ich nicht so gern unter Menschen. Im Zentrum und im Hafen von Amalfi wimmelte es selbst im Winter von Einheimischen und Touristen, hauptsächlich älteren Briten und Amerikanern, die wegen der Wintersonne hier sind.
Also unternehme ich Bergwanderungen. Die natürliche Vegetation auf dieser fruchtbaren vulkanischen Erde ist Waldland, aber weiter oben an den Hängen hat man Terrassen angelegt, um Platz für Olivenhaine, Weinberge und Obstgärten zu schaffen – vor allem Zitronen, die Spezialität der Region, obwohl ich schwöre, dass ich mich nie an limoncello gewöhnen werde; ich kriege ihn einfach nicht von den Zähnen.
Mir gefällt der Gedanke, dass Peter verstanden hätte, wie passend mein Rückzug nach Amalfi war. Zufälligerweise ist nämlich vor über hundert Jahren ein Mann namens Bedford, der Protagonist von H. G. Wells’ Die ersten Menschen auf dem Mond, nach seinen erstaunlichen Abenteuern auf dem Erdtrabanten hierher geflohen und hat hier seine Memoiren geschrieben. Ich habe ein Exemplar des Romans, ein ramponiertes altes Taschenbuch, in meinem Hotelzimmer.
Ja, es hätte Peter gefallen. Denn was Bedford und Cavor im Innern des Mondes vorfanden, war natürlich die Schwarmgesellschaft der Seleniten.
Ich hatte Lucia mit ihrem Baby auf dem ganzen Weg aus diesem Loch im Boden fest an der Hand gehalten.
Als wir uns ein Stück vom Schauplatz des Geschehens entfernt hatten, besorgte ich uns ein Taxi und nahm sie mit in mein Hotel. Mir fiel nichts anderes ein. Wir zogen einige komische Blicke des Personals auf uns, hatten aber immerhin Gelegenheit, uns zu beruhigen und zu säubern. Dann rief ich Daniel an. Seine Telefonnummer stand auf einer eselsohrigen Visitenkarte, die Lucia immer bei sich behalten hatte.
Peter war das einzige Todesopfer an jenem Tag. Er hatte seine Bombe wirklich sorgfältig platziert. Es fiel den Kriminaltechnikern nicht schwer, ihn anhand von Semtex-Spuren an seiner Kleidung und unter seinen Fingernägeln als Schuldigen zu identifizieren und den Zweck seiner kleinen Fernbedienungs-Radarkanone herauszufinden. Seine wahre Identität wurde rasch ermittelt, und er wurde mit der geheimnisvollen Gruppe in Verbindung gebracht, die den Bombenanschlag auf das Labor für geometrische Optik in San Jose verübt hatte.
Danach verlor sich die Spur jedoch, zu meinem Glück. Peter hatte sich unter falschem Namen in unserem Hotel angemeldet, und – soweit ich wusste – nie etwas von seiner Bombenbastelausrüstung dorthin gebracht. Das Hotelpersonal hatte nicht viel von ihm gesehen und schien das verschwommene Gesicht in den Fernsehnachrichten nicht zu erkennen. Offenbar hatte er sogar einen falschen Pass benutzt.
Trotzdem räumte ich mein Zimmer – ich bezahlte bar, ohne eine Nachsendeadresse im Hotel zu hinterlassen – und floh aus Rom nach Amalfi.
Ich nahm jedoch Peters gesamte verbliebene Habseligkeiten mit. Es wäre sicher ein Fehler gewesen, sie zurückzulassen. Und es kam mir ohnehin nicht richtig vor. Ich verbrannte alles, behielt allerdings seine Daten. Ich kopierte sie von seinen Geräten auf einen neuen Laptop, den ich in Rom gekauft hatte. Dann zerstörte ich seine Geräte, so gut ich konnte, indem ich alles löschte, was darauf war, sie aufbrach, die Chips vernichtete und die Überreste ins Mittelmeer warf.
Der Vorfall verschwand bald aus dem Blickpunkt des öffentlichen Interesses: Bombenanschläge in bevölkerungsreichen Städten sind heutzutage leider gang und gäbe. Die Behörden versuchen natürlich immer noch, irgendetwas auszugraben. Eine gängige Theorie lautet, dass es vielleicht eine Spur zu den üblichen Verdächtigen im Nahen Osten gibt. Es scheint sich jedoch ein Konsens herauszubilden, dass in erster Linie Peter selbst für die beiden Anschläge in San Jose und Rom verantwortlich gewesen sein muss, und dass er so etwas wie ein verrückter Einzelgänger mit einem unverständlichen Groll war, denn es fanden sich keine weiteren Verbindungen zwischen dem Labor für geometrische Optik und dem großen Loch im römischen Boden.
Was die große unterirdische Stadt unter der Via Appia betrifft, so haben die ausschwärmenden Drohnen sie leer geräumt, bevor die Behörden bis in die letzten Winkel vordringen konnten – keine Ahnung, wie sie das geschafft haben. Außer der Infrastruktur, den Räumen, den Trennwänden und den Luftschächten des Ventilationssystems gab es nur noch wenig zu sehen. Der Zweck einiger Räume lag auf der Hand – die Küchen mit ihren Gasanschlüssen, die Schlafsäle mit den heil gebliebenen Etagenbetten, die Klinik. Einige andere Räume hätte ich identifizieren können, wenn mich jemand gefragt hätte, so zum Beispiel die Kindergärten und die muffigen, geheimnisvollen Räume ganz unten, in denen die mamme-nonne gelebt hatten. Sie hatten sogar sämtliche Zentralrechner abgebaut.
Jeder konnte sehen, dass dort unten ein gewaltiges Projekt über einen sehr langen Zeitraum hinweg am Leben erhalten worden war. Aber worin dieses Projekt bestanden hatte, war nicht mehr zu erkennen. Verschwörungstheorien schossen ins Kraut; der populärsten zufolge war die Krypta ein Atomkriegsbunker wie aus Dr. Seltsam, vielleicht von Mussolini selbst erbaut.
Erstaunlicherweise wurde der Orden nicht mit der Krypta in Zusammenhang gebracht. Irgendwie kappten die Büros an der Erdoberfläche die Verbindungen zu dem unterirdischen Komplex – sie mussten auf einen solchen Notfall vorbereitet gewesen sein –, sodass sie sich als weitere zufällige Opfer der Katastrophe darstellen konnten. Als sich der Staub wieder gelegt hatte, boten sie sogar ihren Genealogie-Service wieder an, vermutlich auf der Basis lokaler Kopien der Kerndaten des Ordens. Man hätte gar nicht gemerkt, dass irgendetwas vorgefallen war.
Nicht alle Drohnen aus der Krypta verschwanden in den Gassen. Pina, Lucias unzuverlässige Freundin, brach sich zufälligerweise den Arm, als sie durch eine eingestürzte Decke fiel, und wurde unter Schutt begraben. Die Drohnen bekamen sie nicht heraus, bevor die Feuerwehr zu ihr gelangte. Sie wurde in eines der großen Lehrkrankenhäuser in Rom gebracht. Ich hackte mich mit Daniels Hilfe in die relevanten Krankenakten, um herauszufinden, was passiert war.
Als die Ärzte sie zu untersuchen begannen und die alten Unterlagen hinzuzogen, die sie bei jenem mehrere Jahre zurückliegenden, ganz ähnlichen Unfall zusammengestellt hatten, waren sie verblüfft von Pinas präpubertärem Zustand. Es gelang ihnen, dem Mechanismus ihrer Sterilität auf die Spur zu kommen. Eine reduzierte Hormonausschüttung im Hypothalamus führte zu einer unzureichenden gonadotropen Sekretion, die wiederum den Eisprung blockierte… und so weiter. Ich verstand im Grunde kein Wort, und ich kannte keine vertrauenswürdigen Mediziner, die es mir dekodieren konnten. Ich glaube, es spielte sowieso keine Rolle, denn obwohl die Ärzte herausfanden, wie es zur Sterilität gekommen war, kamen sie nicht dahinter, weshalb. Und Pina hielt offenkundig dicht.
Sie behielten sie zwei Monate im Krankenhaus. Am Ende dieser Zeit hatten seltsamerweise einige Veränderungen in ihrem Körper stattgefunden. Anscheinend fingen ihre Drüsen an, die komplexe Kette für den Eisprung erforderlicher Hormone zu produzieren: Es war, als käme sie mit sechsundzwanzig Jahren nun endlich in die verspätete Pubertät. Vielleicht würden sich auch alle anderen Drohnen »erholen«, wenn man sie vom Schwarm trennte.
Doch bevor dieser Prozess abgeschlossen war, verschwand Pina aus dem Krankenhaus. Sie wurde von »Verwandten« abgeholt, genauso wie Lucia damals. Ich hörte nie wieder etwas von ihr.
Wie es sich ergab, erfuhr ich jedoch etwas über Giuliano Andreoli, nachdem ich seinen Namen im Internet gesucht hatte. Lucias erster Liebhaber war wegen versuchter Vergewaltigung festgenommen worden, hatte jedoch in seiner Zelle Selbstmord begangen, bevor sein Fall vor Gericht kam. Ich konnte mir vorstellen, was Peter daraus gemacht hätte: Für den Orden war Giuliano nur eine Spermamaschine gewesen, die einmal benutzt und dann weggeworfen, ins grelle Licht der Außenwelt und eine leere Zukunft hinausgestoßen worden war. Was er im Schwarm erlebt hatte, dieser kurze Moment von Liebe und Lust, musste ihm bald wie ein Traum vorgekommen sein.
Lucia selbst lebt nun bei Daniel und seinen Eltern, in deren hellem, luftigem Heim in den Hügeln außerhalb Roms. Daniels Eltern haben sich als anständige, humane Leute erwiesen. Und zum Glück vertrauen sie wie viele Ausländer nicht hundertprozentig auf die Kompetenz der italienischen Behörden und haben Lucia bereitwillig eine private, diskrete medizinische Behandlung zuteil werden lassen.
Lucia hat ihr drittes Baby bekommen – einen gesunden und munteren Jungen. Es erwies sich als einfache Prozedur, ihre Spermatheca herauszuschneiden, wie Peter sie genannt hatte, jenen kleinen Beutel in ihrer Gebärmutter, aus dem Giulianos Samen immer wieder in sie hineingesickert wäre, für den Rest ihres Lebens. Daniels Eltern sprechen jetzt davon, sie in die Schule zu schicken.
Ich weiß nicht, ob Daniel und Lucia sich jemals lieben werden. Selbst jetzt, wo der Druck des unablässigen Gebärens von ihr genommen ist, scheint niemand zu wissen, wie ihr Körper sich künftig auf die veränderten Bedingungen einstellen wird. Und sie ist nicht ohne Blessuren davongekommen. Sie hat nie erfahren, was aus ihrem ersten Kind geworden ist, das an jenem schicksalhaften Tag in einer der riesigen Krippen gewesen sein muss. Ich glaube, das ist eine Wunde, die nie verheilen wird. Aber in Daniel und seiner Familie hat sie zumindest gute Freunde gefunden.
Manchmal frage ich mich jedoch, was wohl Lucias wahre Bestimmung ist.
In allen Berichten über die Krypta fiel mir am meisten das auf, was fehlte. Die kleinen, aus Stein gemeißelten matres zum Beispiel, die Regina aus dem römischen Britannien mitgebracht hatte – der symbolische Kern ihrer Familie und später des Ordens. Sie wurden nie erwähnt und niemals gefunden.
Peter hatte mir erzählt, dass sich die Kolonien mancher sozialer Insektenarten fortpflanzen, indem sie eine Königin und ein paar Arbeiterinnen aussenden, um eine neue Kolonie zu gründen. Ich glaube, ich werde Lucia und ihre junge Familie im Auge zu behalten versuchen.
Meine Schwester habe ich nicht mehr wiedergesehen, seit ich sie im Gedränge tief unten in der Krypta aus den Augen verloren habe. Ich glaube allerdings nicht, dass es ihr möglich gewesen wäre, zum Orden zurückzukehren. Am Ende wusste sie zu viel – mehr, als sie wissen sollte –, und dennoch wollte sie es erfahren. Offenbar muss der Orden von Zeit zu Zeit jemanden wie Rosa hervorbringen, der einen größeren Überblick hat, jemanden, der imstande ist, größere Dimensionen, komplexere Bedrohungen wahrzunehmen. Peters Gedankengänge waren schon an sich eine Bedrohung für den Orden – und sie musste ähnliche Gedankengänge entwickeln, um ihn zu besiegen. Aber eine Drohne soll nicht wissen, dass sie Teil eines Schwarms ist. Unwissenheit ist Stärke. Am Ende hat sie den Orden gerettet, indem sie sich geopfert hat, wie es sich für eine brave Drohne gehört, und sie wusste bei jedem Schritt, was sie tat.
So habe ich meine Schwester gefunden und wieder verloren.
Es gibt noch andere lose Enden, und ich muss einfach daran ziehen.
Ich habe über eusoziale Organismen gelesen. Dabei habe ich gelernt, dass ein Merkmal von Schwärmen, ebenso wie die Sterilität der Arbeiterinnen und all das andere, Selbstmord ist – die Bereitschaft einer Drohne, sich zum Wohl des größeren Ganzen – das heißt, für die langfristigen Interessen ihres genetischen Erbes – zu opfern. Man sieht es, wenn ein Termitenhügel aufgebrochen wird oder wenn ein Raubtier in eine Mullenkolonie einzudringen versucht. Die Biologen betrachten das als Beweis dafür, dass der Schlüsselorganismus die Gemeinschaft insgesamt ist, der Schwarm, nicht das Individuum, denn das Individuum handelt vollkommen selbstlos. Auf den Orden traf das jedenfalls zu. Als die Krypta angegriffen wurde – etwa während der Plünderung Roms –, gaben einige Mitglieder ihr Leben, um die anderen zu retten.
Aber da liegt der Hase im Pfeffer. Am Ende hat Peter Selbstmord begangen, um… was zu schützen? Eine Familie hatte er nicht. Die Zukunft der Menschheit? Noch einmal, er hatte keine Kinder – und folglich keine direkte Verbindung zu dieser Zukunft.
Er hatte allerdings Verbindung zu den Slan(t)ern.
Die Slan(t)er haben keinen Anführer; ihr Netzwerk hat kein Zentrum. Ihr Verhalten wird vom Verhalten derjenigen diktiert, die im Cyberspace um sie »herum« sind, und von schlichten Feedback-Regeln des Online-Protokolls gelenkt. Unter den Slan(t)ern – habe ich festgestellt – gibt es so gut wie niemanden, der Kinder hat; sie sind alle zu beschäftigt mit Slan(t)er-Projekten.
Im Gegensatz zum Orden haben die Slan(t)er keinen physischen Kontakt. Sie leben nicht einmal am selben Ort. Und ihr Interesse an der Gruppe ist in keiner Weise genetisch, wie beim Orden. Niemand behauptet, die Slan(t)er seien eine Familie im normalen Sinn. Und trotzdem glaube ich, dass die Slan(t)er ebenfalls ein Schwarm sind – eine neue, reinere Form des menschlichen Schwarms, deren Entstehung durch elektronische Vernetzung ermöglicht wurde –, ein Schwarm des Geistes, in dem nur Ideen und keine Gene erhalten werden.
Peter glaubte, mit all seinen Handlungen der Zukunft der Menschheit zu dienen. Aber ich glaube, dass er in Wahrheit nicht von irgendwelchen rationalen Zielen geleitet war. Der Slan(t)er-Schwarm als Ganzes hatte die Existenz eines anderen Schwarms entdeckt – und wie eine Ameise, die bei der Futtersuche auf eine andere Kolonie stößt, hatte Peter angegriffen.
Der zentrale Punkt war Peters Frage gewesen, ob ich ein Schwarmgeschöpf sei. Vielleicht war ich es; vielleicht bin ich es. Ich bin sicher, er war es. Und wenn der Orden wirklich ein Schwarm war – und wenn er nicht einmalig war, wenn die Slan(t)er auch einer sind, eine ganz neue Art –, wie viele gibt es dann noch da draußen?
Dass Peter in Wirklichkeit Schwarmgeboten folgte, heißt jedenfalls nicht, dass er in Bezug auf die menschliche Zukunft falsch lag.
In seinem Computer fand ich ein paar E-Mails an mich, die er angefangen, aber nicht fertig geschrieben hatte.
»Ich denke über die Zukunft nach. Ich glaube, unser größer Triumph, unser größter Ruhm liegt noch vor uns. Die großen Ereignisse der Vergangenheit – beispielsweise der Untergang Roms oder der Zweite Weltkrieg – werfen lange Schatten und beeinflussen spätere Generationen. Aber ist es möglich, dass uns nicht nur die Vergangenheit formt, sondern dass auch diese mächtige Zukunft – die bevorstehende Glanzzeit der Menschheit, der Beckenschlag – Echos in der Gegenwart hat! Die Physiker sagen, man müsse sich das Universum und seine lange, einzigartige Geschichte als eine Seite in einem Buch der Möglichkeiten vorstellen, die sich in höheren Dimensionen stapeln. Wenn das Buch geschlossen wird und die Seiten zusammenprallen, gibt es einen Großen Knall, die Seite wird sauber gewischt und eine neue Geschichte geschrieben. Und wenn die Zeit im Kreis verläuft, wenn die Zukunft mit der Vergangenheit verbunden ist, könnten dann Botschaften oder gar Einflüsse auf ihrer Kreisbahn weitergereicht werden? Wenn man die Hand in die fernste Zukunft ausstreckt, würde man dann irgendwann die Vergangenheit berühren? Sind wir nicht nur von der Vergangenheit beeinflusst und geformt, sondern auch von Echos der Zukunft…?«
Nachts schaue ich manchmal zu den Sternen hinauf und frage mich, was für eine seltsame Zukunft sich jetzt gerade auf uns herabsenkt. Ich wünschte, Peter wäre hier, damit wir darüber reden könnten. Ich sehe ihn noch, wie er sich auf unserer Bank in diesem trostlosen kleinen Park beim Forum verschwörerisch zu mir herüberbeugt, den süßen Geruch von limoncello in seinem Atem.