19

 

 

Auf dem Weg nach oben passierte der Fahrstuhl die ineinander verschachtelten Ebenen der Krypta und setzte Lucia und Rosa Poole in einem kleinen Empfangsbüro ab. Rosa nickte dem Personal zu. Sie traten auf die Straße und kamen in dünnes Novembersonnenlicht hinaus. Beide kniffen die Augen gegen die Helligkeit zusammen. Rosa setzte eine kleine, schick aussehende Sonnenbrille auf, Lucia ihre schweren, blau getönten Gläser, die jedes Mitglied des Ordens bekam.

Sie befanden sich in einem modernen Stadtviertel mit Wohnhäusern, Läden und Betrieben, ganz in der Nähe der Via Cristoforo Colombo, einer breiten, verkehrsreichen Allee, die sich von der Stadtmitte Roms nach Süden schlängelte und annähernd parallel zur alten Via Appia verlief. Rosa führte Lucia zu einem kleinen Taxistand; sie mussten ein paar Minuten warten, bis ein Wagen kam. Die Luft war klar, frisch und nicht sehr kalt.

Lucia wusste nicht genau, wohin Rosa sie brachte. Die ältere Frau hatte kaum zwei Sätze mit ihr gesprochen, seit sie im scrinium nach ihr verlangt hatte. Aber es gab keine Fluchtmöglichkeit, genauso wenig wie vor ihren Perioden.

Lucia unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte Pina vergeben, was ihr wie ein weiterer Verrat erschienen war. Pina hatte nur getan, was irgendwann getan werden musste; auf ihre Weise hatte sie ihr nach bestem Wissen zu helfen versucht. Lucia musste einfach ertragen, was immer nun kommen würde.

Das Taxi fuhr mit ihnen nach Norden, Richtung Zentrum. Sie passierten eine Lücke in der massiven, hässlichen alten aurelianischen Mauer und fuhren dann in nordöstlicher Richtung durch die von den alten kaiserlichen Ruinen beherrschten Stadtteile zur Piazza Venezia.

Die Venezia war das Herz des römischen Verkehrssystems. Sie war nichts weiter als ein ausladendes Asphaltfeld, das sich vor dem Vittoriano erstreckte, dem grandiosen Denkmal für Vittorio Emanuele, errichtet zur Feier von Italiens nationaler Einheit, ein Berg aus Säulen und Marmor, der über die Stadtsilhouette aufragte und sogar die Relikte aus der Kaiserzeit dominierte. Auf der Venezia herrschte dichter Verkehr, der in alle Richtungen zu streben schien, und Lucia wurde es bang ums Herz, als der Taxifahrer seinen Wagen mit lebhaftem Hupen ins Gewühl lenkte. Während die Autos langsam hierhin und dorthin vorrückten, scheinbar ohne dass irgendwer einem anderen Platz machte, öffnete sich Stück für Stück ein Weg nach vorn, und der Fahrer arbeitete sich zu der gewünschten Ausfahrt vor, der nach Westen führenden Via del Plebiscito.

Zu Lucias Überraschung nahm Rosa ihre Hand. Rosa lächelte. Ihre Augen waren verborgen. »Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich weiß, wie schwer das für dich ist.«

Rosa saß im Taxi, scheinbar unberührt von den ruckartigen Bewegungen, mit denen es sich durch den Verkehr arbeitete. Sie war elegant, gelassen, und ihr schmales Gesicht mit der kräftigen Nase wirkte freundlich, obwohl Lucia ihre Augen nicht sehen konnte. Sie war hoch gewachsen, größer als Lucia, zweifellos größer und schlanker als die meisten Ordensmitglieder, die durchweg klein und ein wenig gedrungen waren. Allerdings gehörte Rosa, wie jeder wusste, zu den wenigen im innersten Kreis des Ordens, die nicht in der Krypta geboren waren. Obwohl sie als Kind zum Orden gekommen war, klangen in ihrem flüssigen Italienisch noch Spuren von England mit, kurze Vokale und harte Konsonanten.

»In der Schule kommen wir jede Woche hier herauf«, sagte Lucia. »In die Stadt, meine ich. Obwohl ich mich einfach nicht daran gewöhnen kann.«

»Woran genau? An die Menschen, den Lärm – das Licht?«

»Nein«, sagte Lucia nach kurzer Überlegung. »An das Chaos. Dass alle ständig in alle Richtungen strömen.«

Rosa nickte. »Ja. Du weißt, dass ich in gewissem Sinn eine Außenseiterin bin. Nun, das werde ich immer sein, da kann man nichts machen. Aber es verleiht mir eine gewisse Sicht auf die Dinge. Manches an der Krypta halten wir alle für selbstverständlich und bemerken es erst, wenn es fehlt. In der Krypta ist es ordentlich, ruhig, und jede weiß, was sie tut, wohin sie geht. Selbst die Temperatur ist geregelt, die Luft ist sauber und frisch. Aber hier draußen ist es ganz anders. Hier draußen herrscht Anarchie, alles ist außer Kontrolle. Und nun hast du, Lucia, das Gefühl, dass sogar dein eigener Körper außer Kontrolle geraten ist. Und du hast Angst…«

»Ich habe Angst, nicht mehr dazuzugehören«, platzte Lucia heraus.

Der Fahrer hatte einen breiten, praktisch haarlosen Kopf mit einer Reihe fettiger Poren über dem Kragen. Er schien um die fünfzig zu sein. Als Lucia die Stimme ein wenig erhob, drehte er den Kopf und schaute in den Rückspiegel. Sein forschender Blick ruhte schwer auf ihr; sie schaute weg.

Rosa sagte: »Du wirst nicht hinausgeworfen – in dieses schreckliche Chaos –, falls du das befürchtest. Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich wirst du eher ins Zentrum hineingezogen.«

»Ins Zentrum?«

»Du wirst schon sehen. Du hast keinen Grund, dich zu schämen, Lucia. Der Orden braucht dich.« Rosa lächelte. »Es könnte nur sein, dass du für etwas anderes benötigt wirst als für Archivierung und Kalligrafie… Ah. Da wären wir.«

Lucia war natürlich voller Fragen. Aber das Taxi hielt, und sie hatte keine Zeit mehr, sie zu stellen.

Sie stieg aus und stellte fest, dass sie sich auf der Piazza di Rotonda befand. Der Platz wimmelte von Touristen, die zwischen Eiskremständen und Cafés hin und her eilten. Sie stand vor den klobigen Mauern eines großen Gebäudes, das wie eine Festung über ihnen aufragte – und in der Tat, sagte Rosa, sei es im Mittelalter als Festung benutzt worden, so wie die meisten alten römischen Gebäude; die Ziegelmauern seien immerhin sechs Meter dick. Dies sei das Pantheon.

Rosa zeigte auf einen Graben, der um die Mauern herumlief. »Siehst du? Das Straßenniveau liegt oberhalb der Gebäudesohle. Seit dieses Bauwerk errichtet wurde, sind der Schutt und der Schmutz wie eine Flut angestiegen… Komm.« Sie fasste Lucia an der Hand.

Sie gingen unter dem riesigen Säulenvorbau an der Vorderseite des Gebäudes hindurch. Obwohl die sommerliche touristische Hochsaison vorbei war, wimmelte es in dem Raum zwischen den grauen Säulen von Menschen, viele in Shorts und T-Shirts, mit Baseballkappen auf dem Kopf und winzigen Kameras in der Hand. In der Krypta waren alle adrett und gepflegt und gingen einander aus dem Weg, ohne dass man sie anrempeln musste. Aber hier nicht. Für Lucia wirkten die Menschen alle deutlich überernährt und unbeholfen. Sie kam sich vor wie in einer Rinderherde – obendrein in einer Herde langsamer und aggressiver Rinder.

Und dann waren da die Jungen und sogar einige Männer, die sie ansahen oder vielmehr anstarrten – mit einer berechnenden Intensität, einer Gier, die sie erschauern ließ.

Der Blick eines Jungen wirkte jedoch klarer. Er war vielleicht achtzehn Jahre alt, mit blassem Gesicht, hoher Stirn und roten Haaren, in die er eine Sonnenbrille geschoben hatte. Er starrte sie ebenfalls an, als wäre er fasziniert von ihr, aber in seinem Blick lag eine gewisse Unschuld. Er lächelte ihr sogar zu. Sie errötete und schaute weg.

Rosa schienen die Touristen nicht zu stören. Sie strich über den kühlen Marmor einer Säule. »Mein Vater ist Buchhalter. Er hat viel in der Baubranche gearbeitet. Ich weiß, was er sagen würde, wenn er hier wäre.« Sie wechselte ins Englische. »›Stell dir mal vor, man würde eins von diesen Dingern verschieben.‹«

»Du warst noch klein, als du in die Krypta kamst.«

»Ja. Aber ich erinnere mich noch an ihn. Ich erinnere mich an seine Hände.« Sie spreizte die Finger. »Große, narbige Hände, muskulöse Pranken, wie die Hände eines Bauern. Er hatte immer starke Hände, obwohl er den größten Teil seines Lebens hinter einem Schreibtisch verbrachte.«

Lucia wusste nicht, was sie sagen sollte, wie sie sich an einem Gespräch über Väter beteiligen sollte. Ihren eigenen Vater hatte sie nur ein- oder zweimal gesehen. Er war ein contadino, der hin und wieder Arbeiten in der Krypta verrichtete, ein leicht übergewichtiger, nichts sagender Mann mit einem etwas schwächlichen Lächeln. Lucia kam es schon unnatürlich vor, auch nur an den Vater zu denken.

»Vermisst du deinen Vater?«

Rosa lächelte hinter ihrer Sonnenbrille. »Nein, ich vermisse ihn nicht. Dafür habe ich ihn – oder hat er mich – schon vor zu langer Zeit verloren.« Sie berührte Lucia an der Schulter. »Und überhaupt, jetzt ist der Orden meine Familie. Stimmt’s?«

Lucia wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte. »Natürlich.« Das brauchte nicht gesagt zu werden. Es sollte nicht gesagt werden.

»Komm. Gehen wir hinein.«

Lucia schaute sich um. Der rothaarige Junge war verschwunden.

Das Pantheon umschloss einen weiten, luftigen Innenraum; dort gab es einen Altar, die Wände waren mit Gemälden und Heiligenfiguren geschmückt, und der Boden war eine kühle Marmorfläche, über die Touristen schlenderten.

Es war das Dach, das Lucias Blick auf sich zog: eine Kuppel mit einem kühlen, geometrischen Muster, ganz anders als das Durcheinander an den Wänden. Die Konstruktion schien über ihr zu schweben. Die einzige Beleuchtung in diesem gewaltigen Raum stammte von einem Loch in der Kuppeldecke, dem oculus. Es formte das hereinfallende Licht zu einem breiten Strahl in der staubigen Luft und warf es in einem verzerrten Kreis an eine Wand.

»Der Dom ist größer als jener der Peterskirche im Vatikan. Wusstest du das? Mit dem Bau des Gebäudes wurde allerdings schon vor Christi Geburt begonnen. Das Pantheon diente als Tempel für all die heidnischen Götter, wurde im siebten Jahrhundert jedoch in eine christliche Kirche umgewandelt und dadurch vor dem Abriss bewahrt. Jetzt ist es das vollständigste noch erhaltene Gebäude der Antike. Natürlich hat es trotzdem gelitten. Früher war die Kuppel innen und außen mit Bronze verkleidet, aber die Barberini-Päpste haben sie heruntergeholt, um Kanonen zu gießen. ›Was die Barbaren nicht gemacht haben, haben die Barberinis gemacht‹, wie es heißt.«

Lucia schaute zu der blauen Himmelsscheibe hinauf. »Als Kinder sind wir immer zum Forum gebracht worden. Aber man gewöhnt sich daran, dass die Überbleibsel aus der Kaiserzeit nur noch ein Haufen Ruinen sind. Man vergisst, dass alles einmal intakt war – dass alles einmal so war wie das hier.«

»Ja.« Im gedämpften Licht des Pantheons hatte Rosa ihre dunkle Brille abgenommen, und nun sah man ihre Augen. Sie waren schiefergrau, genau wie die von Lucia.

Lucia sagte: »Ich finde, du solltest mir sagen, warum du mich hierher gebracht hast.«

»Na schön. Schau dir dieses Bauwerk an, Lucia. Es wurde von Kaiser Hadrian wieder aufgebaut, und der Renaissancekünstler Raphael ist hier begraben, ebenso wie die ersten Könige Italiens. Ein und dasselbe Bauwerk hat im Lauf der Zeit unterschiedlichen Zwecken gedient. Im Grunde ist es jedoch dasselbe Pantheon, derselbe Ausdruck der Vision seines Architekten.«

»Ich verstehe nicht.«

Rosa lachte. »Ich glaube allmählich, dass ich im Alter ein bisschen unbeholfen werde. Das war eine Metapher, Lucia.«

»Oh.« Lucia wagte einen Schuss ins Blaue. »Das Pantheon ist wie der Orden?«

»Nun, ja, ich glaube schon, obwohl ich das nicht gemeint habe. Immerhin ist diese Kirche noch älter als der Orden. Ja, der Orden hat eintausendsechshundert Jahre überdauert, indem er sich angepasst hat, indem er unsere Arbeit den Bedürfnissen und Zwängen der jeweiligen Zeit gemäß verändert hat. Aber wir, wer wir sind und weshalb wir uns zusammenscharen – all das hat sich im Kern nicht verändert.

Und genauso wie das Pantheon überlebt hat, obwohl es sich verändert hat – genauso wie der Orden überlebt, obwohl er sich verändert –, so wirst auch du die Veränderungen überleben, durch die dein Körper dich führt, jetzt und in Zukunft. Das wollte ich dir zeigen. Also, wenn du nicht im Orden aufgewachsen wärst, würde man es bei einem Mädchen deines Alters für normal halten, dass es seine Periode bekommt. Was immer aus dir wird – was immer von dir verlangt wird –, du bleibst trotzdem du selbst. Merk dir das.«

Was immer von dir verlangt wird: Jetzt bekam Lucia es mit der Angst.

Rosa hob ihr Gesicht zu dem Lichtkranz in der Decke. »Du solltest dir ein bisschen Zeit für dich selbst nehmen, Lucia. Geh wieder nach draußen – tauch ein in Rom. Eine der erstaunlichsten Städte der Welt liegt direkt vor unserer Tür, und doch benehmen wir uns unten in der Krypta oftmals so, als gäbe es sie gar nicht! Und ich meine nicht, mit deiner Klasse. Geh allein – oder mit ein oder zwei Freundinnen, wenn du magst. Diese Pina kommt mir ganz vernünftig vor. Geh eine Zeit lang unter die Menschen.«

Es soll mich vorbereiten, dachte Lucia. Das ist es, was sie mir sagen will. Ich muss meinen Horizont erweitern, zur Vorbereitung – worauf?

»Du sprichst in Rätseln, Rosa«, fuhr sie auf. »Was wird man von mir verlangen?«

»Eine Menge, wenn du Glück hast. Du wirst schon sehen. Ich werde für dich tun, was ich kann – aber denk immer daran, ich beneide dich! Es ist keine Pflicht, sondern ein Privileg.« Rosa warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Jetzt müssen wir uns auf den Rückweg machen. Ich möchte, dass du jemanden kennen lernst.«

»Wen?«

»Maria Ludovica.«

In der staubigen Luft des Pantheons hatte Lucia das Gefühl, als setzte ihr Herzschlag aus. Maria Ludovica war eine der matres.

Rosa beobachtete ihre Reaktion und lächelte.

 

Der Fahrstuhl hatte Wände aus Stahl und sank zügig und beinahe lautlos in die Tiefe. Alles sehr modern, wie ein großer Teil der Gerätschaften in der Krypta. Rosa stand in geduldigem Schweigen da und betrachtete das LED-Display des Lifts, die Hände ruhig vor dem Bauch verschränkt. Lucia beneidete sie um ihre Gelassenheit.

Lucia stellte sich die Krypta vage als ein gewaltiges, zylindrisches Gebilde vor, das tief ins Erdreich unter der alten Via Appia versenkt worden war. Es gab mindestens drei Ebenen – das wusste jeder. In der ersten Etage, am nächsten zur Erdoberfläche, waren Schulen, Büros, Bibliotheken und das Computerzentrum, wo sie selbst an den endlosen Projekten des scriniums arbeitete. Eine Etage tiefer – im Orkus, wie es im Krypta-Jargon hieß – befanden sich Wohnbereiche, die Schlafsäle, Baderäume und Refektorien, Vorratsräume, Küchen und eine Klinik, allesamt Tag und Nacht voller Menschen. Nur wenige der Tagesmädchen, die die berühmten Schulen des Ordens besuchten, stiegen jemals so weit hinab; auch die Lichtstrahlen reichten nicht so tief, dort gab es nur den blassen Schein elektrischen Lichts und in der alten Zeit, wie es hieß, Kerzen und Fackeln.

Und darunter war mindestens noch eine weitere Ebene.

Der Fahrstuhl kam nahezu geräuschlos zum Stehen. Die Türen glitten auf und gaben den Blick auf einen sachlich-nüchternen Korridor mit weißen Wänden frei: die unterste Etage. Rosa ging mit beruhigendem Lächeln voran. Lucia folgte ihr widerstrebend. Der Korridor war schmal. Einige der Türen, die von ihm abgingen, waren schwer, als sollten sie luftdicht schließen. Ein leichter antiseptischer Geruch lag in der Luft, stark überlagert von einem angenehmeren Geruch wie dem von Lavendel.

Lucias Herz klopfte. Niemand, den sie kannte, hatte der dritten Ebene schon einmal einen Besuch abgestattet. Sie selbst war seit ihrer frühen Kindheit nicht mehr dort gewesen. Nach dem wenigen, was sie wusste, war dies der Bereich der Kindergärten und Krippen, wo auch sie zur Welt gekommen war und die ersten zwei Lebensjahre verbracht hatte. Sie erinnerte sich jedoch nur an ein verschwommenes Durcheinander aus lächelnden Gesichtern und blassgrauen Augen – alle gleich, keine irgendwie hervorstechend, alle liebevoll.

Dem Getuschel im Dunkeln zufolge war dies auch der Bereich der Leichenhallen. Man wurde im Orkus geboren, hier unten auf der dritten Etage, und man starb im Orkus. Angeblich. Lucia wollte es nicht wissen.

Der Korridor war natürlich voller Menschen. In der Krypta wimmelte es überall von Menschen. Sie lächelten, nickten und wichen Rosa aus, die vor Lucia herging. Fast alle waren weiblich. Die meisten trugen Alltagskleidung, einige jedoch auch schlichte Baumwollkittel, die wie Schwesterntrachten aussahen. Obwohl die meisten die üblichen ovalen Gesichter und rauchgrauen Augen hatten – und obwohl alle jung wirkten, nicht viel älter als sie –, erkannte Lucia kein einziges Gesicht.

Sie hatte im Schlafsaal ein paar Klatschgeschichten aufgeschnappt, denen zufolge die Krypta in ihren riesigen Hallen und Gängen bis zu zehntausend Menschen beherbergte. Das erschien ihr kaum glaubhaft – aber wohin man auch schaute, überall waren weitere Korridore und weitere Räume, die sich ins elektrisch erleuchtete Halbdunkel erstreckten: Wer konnte schon sagen, wie weit? Sie würde es nie erfahren, denn sie wollte es gar nicht wissen. Unwissenheit ist Stärke…

Und es war möglich, ging ihr jetzt durch den Kopf, dass niemand das Gesamtbild kannte – gar niemand.

Hier auf der dritten Ebene starrten die Leute sie offen an. Ihr Benehmen war nicht feindselig – einige von ihnen lächelten ihr sogar zu –, aber Lucia merkte, dass sie den Kopf einzog. Sie war hier fehl am Platz; sie wusste es, und die anderen wussten es auch. Der Druck dieser anklagenden Blicke erweckte in ihr den Wunsch, wieder dorthin zu fliehen, wohin sie gehörte. Sie hatte das Gefühl, Atemnot zu bekommen, und geriet beinahe in Panik, als wäre die Luft in diesen tief liegenden Räumen schlecht.

Wenn sie doch nur wie Rosa sein könnte! Sie schien es gewohnt zu sein, mit der Leichtigkeit eines Staubkörnchens im Pantheon von einer Etage zur anderen zu wechseln.

Endlich blieb Rosa vor einer Tür stehen. Lucia verspürte eine ungeheure Erleichterung. Was immer vor ihr lag, die Nervenprobe des Korridors hatte sie wenigstens hinter sich. Rosa öffnete die Tür und ließ Lucia den Vortritt.

Was ihr als Erstes auffiel, war das Flair von Reichtum. Der Raum ähnelte einem Salon, dachte sie, mit dunklen Eichenvertäfelungen an den Wänden, Marmorintarsien im Fußboden und vielen Möbeln – Tische, Stühle und Sofas. Die Möbel sahen aus, als stammten sie aus mehreren Epochen, vielleicht bis zurück ins achtzehnte Jahrhundert, aber es gab einen Breitbildfernseher in einem großen Walnussschrank. Die Möbel wiesen deutliche Benutzungsspuren auf: abgewetzte Stellen in den Sitzbezügen, Schrammen in den Tischplatten, ja sogar Abnutzungserscheinungen an den Marmorfliesen am Boden. Uhren, deren Zifferblätter von der Patina der Zeit verdunkelt waren, tickten geduldig. Der Eindruck von Alter war stärker als in jedem anderen Raum in der Krypta, den Lucia jemals besucht hatte.

Und es lag ein sehr spezieller Geruch in der Luft – sauer, stark, ganz anders als der antiseptische Krankenhausgeruch des Korridors –, etwas Warmes, Animalisches, merkwürdig Beunruhigendes.

Das größte Möbelstück – ein Bett oder ein Sofa – stand in der Mitte des Raumes. Jemand lag darauf, eine reglose, zerbrechlich wirkende Gestalt, die ein Buch las. Es war noch eine zweite Person im Raum, eine junge Frau, die geduldig in einem großen, abgewetzten Armsessel saß und stumm die liegende Frau beobachtete.

Rosa nickte der Betreuerin lächelnd zu. Dann trat sie vor, und Lucia folgte ihr. Auf dem Marmor klangen ihre Schritte hart und laut, aber als sie sich dem Bett näherten, erreichten sie einen dicken Teppich, der das Geräusch dämpfte.

An der Rückwand hing ein großes Gemälde, wie Lucia nun sah. Es zeigte eine melodramatische Szene: Frauen mit zerrissenen Kleidern standen in einer Reihe vor einer Meute marodierender Männer. Die Frauen waren verletzt und schutzlos, und es bestand kein Zweifel, was die Männer vorhatten. Aber die Frauen wollten nicht weichen. Das Bild trug die Unterschrift »1527 – Sacco di Roma«, die Plünderung Roms.

Die Frau auf dem Bett blickte nicht von ihrem Buch auf. Sie war sehr alt, stellte Lucia fest. Ihr Gesicht sah aus, als wäre es ausgedörrt und eingeschrumpelt wie eine sonnengetrocknete Tomate; ihre Haut war lederartig und von Leberflecken übersät. Strähnen grauen Haares verteilten sich auf dem Kissen hinter ihrem Kopf. Aus einem Plastikbeutel an einem Metallständer neben ihrem Bett lief eine helle Flüssigkeit in ihren Arm.

Über ihren Beinen lag eine Decke, und sie trug eine schwere, warm aussehende Bettjacke, obwohl Lucia das Gefühl hatte, dass es in dem Raum heiß war.

Dies war also Maria Ludovica, eine der legendären matres. Sie sah schrecklich aus, schrecklich alt, müde und krank – and dennoch war sie schwanger, die Wölbung ihres Bauches unter der Decke war unverkennbar.

Der Gestank war hier sehr stark, ein Gestank wie von Urin. Lucia fühlte sich gleichzeitig angezogen und abgestoßen.

Rosa beugte sich vor und sagte leise: »Mamma – Mamma.«

Maria blickte trübe auf. Ihre Augen waren wässrige graue Kieselsteine. »Was ist, was ist? Wer ist da? Ach, du bist es, Rosa Poole.« Sie schaute gereizt auf ihr Buch hinunter, versuchte sich zu konzentrieren und schloss es dann mit einem Seufzen. »Ach, egal. Ich dachte immer, im Alter würde ich wenigstens Zeit zum Lesen haben. Aber wenn ich unten auf der Seite angekommen bin, habe ich schon vergessen, was oben stand…« Sie grinste Lucia anzüglich an und zeigte einen zahnlosen Mund. »Was für eine Ironie – hm? Also, Rosa Poole, wen hast du mir da mitgebracht? Eine von meinen?«

»Eine von deinen, Mamma. Das ist Lucia. Fünfzehn Jahre alt.«

»Und du hast deine Menarche bekommen.« Maria streckte eine klauenartige Hand aus; nicht unfreundlich drückte sie Lucias Brust. Lucia zwang sich, nicht zurückzuzucken. »Tja, vielleicht klappt es mit ihr. Ist sie dein Champion, Rosa?«

»Du solltest nicht so reden, Mamma.«

Maria zwinkerte Lucia zu – ein schrecklicher Anblick. »Ich bin zu alt, um nicht die Wahrheit zu sagen. Zu alt, zu krank und zu müde. Und das gefällt Rosa nicht. Tja, ich habe dich auf die Palme gebracht – stimmt’s? Wenigstens das kann ich noch. Genauso ist es, kurz bevor ich werfe. Ich sehe, wie es sie aufregt, all diese schmalen, brettflachen Schwestern. Ihre kleinen Brustwarzen schmerzen, und ihre trockenen Bäuche verkrampfen sich – hab ich nicht Recht, Cecilia?« Sie schleuderte die Frage ihrer geduldigen Betreuerin entgegen, die lediglich lächelte. »Also, ich bin wieder schwanger – und ich liege im Sterben, und das hat sie in noch größere Aufregung versetzt. Nicht wahr, Rosa Poole?« Maria lachte gackernd. »Bei Gott, ich fühle mich wie der Papst. Weißer Rauch, weißer Rauch…«

Lucia fiel wieder ein, was Pina über eine seit Jahren anhaltende Unruhe in der Krypta gesagt hatte, über weitere Mädchen wie sie – weitere Missgeburten, dachte sie düster –, die ihre Regel bekommen hatten, statt jung zu bleiben wie alle anderen, Normalen. Vielleicht hatte die Krankheit dieser seltsamen alten Frau wirklich irgendwelche Auswirkungen – vielleicht war sie von ihnen betroffen.

Falls ja, dann gefiel ihr das nicht.

Maria Ludovica sah es in ihren Augen. »Bei Coventinas Zitzen, die hat Stahl im Leib, Rosa. Wenn deine Wahl auf sie gefallen ist, dann ist sie gut.« Die Klauenhand schoss wieder hervor und packte Lucia am Arm. »Weißt du, Kind, ich bin alt und hier drin eingesperrt«, flüsterte Maria, »aber ich bin kein Dummkopf, und lebensfremd bin ich auch nicht. Die Welt ändert sich schneller denn je, schneller als ich mich erinnern kann. Die neue Technologie – Telefon und Computer, überall Drähte, Kabel und Radiowellen – ein großes Netz, das alle verbindet… Wir haben viele neue Gelegenheiten, Geschäfte zu machen – nicht wahr, Rosa? Du siehst, Rosa und ihre Konkurrentinnen wissen das. Aber sie wissen auch, dass der Orden auf besonders festen Fundamenten stehen muss, wenn er in einer Zeit der Veränderung gedeihen soll. Und ich, ein Grundstein, bin am Zerbröckeln. Und darum taktieren die Konkurrentinnen mit offenen und verstohlenen Blicken, Besuchen ihrer Kandidatinnen und Nachfragen nach meiner Gesundheit; sie veranstalten Kraftproben untereinander, aber auch mit mir.«

Lucia fragte: »Was hat das zu bedeuten, Rosa?«

Rosa schüttelte den Kopf. »Nichts. Es bedeutet gar nichts. Mamma, du solltest so etwas nicht sagen. Es gibt keine Rivalitäten, keine Kandidatinnen. Es gibt nur den Orden, und es hat auch nie etwas anderes gegeben.«

Maria hielt ihren Blick ein paar Sekunden lang fest, dann gab sie nach. »Also schön, Rosa Poole. Wenn du es sagst.«

»Ich glaube, die Mamma ist müde, Lucia«, sagte Rosa. »Ich wollte, dass du sie kennen lernst, bevor…«

»Bevor ich sterbe, Rosa Poole?«

»Keineswegs, Mamma-nonna«, sagte Rosa mit sanftem Tadel. »Du wirst uns alle noch lange ärgern. Sag auf Wiedersehen, Lucia… Gib Maria einen Kuss.«

Lucia fiel kaum etwas ein, was sie weniger gern getan hätte. Maria beobachtete sie mit feuchten Vogelaugen, als sie einen Schritt vortrat, sich vorbeugte und Marias verschrumpelte Wange mit den Lippen streifte. Trotz ihrer abstoßenden Erscheinung war es jedoch nur Haut, menschliche Haut, weich und warm.

»Gut, gut«, sagte Rosa leise. »Schließlich ist sie deine Mutter.«

 

Nach dem Gespräch nahm Rosa Lucia beiseite. »Weißt du, es ist eine Ehre für dich, wie sie mit dir gesprochen hat. Aber du verstehst trotzdem nicht, habe ich Recht? Ich will dir eine Frage stellen. Als du klein warst, hier im Orden – warst du da glücklich?«

»Ja«, sagte Lucia aufrichtig. »Sehr glücklich sogar.«

»Warum?«

Sie dachte darüber nach. »Weil ich immer wusste, dass ich in Sicherheit war. Nichts, was ich brauchte, ist mir verweigert worden. Ich war von Menschen umgeben, die mich beschützt haben.«

»Was hätten sie für dich getan?«

»Sie hätten ihr Leben für mich gegeben«, sagte Lucia mit fester Stimme. »Jede von ihnen. Es war niemand in meiner Nähe, der mir Schaden zugefügt hätte.«

Rosa nickte. »Ja. Sie hätten sich für dich geopfert; das hätten sie wirklich getan. Ich bin in einer Familie aufgewachsen – einer Kernfamilie – einer Familie, in der es Probleme gab. Meine Eltern haben mich geliebt, aber sie waren unnahbar… So ist es bei den meisten Menschen, so war es schon immer in der menschlichen Geschichte – so war es bei mir. Aber du gehörst zu den wenigen Glücklichen, bei denen es anders war. Und deshalb warst du glücklich.« Rosa trat mit eindringlicher Miene näher an Lucia heran. »Du musst dir jedoch darüber im Klaren sein, dass du eines Tages für dein Glück, deine Sicherheit bezahlen musst. Das ist der Lauf der Dinge. Du musst es zurückzahlen. Und es wird bald so weit sein, Lucia.«

Lucia war verwirrt, und ihr wurde bang ums Herz. Sie versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.