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Nach der Geburt erholte Lucia sich rasch.
Sie verstand, was sie durchmachte, und brachte ihre postnatalen Übungen für Bauch, Taille und Becken hinter sich. Ihre Gebärmutter nahm wieder ihre normale Größe an. Ihr Ausfluss beunruhigte sie nicht und ließ bald nach. Wie alles an der Schwangerschaft schien auch ihre Erholung mit erstaunlicher Geschwindigkeit vonstatten zu gehen.
Aber sie durfte das Baby nicht wiedersehen.
Lucia versuchte, erneut in der Ordensarbeit aufzugehen und zu vergessen, wie man es von ihr erwartete. Aber ihr Zorn wuchs, ebenso wie ein undefinierbarer Schmerz in ihrem Bauch, ein Gefühl des Verlusts.
Rosa arbeitete in einem kleinen Büro im obersten Stock der Krypta. Zu ihrem Aufgabenbereich gehörte die Betreuung der größeren Firmenkunden des scriniums.
Lucia blieb vor ihrem Schreibtisch stehen und wartete, bis Rosa aufblickte und Notiz von ihr nahm.
»Warum darf ich mein Baby nicht sehen?«
Rosa seufzte. Sie stand auf, kam um den Schreibtisch herum und bedeutete Lucia, zusammen mit ihr auf zwei geraden Stühlen vor einem niedrigen Kaffeetischchen Platz zu nehmen. »Müssen wir das alles noch einmal durchkauen, Lucia? Du sollst den Menschen um dich herum vertrauen. Das ist ein grundlegendes Prinzip unserer Lebensweise. Das weißt du.«
Vielleicht, dachte Lucia. Aber es war ebenfalls ein grundlegendes Prinzip, dass sie keine solchen Gespräche führen sollten. Man sollte gar nicht über den Orden reden; im Idealfall sollte man sich seiner gar nicht bewusst sein. Rosa hatte ihre eigenen Fehler, wie sie sah. Vielleicht war es unvermeidlich, dass Rosa, die nur eine contadina war, einen größeren Gesichtskreis hatte als die anderen, ob es ihr gefiel oder nicht. Nichts davon sprach sie aus.
»Ich will meine Kleine sehen«, verlangte sie. »Ich weiß nicht mal, welchen Namen man ihr gegeben hat.«
»Und?… Ich glaube, wir sprechen hier über deine Bedürfnisse, nicht über die des Babys. Oder, Lucia? Du bist in Krippen und Kindergärten aufgewachsen. Hast du deine Mutter gekannt?«
»Nein…«
»Und hat dir das geschadet?«
»Vielleicht«, sagte Lucia trotzig. »Woher soll ich das wissen?«
»Bist du wirklich so egoistisch, dass du das Leben deines Kindes ruinieren willst?«
Rosas ruhige Gelassenheit machte Lucia wütend. »Warum hast du mir nichts davon gesagt, dass meine Schwangerschaft nur dreizehn statt achtunddreißig Wochen dauern würde?«
»Steht das im Internet, dass eine Schwangerschaft so lange dauern sollte? Lucia, es gibt siebenundzwanzig mamme-nonne, die insgesamt hundert Babys pro Jahr hervorbringen müssen – also jährlich drei oder vier pro Person… Hättest du dir den Kopf nicht mit Unsinn von außen zugemüllt, hättest du mit einer dreizehnwöchigen Schwangerschaft gerechnet, weil das hier bei uns nun mal so ist. Und ob du wusstest, was vorging, oder nicht – du hattest nichts zu befürchten, Lucia. Dein Körper ist dazu gemacht, weißt du.« Rosa beugte sich näher zu ihr und nahm ihre Hand. »Lass sie los, Lucia. Du bist jetzt eine der mamme. In gewissem Sinn bist du schon unser aller Mutter.«
Lucia versuchte nicht, die Hand wegzuziehen. Wir berühren uns immer, dachte sie mit einem leisen Gefühl des Abscheus, wir sind uns immer so nah, dass wir einander riechen können. »Und das wird mein Leben sein? Morgendliche Übelkeit und Entbindungsstationen bis ans Ende meiner Tage?«
Rosa lachte. »So schlimm muss es nicht sein. Hier.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch, zog eine Schublade auf und holte ein Handy heraus.
Lucia musterte das Handy. Die Batterie war leer. »Das ist meins. Patrizia hat es mir weggenommen.«
»Du kannst es wiederhaben. Mach damit, was du willst. Geh ins Internet, wenn du Lust hast. Möchtest du wieder nach draußen? Es spricht nichts dagegen. Ich kann mit Pina reden…«
»Ich dachte, du traust mir nicht.«
»Du musst keinen persönlichen Konflikt zwischen uns daraus machen, Lucia. Ich bin nicht deine Klassenordnerin. Ich reagiere nur darauf, wie du dich benimmst, im besten Interesse des Ordens. Das ist alles, was wir hier tun.
Für Mädchen wie dich ist die Situation jetzt anders, Lucia. Du hast die Bilder in Maria Ludovicas Wohnung gesehen -Szenen wie die Plünderung Roms. Früher hatte ein in der Krypta aufgewachsenes Mädchen realistischerweise keine andere Wahl, als hier zu bleiben. Die chaotische, unkontrollierte Außenwelt war einfach zu gefährlich. Jetzt haben sich die Dinge geändert.« Sie zeigte auf Lucias Handy. »Draußen ist eine helle und oberflächlich attraktive Welt. Die Technologie hat die Menschen auf eine Weise befreit, die man sich noch vor ein paar hundert Jahren nicht hätte vorstellen können. Die Menschen können reisen, wohin sie wollen, sprechen, mit wem sie wollen, und jederzeit jede gewünschte Information abrufen.
Und all dies dringt sogar in die Krypta vor. Natürlich ist es oberflächlich.« Sie schnippte mit den Fingern. »Die großen Informationsautobahnen könnten morgen zusammenbrechen, genauso wie die römischen Aquädukte einst zu Ruinen verfielen. Aber die Welt draußen sieht attraktiv aus. Und darum geht es mir. Du glaubst, die Wahl zu haben, ob du in der Krypta bleiben oder dir draußen ein neues Leben suchen sollst. Aber die Wahrheit ist, du hast keine Wahl. Vielleicht musst du das selbst feststellen.«
Keine Wahl, weil ich anders bin, dachte Lucia. Ich würde nie einen Platz außerhalb der Krypta finden. Und außerdem hält mich etwas für immer hier fest. »Ich kann nicht weg, wegen meinem Kind. Darum lässt du mich hinaus, nicht wahr? Weil du weißt, dass ich zurückkommen muss. Weil ihr mein Baby habt.«
Ein Anflug von Unsicherheit glitt über Rosas Gesicht. »Es gibt kein ihr und wir – dieses Gespräch war unangebracht. Wir sollten es vergessen.«
»Ja«, sagte Lucia.
»Nimm dein Telefon. Geh hinaus und amüsiere dich, solange du kannst. Ich glaube nicht, dass wir noch einmal miteinander reden müssen.« Rosa stand auf; die Besprechung war offenkundig beendet.
Wie sich herausstellte, hatte Rosa Recht. Das war keine Überraschung. Trotz ihrer neuen Freiheit widerstrebte es Lucia zutiefst, die Krypta zu verlassen. Es hätte sich angefühlt, als ließe sie das Baby im Stich, das sich gerade in einer der riesigen Krippen der Krypta die Lunge aus dem Leib schrie, selbst wenn sie es nie wieder sah. Sie nahm ihren Unterricht wieder auf und erwog, weiter im scrinium zu arbeiten. Irgendwann in der Zukunft würde sie wieder hinausgehen, beschloss sie. Aber jetzt noch nicht.
Zwei Monate nach der Geburt entdeckte sie jedoch weitere Veränderungen in ihrem Körper. Unerwartete und unerwünschte Veränderungen. Sie ging wieder zu Patrizia. Die seltsame Wahrheit bestätigte sich rasch.
Sie wusste, dass es nun an der Zeit war, nach draußen zu gehen. Wenn nicht jetzt, dann nie. Sie besaß immer noch Daniels Visitenkarte. Sie hatte sie eigentlich nicht bewusst behalten, aber sie war trotzdem da. Sie brauchte nicht lange, um sie zu finden.