15

 

 

In der stickigen, feuchten Mittagshitze drang Bricas sanfte, singende Stimme mühelos durch den Wald. »Die Sidhe wohnen in hohlen Hügeln«, erzählte Brica. »Sie sind unsichtbar. Ihr könnt sie sehen, wenn sie es wollen, aber selbst dann sind sie schwer zu erkennen, weil sie immer Grün tragen. Sie sind harmlos, wenn man freundlich zu ihnen ist, und darum werfen wir beim Pflügen Brotkrumen in die Furche und gießen zur Erntezeit Wein auf den Boden…«

Regina wollte ihre Tochter nicht stören und näherte sich darum so leise, wie sie konnte – was ihr gar nicht so leicht fiel, schließlich war sie nun vierzig Jahre alt und bereits eine alte Frau, und überhaupt würde sie im Wald niemals so gut zurechtkommen wie die jüngeren Leute.

»… aber ihr dürft nie Sidhe-Nahrung essen, denn sie werden euch in ihre hohlen Hügel führen, die Eingänge zur Anderswelt sind, und es könnte sein, dass ihr dort nie wieder herausfindet – und wenn doch, sind vielleicht hundert Jahre verstrichen, und all eure Angehörigen, selbst eure Brüder und Schwestern, könnten alt geworden und gestorben sein, während ihr nur um einen Tag gealtert seid. Doch wenn eine Sidhe euch Angst macht, könnt ihr sie immer mit dem Klang einer Glocke verscheuchen – aber sie muss aus Eisen sein, denn davor haben die Sidhe am meisten Angst…«

Ihre Tochter saß mitten in einem Kreis von Kindern mit aufmerksam erhobenen Gesichtern. In der Nähe flackerte ein Feuer. Brica sah Regina und hob entschuldigend eine Hand. Sie war mit ihrer Mutter beim Gehöft verabredet gewesen.

Regina begnügte sich damit, im kühlen Schatten zu warten, bis ihr Herzschlag sich nach dem Aufstieg vom Gehöft wieder beruhigt hätte. Die Sonne stand nun fast senkrecht über ihnen; ihr Licht wurde von dem hohen Blätterdach in grüne Kleckse zerstreut und erhellte den weißen Rauchkringel, der vom Feuer emporstieg. Regina drang der schwere Geruch brennender Eiche in die Nase, kräftiger als Buche oder Esche. Sie fragte sich manchmal, was Julia wohl gedacht hätte, wenn sie gewusst hätte, dass ihre Tochter eines Tages Expertin in Bezug auf die Gerüche brennenden Feuerholzes werden würde. Aber sie hatten sich alle anpassen müssen.

Brica, mit einem alten britannischen Namen nach Reginas Großmutter benannt, hatte die gleichen Gesichtszüge wie Regina – die helle, sommersprossige Haut, die ziemlich breite Nase, kirschrote Lippen, rauchgraue Augen. Aber mit ihren einundzwanzig Jahren war sie schöner, als Regina es je gewesen war. Ihr Gesicht hatte eine Symmetrie, die Regina fehlte, und in den Austernschalenkrümmungen ihrer Ohren und den feinen Linien ihrer Augenbrauen lag eine erlesene Perfektion. Selbst ihr schwarzes Haar – ein unleugbares Geschenk von ihrem Vater Amator, den sie nie zu Gesicht bekommen hatte, war dick und glänzend.

Und sie war sehr gut darin, sich die Aufmerksamkeit der Kinder zu sichern. An diesem Vormittag hatte sie ihnen gezeigt, wie man mit einem Stück Feuerstein und verkohltem Leinengewebe Feuer machte. Das war die allerwichtigste Fähigkeit, die sie besaßen, und die Kinder bekamen es immer wieder gezeigt, genau wie Brica, als sie noch klein gewesen war. Die Fabeln, die Brica den Kindern erzählte, bargen Warnungen, die vielleicht ihre Sicherheit gewährleisten würden, selbst diese Geschichte von den Sidhe, den Feen.

Nur wenige Erwachsene glaubten an übernatürliche Wesen in ihrer Mitte. Aber manchmal sah man Fremde: eine sehr seltsame Art von Fremden, die über die spärlich bevölkerten Hügel wanderten und oftmals grüne Kleidung trugen – genau wie in den Geschichten. Es waren Menschen, daran bestand kein Zweifel, und sie hatten Werkzeug aus Stein oder Bronze dabei. Und sie waren Räuber. Eher wie Füchse, stahlen sie Hühner und hin und wieder ein Schaf, manchmal sogar – wenn sie es bekommen konnten – Brot oder Kuchen. Es hieß, sie seien gefährlich, wenn man sie in die Enge trieb, aber sie würden fliehen, wenn man sie anrief. Und es stimmte, dass sie Angst vor Eisen hatten – besonders vor Eisenwaffen, dachte Regina trocken, gegen die ihre schwache Bronze wenig Schutz bot.

Niemand wusste genau, woher sie kamen. Regina vertrat die Ansicht, dass die Sidhe aus dem Westen stammten, vielleicht von der südwestlichen Halbinsel oder aus Wales, vielleicht sogar aus dem fernen Norden jenseits des Walls. Womöglich hatte in jenen fernen Tälern ein seltsames Volk überdauert – noch älter als die Barbarenkultur, die der Ankunft der Römer vorangegangen war –, so alt, dass sie nicht einmal mehr die Fähigkeit besaßen, Eisen herzustellen. Jetzt, wo die Legionen fort waren und das Land sich leerte, kamen sie vielleicht langsam wieder zurück.

Wenn sie auf Reginas Leute wie verstohlene, herumschleichende, unheimliche Geister wirkten, so fragte sich Regina, was die Fremden wohl von ihren Leuten hielten. Und schließlich, dachte sie wehmütig, können wir heutzutage auch kein Eisen mehr herstellen.

Die Kinder trugen einfache Hemdkleider aus farbloser Wolle. Einige von ihnen hatten sich Gänseblümchen um den Kopf oder den Hals gewunden, und ein kleiner Junge hatte einen breiten schwarzen Streifen Birkenrindenöl auf der Wange, eine Tinktur, die Marina auf tiefe Schrammen auftrug. Wie sie so dasaßen, sahen sie wie Geschöpfe des Waldes aus, dachte Regina plötzlich, ganz anders als das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war.

Schließlich war Brica mit ihrer Geschichte fertig. Die Kinder verteilten sich zu zweit oder zu dritt im Wald, um Pilze und andere Waldfrüchte für die heutige Abendmahlzeit zu suchen und dann nach Hause zu gehen.

Brica kam zu ihrer Mutter und küsste sie leicht auf die Wange. »Tut mir Leid, tut mir Leid.«

Regina versuchte, streng zu sein. Aber sie legte die hohle Hand um die Wange ihrer Tochter und lächelte. »Beeilen wir uns einfach ein bisschen.«

Brica trat energisch das kleine Feuer aus, und die beiden verließen den Waldgürtel und traten in den Sonnenschein hinaus. Sie schauten auf die breite Wölbung des Hangs, die drei Rundhäuser des Gehöfts und das angrenzende Tal hinunter, wo der silbergraue Faden des Flusses wie eine heruntergefallene Halskette glitzerte. Dann wandten sie sich jedoch ab und wanderten auf dem Kamm des Hügels zu der zerstörten Villa. Brica war ständig in Bewegung und immer hellwach. Sie lief davon, um eine Falle zu untersuchen, eine Hand voll Beeren zu pflücken oder Pilzfleisch von einem umgestürzten Baumstamm zu pulen. Sie war wie Feuer, dachte Regina, erfüllt von einer lodernden Energie, um die sie Brica nicht einmal mehr beneiden konnte.

»Und«, sagte sie vorsichtig, »hast du Bran wiedergesehen?«

»In den letzten Tagen nicht.« Aber Brica wandte sich ab; ihre rauchgrauen Augen tanzten. Bran war etwas jünger als Brica und kam von einem Gehöft ein paar Hügel weiter. Er war der Enkel des alten Exsuperius, ihres ersten, mürrischen, missgünstigen Nachbarn, der schon lange tot war. Brica sagte: »Weißt du, Mutter, er ist gar nicht so übel.«

»Gar nicht so übel hinter einem Pflug, nein, aber er kann nicht besser lesen als du mit fünf Jahren. Und was sein Latein betrifft…«

Brica seufzte. »Ach, Mutter, niemand liest. Wozu denn auch? Eine Papyrusrolle pflügt kein Feld und kümmert sich auch nicht um die Geburt eines Kalbes.«

»Jetzt vielleicht nicht. Aber wenn sich alles…«

»… wieder normalisiert, ja, ja. Weißt du, es gibt Mädchen, die sind fünf Jahre jünger als ich und haben Mann und Kinder.«

»Du bist nicht wie diese Mädchen«, fauchte Regina.

»Du denkst, dass Bran nicht gut genug für mich ist.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Brica ließ ihre Hand in die ihrer Mutter gleiten. »Er lernt überhaupt nur aus einem einzigen Grund lesen, und zwar dir zuliebe.«

Regina war überrascht. »Tatsächlich?«

»Zeigt das nicht, wie viel er sich aus mir macht – und sogar aus dir?«

»Vielleicht.« Regina schüttelte den Kopf. »Du musst wohl deine eigenen Entscheidungen treffen. Ich habe viele törichte Entscheidungen getroffen – aber hätte ich das nicht getan, hätte ich dich nicht. Ich möchte nur, dass du auch wirklich weißt, was du willst. Und bis dahin: Sei vorsichtig.«

Brica schnaubte. »Ich gehe jeden Monat zu Marina, Mutter.«

Regina wusste, dass Brica von den Kräutertees sprach, die Marina als Empfängnisverhütungsmittel zubereitete. Marina war im Lauf der Jahre zu einer Art Expertin für Arzneien geworden, die man im Wald und auf den Feldern sammeln konnte; in Ermangelung eines Arztes war solches Wissen das Beste, was es gab.

»Du weißt ja, was ich von solchen Tränken halte«, blaffte Regina. »Wenn Bran sich wirklich etwas aus dir machte, würde er ein Kondom benutzen. Kein Tee ist so wirksam wie eine Schweinsblase.«

Brica errötete, unterdrückte jedoch ein Lachen. »Mutter, bitte!«

»Und noch etwas…«

Zankend, lachend und schwatzend gingen sie den zerklüfteten Kamm entlang.

 

Mittlerweile lebten über zwanzig Personen auf dem Hof, eine Gemeinschaft, die der Saat jener überstürzten Flucht aus Verulamium entsprossen war. Um den alten Kern – Regina und ihre Tochter, Marina und Carausias – hatten sich weitere Menschen versammelt: Flüchtlinge aus einer alten Stadt im Süden, der Zweitälteste Sohn eines überfüllten Gehöfts im Westen samt seiner Familie.

Zu Anfang fühlte Regina sich in dieser trostlosen Ruine auf der grünen, gewölbten Flanke des Hügels völlig verloren. Am schlimmsten war das Gefühl der Isolation. Die reicheren Teile des Landes waren bewohnt und wurden bebaut wie immer, aber verstreute Gehöfte wie dieses auf weniger ertragreichem Boden, der nur bebaut worden war, als man römische Steuern hatte entrichten müssen, standen nun leer. Sie hatten nur vereinzelte Nachbarn – nachts sah man wenige Lichter auf den Hügeln. Die Waldkrone auf der Hügelkuppe wurde für Regina zu einer Quelle beinahe abergläubischer Furcht; in dem dichten, grün-schwarzen Gewirr lauerten Wildschweine, Wölfe und sogar ein Bär, eine schlurfende, massige Gestalt, die sie einmal kurz erblickt hatte. Sie argwöhnte, dass der Wald sich im Lauf der Jahre schleichend den Hang hinab ausbreiten und dass die wilden Tiere aller Art zahlreicher werden könnten, als wollte die Natur das einstmals von ihr beherrschte Land zurückerobern.

Die unaufhörliche Arbeit war für sie alle hart gewesen. Regina schätzte sich glücklich, dass ihr die chronischen Rückenprobleme, unter denen viele hier litten, ebenso erspart geblieben waren wie Würmer und andere Parasiten. Aber es brach ihr schier das Herz, dass ein Drittel aller hier geborenen Kinder schon vor dem ersten Geburtstag starben.

Trotzdem, sie und die anderen hatten durchgehalten. Sie ließen sich nicht von hier vertreiben – schließlich konnten sie nirgends anders hin. Und allmählich hatten sie es geschafft, ihre Situation zu verbessern.

Als ihre Zahl langsam wuchs, fassten sie sich nach einiger Zeit ein Herz und bauten ein weiteres Rundhaus – aber dessen Dach wurde beim ersten Wintersturm weggerissen. Wie sich herausstellte, gab es einen Trick, was den Winkel des Strohdachs betraf; eine Neigung von genau 45 Grad ließ den Regen ablaufen und widerstand dem Wind, und wenn man den Rand nicht zu weit herunterzog, blieb es auch vor den Mäusen bewahrt.

Und jetzt, bei Jupiters Bart, gab es drei Rundhäuser. Es war ein kleines Dorf, ein betriebsamer Ort. Sie hatten das überschüssige Getreide in Gruben gelagert, und jeden Tag konnte man das stetige Knirschen von Mahlsteinen hören.

Im Frühling und Herbst mussten die Felder gepflügt werden – zweimal pro Jahr, denn im Herbst wurden Winterweizen und andere der Jahreszeit entsprechende Feldfrüchte gesät. Neben Emmer, Dinkel und Gerste wurden Grünkohl und Bohnen angebaut. Sie zogen Pastinaken, sammelten Bärlauch und im Sommer auch Brombeeren, Holunderbeeren und Holzäpfel. Außerdem hielten sie ein paar Hühner, auch Schafe wegen ihrer Wolle und Milch, und einige Schweine. Dies waren nützliche Geschöpfe; man konnte sie hinausschicken, damit sie in den Stoppelfeldern wühlten, und im Winter konnte man sie in den Wald treiben, wo sie sich Futter suchten. Nur alte Tiere wurden geschlachtet. Der größte Teil des Fleisches stammte von erjagtem Rotwild und vereinzelten Wildschweinen; sie stellten auch nach wie vor die simplen Hasenfallen auf, die sie von ihren Anfangstagen an gebaut hatten.

Und dann waren da all die anderen elementaren Dinge des Lebens. Manchmal überraschte es Regina noch immer, dass es so gut wie nichts mehr zu kaufen gab. Alles, was man nicht eintauschen konnte, von Schuhen über Kleidungsstücke und Werkzeug bis zu einem neuen Dach für das Haus, musste man anfertigen.

Kleidung zum Beispiel. Da ihre wenigen Kleidungsstücke rasch abgetragen gewesen waren, hatte Regina herausfinden müssen, wie man mit Holz- oder Knochenkämmen Wolle von den Schafen gewann, sie zu Garn spann und mit einfachen Webstühlen wob. Die solcherart hergestellten Kleidungsstücke waren schlicht – einfache Röhren aus Stoff, die zu Tuniken, Unterhemden und braecci, Hosen für die Männer, oder einem peplum, einem ärmellosen Kleid für die Frauen, verarbeitet wurden –, aber sie erfüllten ihren Zweck.

Schuhe waren schon eine größere Herausforderung. Ihre ersten Versuche, Ersatz-Fußbekleidungen aus Leder für die alten, abgetragenen, in der Stadt gekauften Schuhe anzufertigen, waren Katastrophen gewesen, schlecht sitzende Notbehelfe, die gescheuert und gebrannt und Blasen verursacht hatten. Selbst jetzt bekamen sie erst allmählich den Kniff heraus, wie man einen guten, strapazierfähigen Stiefel schusterte. Regina erstaunte es, wie viel Zeit sie damit verbrachte, an ihre Füße zu denken.

Um ihre aus Holz geschnitzten Becher und Schüsseln zu ersetzen, hatten sie sich mit Töpfern versucht und mit Brenngruben experimentiert. Man kleidete eine flache Grube mit heißer Asche aus und legte grünes Holz darüber. Darauf platzierte man sorgfältig die Tonwaren und deckte alles mit trockenem Holz, feuchtem Stroh und Erdreich ab, sodass ein luftdichter Hügel entstand. Wenn man einen Tag abwartete und dafür sorgte, dass die Abdeckung aus Erdreich geschlossen blieb, bekam man am Ende ein Viertel oder ein Drittel der Tonwaren unversehrt heraus – geschwärzt und roh, aber heil.

Carausias und Marina schienen große Befriedigung darin zu finden, solcherlei Dinge herzustellen. Brica und die Kinder waren zwar nichts Besseres gewohnt, aber Regina erinnerte sich an die kostbare samische Keramik ihrer Mutter und fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis die Handelswege und die Märkte wieder offen waren und man solche Schätze überall ohne weiteres erstehen konnte.

All das war jedoch Tagträumerei, ermahnte sie sich streng, sinnlose Sehnsucht, eine Ablenkung von der Aufgabe, einfach nur am Leben zu bleiben, einer Aufgabe, die fast ihre gesamte Zeit in Anspruch nahm, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Schließlich musste sie ein Beispiel geben.

Im Lauf der Jahre hatte jemand die Führung übernehmen müssen. Marina, die trotz ihrer beiden Kinder und drei Enkelkinder nie ihr selbsterniedrigendes Dienerinnenbewusstsein abgestreift hatte, kam dafür nicht infrage. Und der arme Carausias, der sie schließlich hierher geführt hatte, wurde mit zunehmendem Alter immer untüchtiger; oftmals versank er in jenen Zustand unglücklicher Verwirrung, aus dem er seit Arkadius’ Verrat nicht mehr so recht herausgefunden hatte.

Und so war diese Aufgabe mehr oder weniger automatisch Regina zugefallen. Sie war es, die Neuankömmlinge aufnahm oder abwies, die bei ihren regelmäßigen Versammlungen das Wort ergriff, wie ein Magistrat aus Verulamium Streitigkeiten über die Verteilung von Hühnereiern regelte und durch die Gegend reiste, um ihre zaghaften Kontakte mit den Nachbarn aufrechtzuerhalten. Sie hatte in sich selbst die Führungsqualitäten gefunden, ohne die – darin schienen sich alle einig zu sein – das Gehöft schon längst vor die Hunde gegangen wäre und sie alle bacaudae geworden wären, sofern sie überhaupt überlebt hätten.

Ihr selbst gefiel die Situation nicht besonders. Sie sagte sich immer wieder, dass sie nicht von Dauer sein würde. Aber vorläufig gab es für diese Aufgabe niemand Besseren als sie.

Zu ihrer Enttäuschung erfuhren sie in ihrer Abgeschiedenheit so gut wie nichts darüber, was in der Welt vorging. Es gab keine Nachrichten von der Rückkehr des Kaisers. Auf der alten Straße herrschte noch immer einiger Verkehr, und die Reisenden oder Flüchtlinge erzählten manchmal von Königen: Da gab es beispielsweise einen Cunedda in Wales und einen Coel im Norden, angeblich der letzte der dortigen römischen Befehlshaber, der sich nun zum Alten König stilisierte. Aus dem Osten kamen Gerüchte über einen gewissen Vitalinus, der sich Vortigern nannte – ein Name, der »Hochkönig« bedeutete – und es sich angeblich zur Aufgabe gemacht hatte, die alte Provinz zu vereinigen und vor den marodierenden Sachsen, Pikten und Iren zu schützen. Die Bewohner des Gehöfts hörten nie etwas von diesen großen Männern. »Wir werden schon merken, ob sie es ernst meinen«, pflegte Carausias zu sagen, »wenn der Steuereintreiber kommt.«

Aber es kam nie jemand. Und während Regina ihr Gehöft zu einer Oase des Wohlstands und der Sicherheit machte, gingen fast unmerklich mehr als zwanzig Jahre ins Land.

 

Als sie die Villa erreichten, trennten sich Regina und Brica und fingen an, die zerstörten Gebäude systematisch zu durchsuchen.

Die Villa hatte in einer natürlichen, grünen Senke mit schönem Blick auf die Hügel im Westen gelegen. Sie musste wirklich einmal imposant gewesen sein, dachte Regina – noch imposanter als die ihrer Eltern –, ein Komplex von sieben oder acht Steingebäuden um einen Hof herum, dazu Scheunen und andere kleinere Holzbauten in der Nähe.

Aber sie war schon lange, bevor Regina sie ausfindig gemacht hatte, verlassen worden. Ihre abgedeckten Dächer waren längst verfallen, und Unkraut überwucherte den Hof und arbeitete sich durch die Stockwerke langsam nach oben. Seither hatte die Natur ihren unerbittlichen Lauf genommen, und alles war immer schlimmer geworden. In einem Gebäude – vermutlich einem ehemaligen Badehaus – war der Boden von unten durch die sich ausbreitenden Wurzeln einer Esche aufgebrochen, und die Räume waren von welken Blättern übersät. Seit ihrem letzten Besuch im vorigen Herbst war eines der Steingebäude ausgebrannt, und das Feuer hatte die letzten Überreste des Daches verschlungen und im Innern ein verräuchertes Trümmerfeld hinterlassen.

Trotz der ganzen Schäden war der imposante Grundriss der Villa jedoch noch in dem gewaltigen, rechtwinkligen Muster ihrer Mauern und den Stümpfen der zerbrochenen Säulen zu erkennen, die einmal eine Kolonnade um den Hof gebildet hatten. Aber Regina fragte sich, wie lange es dauern würde, bis der Mörtel zerbröselte und die Steine verrotteten und nichts mehr blieb als ein paar Hügel im Grün. Es hatte den Anschein, als wäre die Welt selbst mit ihren Millionen Fingern aus Pflanzen und Insekten, Frost, Sonnenlicht und Feuer ein ewiger Feind, ein erbarmungsloser Zunichtemacher allen menschlichen Strebens.

Regina ging auf das größte Gebäude des Komplexes zu. Wahrscheinlich war es einmal ein Empfangszimmer gewesen. Das Dach war längst verschwunden, bis auf ein paar Stümpfe verrottender Balken. Der Boden war von einem Gemisch aus Erdreich und Blättern bedeckt, und der jahrelang dem Wetter ausgesetzte, bemalte Putz war in großen Placken von der Wand gefallen. Die Wände selbst waren heil, und der Raum beeindruckte noch immer durch seine schiere Größe. Aber die Möbel waren längst abtransportiert worden, und selbst die kleinen Nischen in den Wänden waren leer; die Öllampen, die einmal darin gestanden hatten, fehlten.

Regina ließ sich auf Hände und Knie nieder und fing an, den Schmutz zu durchkämmen. Nach derart langer Zeit war alles, was so groß war, dass man es mühelos sehen konnte, längst zerschlagen oder weggeschleppt worden. Wer jetzt noch etwas finden wollte, musste alles Zentimeter für Zentimeter mit den Fingerspitzen absuchen. Doch in einer Zeit, in der sogar ein Schuhnagel wertvoll war, lohnte sich diese Mühe. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ein kleines Parfümfläschchen entdeckt. Als sie es ins Licht gehoben hatte, war sie überrascht gewesen von seiner Symmetrie und Vollkommenheit – verglichen mit den primitiven Schüsseln und Holzgefäßen, die sie daheim verwendete –, so als wäre es von einem besseren Ort in diese Welt eingedrungen. Sie bewahrte das Fläschchen in der kleinen Nische auf, die sie für die matres gebaut hatte, und hin und wieder nahm sie es heraus und hielt es ins Licht.

Durch die Fensterlöcher in den Mauern sah sie Brica. Sie hockte vor einem Schutthaufen in der Ecke eines Raumes, der einmal eine Küche gewesen sein mochte, und untersuchte ihn sorgfältig. Es war eine beunruhigende Komposition unterschiedlicher Bildelemente, ihre Tochter in ihrem schmutzigen Hemdkleid, unter einer Mauer wühlend, die immer noch die Markierungen von Borden und sogar Reste von Freskomalereien in Form eines Blumenmusters aufwies. Sie wusste, dass Brica sich an Orten wie diesen Ruinen unwohl fühlte, gerade so als glaubte sie dem Kindergeschwätz, dass es von Geistern heimgesuchte Relikte wären, erbaut von Riesen der Vergangenheit. Manchmal fragte sich Regina besorgt, was passieren würde, wenn diese unerfreuliche Situation so lange bestehen bliebe, dass die Letzten, die sich noch entsannen, ausstarben und nichts als Ruinen, Erinnerungen aus zweiter Hand und Sagen überdauerten.

Sie dachte an Bran. Er war ein bisschen unbedarft, aber eigentlich kein übler junger Bursche. Und Brica hatte ja nicht gerade eine sonderlich große Auswahl.

Sie hatten hier keinerlei Verwaltungsstruktur; im näheren Umkreis gab es keine Stadt und auch keine Villa, die noch in Betrieb war. Aber Regina und ihre Leute hatten sich mit der Zeit einer losen Gemeinschaft benachbarter Höfe angeschlossen. Die Menschen waren ziemlich argwöhnisch – manche Bewohner dieser Hügellandschaft waren hier schon sehr lange ansässig und betrachteten Neuankömmlinge mit Misstrauen –, aber sie halfen einander bei der Ernte und in medizinischen Notfällen. Und sie trieben Handel, Gemüse gegen Fleisch, eine Holzschale gegen eine Decke aus gewebter Wolle. Ohne diese Kontakte, sinnierte Regina, hätte wahrscheinlich keiner von ihnen überlebt.

Aber die Bevölkerungsdichte war gering. Das Land hatte sich geleert, als die Menschen, von Armorica träumend, nach Süden geflohen waren und sogar Höfe auf dem besten Land verlassen hatten, fortgetrieben von Gerüchten über das Vordringen der sächsischen Räuber im Osten und der Pikten und Iren im Westen und Norden. Und in diesem leeren Land der Geisterstädte und verlassenen Höfe herrschte ein Mangel an passenden Gefährten für Brica, so viel stand fest.

Reginas Widerstand gegen Bran war also nicht besonders sinnvoll. Aber sie war trotzdem gegen ihn. Anscheinend gab es in ihrem Innern einen tief sitzenden Instinkt, was das Schicksal ihrer Tochter betraf. Doch wenn sie eingehender darüber nachdachte, schienen ihre Gedanken wegzuschlittern wie ein Kieselstein über einen gefrorenen Teich. Zweifellos würde sie irgendwann den Grund dafür herausfinden.

Geistesabwesend durchkämmte Regina den Schutt. Sie legte ein scharlachrotes Stück Boden frei, einen Farbfleck, der von tesserae gebildet wurde. Es war ein Teil eines Mosaiks.

In plötzlichem Eifer schob sie den Schmutz mit dem Unterarm beiseite und legte ein größeres Stück des Mosaiks frei. Es zeigte das Gesicht eines bärtigen Mannes mit großen Augen. Farben – Gold, Gelb, Orange, Rot – umgaben den Kopf wie Sonnenstrahlen. Es hätte Apollo sein können, oder vielleicht auch ein christliches Symbol. Obwohl einige der Blattgoldsteinchen von hoffnungsvollen Räubern herausgebrochen worden waren, leuchteten die meisten Farben noch wie an dem Tag, als man die Mosaiksteine eingesetzt hatte. Mit besessenen Bewegungen säuberte Regina eine größere Bodenfläche. Es erschien ihr falsch, dass solche Schönheit unter welkem Laub und kriechenden Würmern vergeudet sein sollte, als wäre der junge Mann auf dem Bild lebendig begraben worden. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass es im Gehöft, so stolz sie darauf war, nur tristes Graugrün und Braun gab, als wäre alles aus Lehm geformt. Wie sehr sie Farben vermisste! Sie hatte vergessen, wie licht und bunt die Welt früher gewesen war. Sie fühlte sich in eine andere Zeit zurückversetzt, eine unglaublich warme, helle und sichere Zeit, als sie in die zerstörten Räume der Villa ihrer Eltern geschlichen war und ein anderes Mosaik entdeckt hatte…

Ein einzelner Schrei gellte durch die Luft. Er brach abrupt ab.

Erica.

Reginas Gedanken verflogen. An ihre Stelle trat harte, kalte Furcht. Sie rappelte sich hoch und lief hinaus ins Freie.

 

Brica stand in der Küche. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet.

Der Mann hinter ihr war einen Kopf größer als Brica. Seine Hand lag über ihrem Gesicht, und er hielt sie mühelos fest. In der anderen hielt er ein eisernes Kurzschwert mit kunstvoll geschmiedetem Heft. Er trug einen Umhang aus gefärbter Wolle. Sein langes blondes Haar war hinter dem Kopf zurückgebunden, und in seinem herunterhängenden Schnurrbart klebten Essensreste. Als er Regina sah, lächelte er und zeigte dabei gelbe Zähne. Er sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand.

Er senkte die Hand, steckte das Heft seines Schwerts in den Halsausschnitt von Bricas Tunika und durchschnitt die weiche Wolle mit der Klinge. Als er ihren Oberkörper freigelegt hatte, knetete er ihre Brust mit den Fingern seiner Schwerthand. Er schien es zu genießen, wie sie zurückzuckte, wenn sein kaltes Metall ihre bloße Haut berührte. Wieder sagte er leise etwas zu Regina. Es klang wie eine Einladung.

Er war natürlich ein Sachse. Sie hatte solche wie ihn schon gesehen – vereinzelte Gruppen, die auf der alten Römerstraße nach Westen ritten. Die armen Höfe an diesem Hang hatten sie immer links liegen lassen. Aber jetzt hatte dieser Sachse ihre Tochter; jetzt hielt er ihr ganzes Leben in seinen Händen. Es war, als dehnte sich der Raum um sie herum ebenso aus wie die Zeit selbst, sodass Vergangenheit und Zukunft verbannt waren. Es gab nichts im Universum, keine Zeit und keinen Raum, nichts als diesen Augenblick und sie drei, ineinander verkrallt in Angst und Berechnung.

Regina zwang sich zu einem Lächeln. Nichts war ihr jemals so schwer gefallen.

Sie sah nicht Brica, sondern den Sachsen an, als sie zu ihm trat. Er betrachtete sie erwartungsvoll, als versuchte er, durch ihr formloses, mit Blättern übersätes Hemdkleid ihre Figur zu erkennen. Sie zog an dem Stoff über ihrem Schenkel und öffnete die Lippen. Sie streckte die Hand nach ihrer Tochter aus und berührte Bricas Brust genauso grob, wie der Sachse es getan hatte.

Er lachte laut auf. Sie roch Gerstenbier in seinem Atem. Mit der riesigen Hand, die immer noch fest über Bricas Mund lag, zog er das Mädchen beiseite, sodass er ungeschützt vor Regina stand; er trug einen Torques aus angelaufenem Silber um den Hals. Regina trat näher zu ihm, berührte seine Brust und strich ihm dann mit der Hand über den Unterleib. Sie fühlte die Schwellung dort. Sie roch Urin, Samen, den Gestank von Pferdekot und der Straße. Er grinste und sprach erneut, und sie drückte sich an ihn.

Das Messer glitt mühelos aus ihrem Ärmel. Mit aller Kraft rammte sie es ihm durch Schichten rauen Tuchs in den Unterleib, über der Wurzel seines steifen Penis.

Die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Der Sachse ließ seinen Schwertarm herabsausen. Aber Regina stand innerhalb des Bogens, den das Schwert beschrieb, und er konnte ihr nichts antun, nicht in diesem ersten, alles entscheidenden Moment. Sie legte beide Hände an den Griff des Messers und zog es nach oben, schnitt in Fleisch und Knorpel.

Und nun ging Brica von hinten auf ihn los. Ihre aufgeschnittene Tunika flatterte. Sie stieß ihm ihr eigenes Messer in den Rücken und drehte es, suchte sein Herz. Der Sachse stand noch immer, fuchtelte mit seinem Schwertarm, während die Frauen mit ihren Messern schnitten und schlitzten. Es war wie ein Tanz, dachte Regina, ein schauerlicher Tanz zu dritt, in wortloser Stille.

Dann presste der Sachse Regina an sich, und Blut, dunkel wie Birkenrindenöl, quoll ihm aus dem Mund und ergoss sich in ihr Gesicht. Er erzitterte, stürzte wie ein gefällter Baum und zog beide Frauen mit sich.

Angewidert rutschte Regina von ihm weg, über den schmutzigen Boden. Sie wischte sich mit den Händen das Blut vom Gesicht. Brica fiel auf ihre Mutter und barg das Gesicht an ihrer Brust. Regina versuchte, ihre Tochter zu trösten, strich ihr über die Haare und beruhigte sie.

Ihre Rückkehr zum Gehöft löste Panik aus. Marina bestand darauf, die blutigen Kratzer auf Bricas Brust mit ihren Breiumschlägen zu behandeln.

Regina sehnte sich danach, das Blut des Sachsen loszuwerden. Doch zuerst wies sie die jüngeren Männer an, die Kinder und Tiere zusammenzutreiben, während andere ihre einfachen Waffen überprüften – ein paar Schwerter und Messer aus Eisen, größtenteils jedoch Speere und Pfeile mit Holz- oder Steinspitzen. Währenddessen sollten andere unter Führung des hinkenden, alten Carausias, der schon über sechzig war, zur Villa zurückkehren und den Leichnam des Sachsen nach Möglichkeit von dort wegholen und verschwinden lassen. Der Rest seines Räubertrupps würde das Gehöft vielleicht doch noch ignorieren, wie es auch die anderen früher getan hatten – aber die Tötung eines ihrer Männer würden sie gewiss nicht hinnehmen.

Als für alles gesorgt war, wollte Regina sich nur noch auf ihr Strohlager zurückziehen. Im Halbdunkel ihres Hauses rollte sie sich zusammen, als könnte sie der Welt entfliehen.

Im Lauf der Jahre hatte sie vieles getan, um am Leben zu bleiben. Aber sie hatte noch nie einen Menschen getötet. Sie erinnerte sich an das kleine Mädchen, das einmal zu seiner Mutter gelaufen war, als diese sich für ihr Geburtstagsfest angekleidet hatte. Dieses Kind ist längst tot, dachte sie, und nun ist auch noch die letzte Spur von ihm verschwunden; und ich bin wie sein Geist oder sein Leichnam, der am Leben gehalten wird, aber immer weiter verwest.

Allerdings nicht vergeblich. Arm oder nicht, sie wusste, was sie hier aufgebaut hatten – was sie aufgebaut hatte –, war etwas, worauf man stolz sein konnte, was sich zu bewahren lohnte.

Aber nun waren die Sachsen hier. Und Regina musste entscheiden, was sie tun sollten.

 

Als der Tag heraufdämmerte, war sie wach.

Nach einer kurzen Morgentoilette zog sie eine alte Tunika über und legte einen alten Umhang an. Sie schlüpfte vom Hof und ging den Hang hinunter zum Sumpfland am Fluss.

Auf irgendeiner Ebene hatte sie immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Aber sie hatte die Augen davor verschlossen, wohl in der Hoffnung, dass wieder Normalität einkehren würde, bevor es so weit wäre. Doch nun war der Tag der Prüfung da, und sie war voller Scham aufgewacht, weil ihre Leute, ihre eigene Tochter, dank ihrer Art, die Wirklichkeit zu verweigern, nun beklagenswert schutzlos waren. Sie hatten noch nicht einmal eine Palisade um das Gelände errichtet.

Regina watete ins Wasser hinaus und wühlte im schwarzen, dicht mit Schilf bewachsenen Schlamm. Seit dem Frühling hatte es kaum geregnet, und der Wasserspiegel war niedrig. Sie hatte den verrosteten Eisendolch, den sie einst hier gefunden hatte, nicht vergessen und sich immer gefragt, ob noch mehr vom Schatz jenes längst verstorbenen Kriegers überdauert haben mochte. Wenn ja, enthielt er vielleicht bessere Waffen als ihre armseligen Holzstöcke und Pfeile mit Steinspitzen. Es war eine kümmerliche Idee, aber ihr fiel nichts Besseres ein.

Als Brica den Hang herabgelaufen kam, hatte sie lediglich einen derart verrosteten Schild gefunden, dass er nicht mehr Schutz bot als ein Papyrus-Spielzeug.

»Regina! O Regina! Mutter, was machst du hier? Du musst kommen!«

Regina richtete sich überrascht auf. Rauch lag in der Luft. Er kam von Westen. »Exsuperius’ Hof«, sagte sie grimmig. »Die Sachsen…«

Brica packte sie am Arm. »Wir haben Besuch«, sagte sie.

»Wer ist es?«

»Ich weiß es nicht… Du wirst schon sehen – du musst kommen.« Sie fasste ihre Mutter an der Hand und zog sie aus dem Morast. Zusammen eilten sie den Hang hinauf zum Gehöft.

Eine Gruppe Soldaten stand vor dem größten Rundhaus. Ihre Hände lagen beiläufig am Heft ihrer Schwerter. Sie trugen Brustharnische aus Leder, kurze Tuniken und Wollhosen. Die Leute vom Gehöft standen in einer mürrischen Reihe vor den Soldaten. Unter ihnen war Bran, Exsuperius’ Enkel. Sein Gesicht war rußgeschwärzt, vielleicht vom Brand in seinem Zuhause, und er stand in erzwungenem Schweigen da, ein stummes Zeugnis für die Macht der Neuankömmlinge.

»Unten auf der Straße sind noch mehr von ihnen«, flüsterte Brica. »Auch ein paar Pferdewagen mit einer Art Menschenkolonne dahinter. Ihr Anführer ist heraufgekommen und hat Einlass verlangt. Wir wussten nicht, was wir tun sollten – und du warst nicht da…«

»Ist schon gut«, sagte Regina.

»Sind das Sachsen?«

»Ich glaube nicht.«

Einer der Soldaten war größer als die anderen; er führte offensichtlich den Befehl. Er trug einen roten Umhang und einen kunstvollen Lederkürass mit eingearbeiteten Schnallen aus Metall. Er war vielleicht dreißig, aber sein Gesicht war vom Schmutz der Straße gezeichnet. Für Regina strahlte er Stärke und Tüchtigkeit, aber auch Müdigkeit aus. Und sein kurzes braunes Haar war im römischen Stil nach vorn gebürstet. Selbst seine Kleidung war beinahe römisch. Einen Augenblick lang schlug ihr Herz ein bisschen schneller. War es möglich, dass die comitatenses zurückgekehrt waren?

Sie trat zwischen ihre Leute und die Eindringlinge und richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf, ohne dem Schmutz in ihrem Gesicht und an ihren Beinen, ihrer unordentlichen Kleidung oder den Menschen in ihren schlammfarbenen Kleidern hinter ihr Beachtung zu schenken.

Der Anführer hatte sie nicht einmal bemerkt. »Riothamus.« Einer der Soldaten tippte ihm auf die Schulter und deutete auf Regina. Er schien überrascht zu sein, einer Frau gegenüberzustehen. »Bist du hier die Anführerin?«, fragte er.

»Wenn du es wünschst. Und welchen Rang hast du, riothamus?« Sie sprach das Wort spöttisch aus und verbarg damit ihre Enttäuschung. Es war lateinisch, aber eine Variante eines britannischen Wortes – Hochkönig. Dies war kein Soldat, kein Offizier des kaiserlichen Heeres, sondern nur ein Kriegsherr.

Er nickte. »Das ist mein einziger Rang, und ich habe ihn mir nicht gewünscht.«

»Ach, wirklich?«

Er spreizte die Hände. »Ich bin nicht hier, um euch ein Leid zuzufügen.«

»Ach«, sagte sie. »Und dem Jungen hier, Bran, hast du wohl auch kein Leid zugefügt, indem du sein Zuhause niedergebrannt hast.«

»Dadurch habe ich ihm am wenigsten Leid zugefügt.«

»Deine Definition von ›Leid‹ erscheint mir interessant.«

Er grinste mit hochgezogenen Brauen. »Widerstand! Wir haben eine neue Boudicca gefunden, Jungs.« Dafür erntete er gedämpftes Gelächter von seinen Soldaten.

Sie richtete sich auf. »Macht euch nicht über uns lustig. Wir leben hier in ärmlichen Verhältnissen, das kann ich nicht leugnen. Aber wenn ihr glaubt, wir seien des Lesens und Schreibens unkundige Sachsen…«

»Oh, ich weiß, dass ihr keine Sachsen seid.« Er machte eine Handbewegung. »Eure Getreidegrube zum Beispiel… ich habe einige sächsische Bauern gesehen. Es gibt schon eine ganze Menge in diesem Land, weiter im Osten. Ihre Methoden sind teils besser, teils schlechter als das, was ihr euch hier ausgedacht habt. Aber ihre Herangehensweise ist nicht ganz dieselbe. Und es ist die Bedrohung durch die Sachsen, die mich hierher bringt. Hört mir zu«, wandte er sich mit erhobener Stimme an alle Anwesenden. »Die Dinge haben sich geändert. Die Sachsen kommen.«

»Das wissen wir«, sagte Regina.

»Vielleicht habt ihr von Vortigern gehört«, knurrte er. »Dieser törichte kleine König hatte großen Ärger mit piktischen Räubern aus dem Norden. Deshalb hat er die Sachsen geholt; sie sollten ihm helfen, die Pikten in Schach zu halten.« Es war ein alter Trick der Römer gewesen, wie Regina wusste, sich mit einer Gruppe von Feinden zu verbünden, um eine andere zu bekämpfen. »Ich will nicht bestreiten, dass die Sachsen ihre Sache gut gemacht haben. Schließlich sind sie Seepiraten, und sie sind in ihren ungeschlachten kleinen Ruderbooten erfolgreich gegen die Pikten in den Kampf gezogen.

Dann jedoch haben die Sachsen unter ihrem brutalen Anführer Hengist, der auf dem Festland bereits bekannt ist wie ein bunter Hund, Vortigern betrogen. Sie haben immer mehr Verwandte ins Land geholt und immer mehr Tribut von Vortigern verlangt. Doch je mehr sie ihm wegnahmen, desto weniger konnte er ihnen bezahlen und desto schwächer wurde er.

Jetzt ist Vortigern tot. Sein Rat wurde ermordet. Und die Sachsen, die nun im Osten Fuß gefasst haben, werden allmählich gierig.

Ihr habt vielleicht von ihrer Grausamkeit gehört. Sie sind nicht die Römer! Sie hassen Städte, Villen und Straßen, alles, was mit dem Imperium verbunden ist. Und sie hassen die Britannier. Sie breiten sich wie eine Seuche über das Land aus. Sie werden diese fadenscheinigen Hütten niederbrennen, sie werden euch von hier vertreiben, und wenn ihr Widerstand leistet, werden sie euch töten.«

»Der Kaiser wird uns helfen«, rief jemand.

Der riothamus lachte, aber es klang grimmig. »Hilfsersuchen hat es genug gegeben, aber die Hilfe bleibt aus. Wir müssen uns selbst helfen. Ich werde euch helfen«, sagte er kühn. »Ich errichte ein neues Königreich im Westen – dort liegt meine Hauptstadt. Es ist eine Festung, die selbst die Römer nur mit großer Mühe eingenommen haben, und sie wird dem Angriff von ein paar haarigen Sachsen standhalten.« Daraufhin ertönte ein wenig Gelächter, und Regina erkannte, wie geschickt er Einschüchterung und Humor mischte. »Aber ich brauche euch an meiner Seite. Das Land leert sich. Jedermann flieht aus Angst vor den Räubern. Wenn ihr mit mir kommt« – er zog sein Schwert, reckte es in die Luft und ließ die polierten Flächen der Klinge über seinem Kopf aufblitzen –, »dann schwöre ich vor den Göttern, dass ich und Chalybs euch bis zu meinem eigenen Tode schützen werden!« Chalybs, das er Calib aussprach, war das lateinische Wort für »Stahl«.

Die Reaktion auf seine Worte war unsicheres Schweigen.

Regina trat vor ihn hin. »Wir brauchen weder dich noch dein glänzendes Chalybs. Trotz all deiner Posen und großen Worte bist du nur ein weiterer Mordbrenner, ein weiterer Kriegsherr, genauso schlimm wie die Sachsen oder die Pikten.«

Der riothamus musterte sie. »Du hast gute Arbeit geleistet, damit ihr hier überlebt habt, Boudicca. Nur wenige haben so viel Erfolg gehabt. Ich sehe, dass du eine starke Frau bist.«

Sie funkelte ihn an. »Stark genug, um mich nicht von einem Gecken wie dir gönnerhaft behandeln zu lassen.«

Er schien sie überzeugen zu wollen. »Ich meine es ernst mit dem, was ich sage. Ich bin weder ein Sachse noch ein Pikte. Ich bin wie du. Ich bin von deiner Art. Ich bin in Eboracum aufgewachsen, wo mein Vater einer der Grundbesitzer war…«

»Ob du es ernst meinst oder nicht, ob du der Sohn eines Bürgers bist oder nicht: Du bist trotzdem ein Kriegsherr. Wenn ich mich dir unterordne, dann nur, weil ich keine Wahl habe – wegen deiner Streitmacht, nicht wegen deiner Redekunst.«

Er lachte. »Willst du mit mir handeln? Ich biete euch das Überleben, bei mir, in meinem Lager. Aber du willst mehr als überleben, nicht wahr?«

Sie starrte ihn wütend an. »Ich bin schon alt…«

»So alt nun auch wieder nicht.«

»… und es mag sein, dass ich den Tag nicht mehr erlebe, an dem die Kaiser zurückkehren. An dem wir nicht mehr wie Tiere im Boden scharren und in der Furcht vor Barbaren leben müssen. Vielleicht erlebe ich ihn nicht mehr. Aber meine Tochter wird ihn erleben, und ihre Töchter auch. Das ist es, was ich für meine Familie will. Dass sie bereit sind…« Sie verstummte, denn ihr wurde auf einmal bewusst, wie sehnsüchtig sie vor diesem stummen Muskelberg in seinem abgenutzten Kürass klang.

»Ich habe die Römer kennen gelernt«, sagte er leise. »Ich hatte im südlichen Gallien und anderswo mit ihnen zu tun. Weißt du, wie sie uns nennen? Celtae. Das heißt ›Barbaren‹. Ihr Reich ist tausend Jahre alt. Wir waren Barbaren, bevor wir aufgenommen wurden, und wir sind auch jetzt noch Barbaren. So sehen sie uns.«

Sie schüttelte kurz den Kopf. »Meine Tochter ist keine Barbarin. Und wenn wieder Normalität einkehrt…«

Er hob die Hand. »Dir liegt sehr viel daran, dass das Licht der Zivilisation nicht erlischt. Sehr schön. Aber bis dieser Tag der glücklichen Rettung naht, bis der Kaiser herbeigeritten kommt und uns sagt, was wir tun sollen, müssen wir für uns selbst sorgen. Ist dir das klar? Ja, natürlich ist es dir klar, ich sehe ja, was du hier aufgebaut hast. Ihr müsst mit mir kommen – du und deine Familie, und auch die anderen, die auf euch angewiesen sind. In den gefährlichen Zeiten, die uns bevorstehen, kann ich euch Schutz bieten… Du kannst nicht alles allein machen, Boudicca«, sagte er sanfter.

»Und wenn wir uns weigern?«

Er zuckte die Achseln. »Ich kann euch nicht hier lassen, denn was ihr aufgebaut habt, wird den Sachsen helfen.«

»Was wollt ihr tun – uns vertreiben, indem ihr Haus und Hof niederbrennt wie bei unseren Nachbarn?«

»Nur wenn es nicht anders geht«, sagte er. Aber er war reglos und stumm wie eine Statue, und sie sah seine Entschlossenheit.

Erneut stand sie vor einem Umbruch in ihrem Leben – sie würde alles aufgeben müssen, was sie aufgebaut hatte, auch die neu geschaffene Sicherheit. Doch es ließ sich nicht ändern.

»Stellt ihr Eisen her?«, fragte sie plötzlich.

»Ja«, sagte er. »Kein sehr gutes. Aber wir haben angefangen.« Er wirkte belustigt. »Versuchst du herauszufinden, woran du mit mir bist?«

»Ich möchte mich nicht mit einem Dummkopf zusammentun«, fauchte sie. »Ich bin schon zu lange auf der Welt und habe zu viele Dummköpfe sterben sehen. Wenn wir mit euch kommen, dann nicht als Gefangene, Sklaven oder auch nur als Diener. Wir werden als Gleichberechtigte bei euch leben. Und zwar in eurer Festung – wir werden uns nicht auf den Feldern draußen schinden, wo wir den Klingen der Sachsen ausgesetzt sind.«

Der Augenblick zog sich in die Länge, und sie fragte sich, ob sie es zu weit getrieben hatte. Sie war sich auch des verkrusteten Schlamms bewusst, der an ihren Beinen klebte und ihre Haare steif machte. Aber sie verlor nicht die Nerven, sondern hielt seinem verblüfften Blick stand.

Schließlich lachte er laut auf. »Ich würde es nicht wagen, mich mit dir anzulegen, meine Boudicca. Also schön. Als Gleichberechtigte.«

Sie nickte. Ihr Herz klopfte. »Sag mir noch eins, riothamus. Wie ist dein Name?«

»Ich heiße Artorius.« Es war ein römischer Name, aber sein »t« war weich, und er sprach auf walisische Art: Ar-thur-ius. Er lächelte sie an und wandte sich ab, um seinen Soldaten energische Befehle zu erteilen.