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Brica kam zu ihr.

Sie stand über ihrer Mutter, mürrisch, ausgelaugt, mit schlaffen Zügen. Von dem fröhlichen, hübschen Mädchen, das mit den Kindern im Wald gesessen und ihnen Geschichten über die Sidhe erzählt hatte, war kaum noch etwas übrig, und Reginas Herz brach ein wenig mehr.

Aber sie fragte mit heiserer Stimme: »Hast du mir schon verziehen, dass ich dir das Leben gerettet habe?«

»Wenn du stirbst, bin ich frei«, sagte Brica. »Aber es ist zu spät für mich. Du hättest mich gehen lassen sollen, Mutter.« Dieses Gespräch hatten sie seit ihrer Zeit in Londinium und dem Vorfall mit dem fetten negotiator schon viele Male geführt.

»Dein Problem war, dass du dich immer wieder verliebt hast. Aber in diesen Zeiten ist kein Platz für Liebe.«

»Ich konnte nichts dafür.«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Ebenso wenig wie ich etwas dafür kann, dass ich dich liebe.«

Irgendwann ging Brica fort. Es würde keinen Abschied, kein letztes Verzeihen geben, aber Regina wusste, dass es keine Rolle spielte.

 

Manchmal fragte sich Regina, ob sie wirklich verrückt war, wie Brica ihr zuweilen vorgeworfen hatte, ob sie eine anomale Mutter war. Ja, Brica war ihr Kind. Ja, in normalen Zeiten musste eine Mutter ihre Kinder beschützen. Ja, sie sollte ihnen erlauben, ihr eigenes Leben zu leben, wenn sie volljährig waren.

Aber Regina hatte nicht in normalen Zeiten gelebt.

Bei Reginas Geburt war die römische Zivilisation noch intakt gewesen. Sie hatte wie seit fünfhundert Jahren den Mittelmeerraum und einen großen Teil Europas beherrscht. Britannien, wiewohl rebellisch und unruhig, war immer noch ins imperiale System eingebettet, seine Wirtschaft, seine Gesellschaft, seine Bestrebungen und seine Zukunftsvision von der römischen Kultur und den römischen Werten bestimmt gewesen. Jetzt, wo das Licht für Regina allmählich erlosch, war das Imperium im Westen verschwunden, und sein Besitz befand sich in den Händen von Barbaren.

In ihrem von Chaos und Zerstörung geprägten Leben, in dem die Sachsen wie ein Buschfeuer über Britannien hinweggerast waren, in dem sogar Rom selbst erbebt und zerbröckelt war, hatte Regina ihre Familie als etwas zu betrachten gelernt, was man nicht in die Freiheit zu entlassen, sondern zu bewahren hatte: eine Bürde, die gerettet werden musste. Selbst wenn es bedeutete, ein Loch in die Erde zu graben. Es war, als hätte sie Brica gar nicht erst zur Welt kommen lassen, sondern sie in ihrem Mutterleib behalten, ein dunkles Ding, blutig, voller Groll – aber in Sicherheit.

 

In den letzten Tagen waren die Frauen abgelenkt. Sie unterhielten sich aufgeregt über ein neues Licht am Himmel, wie ein brennendes Boot, das den großen Sternenstrom befuhr, und über die Bedeutung eines solch erstaunlichen Omens.

Regina hatte jedoch keine Angst. Vielleicht war es das Feuerschiff, das ihre Kindheit erhellt hatte und nun, wo sie immer kälter wurde, zurückgekehrt war, um sie zu wärmen.

Und dann endeten die Gespräche. In den Korridoren ihres Geistes schienen die Lichter eines nach dem anderen zu verlöschen.

Doch dann glaubte sie, eine Stimme zu hören, die sie rief.

Sie lief durch Korridore. Sie war leicht und klein, und sie lachte, befreit von dem Ding in ihrem Bauch. Sie lief, bis sie ihre Mutter fand, die in ihrem Zimmer saß und sich einen silbernen Spiegel vors Gesicht hielt, während Cartumandua ihr die goldenen Haare flocht. Als sie Regina kommen hörte, drehte Julia sich um und lächelte.

 

Im selben Jahr – dem Jahr 476 nach Christus, Reginas Todesjahr – wurde der Kindkaiser Romulus Augustulus von dem germanischen Krieger Odoaker abgesetzt. Es gab nicht einmal einen nominellen Versuch, Ersatz für ihn zu finden. Das Kaisersystem war zusammengebrochen. Odoaker erklärte sich zum König von Italien.

Odoaker war kein Sachse. Er und sein Nachfolger Theoderich befürworteten ein friedliches Zusammenleben. Sie hatten große Ehrfurcht vor der Vergangenheit und setzten auf Kontinuität und Bewahrung. Theoderich erhob eine Steuer auf Wein und restaurierte mit den Einkünften die Kaiserpaläste. Er ließ das Amphitheater instand setzen, nachdem es bei einem Erdbeben beschädigt worden war, und befahl den Straßenwächtern, auf den leisen Glockenklang zu achten, der einen Dieb verriet, wenn dieser einen Arm, ein Bein oder den Kopf einer der abertausend ehernen Statuen der Stadt zu stehlen versuchte.

In der Zeit dieser ersten barbarischen Könige Roms gab es viele Gerüchte über unterirdische Schätze und sogar über reiche Klöster voller schöner Frauen, vielleicht Nonnen, die Gold und Juwelen horteten. Theoderichs Handlanger suchten nach der Wahrheit hinter diesen Legenden und gingen sogar so weit, einige der alten Katakomben an der Via Appia und anderswo aufzubrechen. Aber es wurde nie etwas von Bedeutung gefunden.