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Als ich nach dem Besuch bei Lou in mein Hotelzimmer zurückkam, schaute ich mithilfe der klobigen Zusatz-Tastatur für die kostenpflichtige Einwahl ins Internet nach meinen E-Mails. Es gab zwei wichtige Nachrichten.

Die erste war ein langes Schreiben von Peter McLachlan.

 

»Der größte Teil des Universums ist dunkel«, schrieb Peter. »Dunkle Materie. Ein unsichtbarer, rätselhafter Stoff, aus dem rund neunzig Prozent der gesamten Masse des Universums bestehen. Man erkennt ihre Existenz an Gravitationseffekten – die ganze Galaxis ist in einen großen Teich dieser Materie eingebettet und dreht sich wie ein Lilienblatt in einem Eimer mit staubigem Wasser. Ansonsten durchdringt dieser Stoff unseren Planeten jedoch wie ein riesiger Geist. Wie wundersam, wie erschreckend, dass ein so großer Teil des Universums – tatsächlich der größte Teil – für uns vollständig unsichtbar ist. Wer weiß, was dort draußen in der gläsernen Dunkelheit lauert?… Ich fühle mich beflügelt, George. Etwas an meinem Kontakt zu dir, dieses kleine Geheimnis in deinem Leben, hat bei mir einen Funken entzündet. Das und Kuiper. Ich habe mich wieder mit den Slan(t)ern in Verbindung gesetzt…«

 

Er war ein ungewöhnlicher E-Mail-Schreiber. Bei Peter gab es kein »BTW«, kein »abt« oder »lol«, keine Smiley-Gesichter. Seine Mails waren erkennbar durchdacht, durchstrukturiert und sogar auf Rechtschreibung überprüft wie altmodische Briefe: Sie waren echte Korrespondenz.

 

»Natürlich haben wir eine Hand voll von Menschen gebauter Raumsonden, die fast bis zum Kuiper-Gürtel vorgedrungen sind. Leider sind sie nicht fähig, die Anomalität zu erforschen. Aber sie fliegen in etwas Fremdes hinein…«

 

Mein Finger hing über der Löschtaste. Etwas in mir reagierte auf all dieses Zeug. Aber mein erwachsenes Ich fing an zu bereuen, dass ich diesen seltsamen Besessenen in mein Leben eingelassen hatte.

Ich las weiter.

Er erzählte mir von den Pioneers, zwei in den Siebzigerjahren von der NASA gestarteten Weltraumsonden. Sie hatten als Erste den Jupiter und den Saturn passiert. Und danach waren sie einfach weitergeflogen. Mittlerweile, über drei Jahrzehnte nach ihrem Start, waren sie weit über die Umlaufbahn des Pluto hinaus vorgedrungen – und nichts konnte sie aufhalten, wie es schien, bis sie in ein paar hunderttausend Jahren inmitten der Sterne treiben würden.

Doch irgendetwas bewirkte, dass sie langsamer wurden. Weitere ungewöhnliche Informationen, die er und seine Kumpels, die Slan(t)er, ausgegraben hatten.

 

»Die beiden Pioneers werden abgebremst. Nicht stark, nur um ein Zehnmilliardstel g, aber es ist eine Tatsache. Momentan ist die erste Pioneer-Sonde schon so weit vom Kurs abgekommen wie der Mond von der Erde entfernt ist. Und niemand weiß, woran das liegt.«

 

Möglicherweise war jedoch die dunkle Materie daran schuld.

 

»Vielleicht beginnen bei etwas so Isoliertem und Fragilem wie einer Pioneer-Sonde die Auswirkungen der dunklen Materie eine beherrschende Rolle zu spielen. Es ist interessant, darüber zu spekulieren, was passieren wird, wenn wir jemals versuchen, mit einem Raumschiff dorthin zu fliegen.«

 

Es könnte auch ein Treibstoffleck sein, dachte ich. Oder einfach Lack, der im Vakuum sublimierte. Seltsamerweise widerstrebte es mir, ihn zu entmutigen.

 

»Ich glaube allmählich, dass die dunkle Materie der Schlüssel zu allem ist…«

 

Ich drückte auf eine Taste, um die Datei zu speichern.

Die zweite bemerkenswerte Mail stammte von meiner Ex-Frau.

Linda hatte durch unsere gemeinsamen Freunde vom Tod meines Vaters erfahren und wollte mich sehen. Wir hatten uns immer regelmäßig getroffen. Vermutlich akzeptierten wir beide, dass wir nach zehn Jahren Ehe, die nun in der unwiderruflichen Vergangenheit begraben waren, zu viel gemeinsam hatten, um die Bande jemals vollständig zu durchtrennen. Wir wechselten ein paar Mails und vereinbarten, uns auf neutralem Boden zu treffen.

An nächsten Tag flog ich nach London zurück. Ich verließ Florida ohne Bedauern.

 

Es war meine Idee gewesen, mich mit Linda im Museum of London zu treffen. Allmählich faszinierten mich die Geschichten von dem römisch-britischen Mädchen, Regina, das unserer dubiosen Familiensage zufolge angeblich aus der zusammengebrochenen Provinz Britannien quer durch Europa bis zur verblassenden Glorie Roms gereist war. Irgendwie schien sie oder zumindest ihre Legende eine zentrale Rolle bei dem zu spielen, was meiner Familie widerfahren war. Und wenn irgendetwas davon stimmte, hatte ihr Weg sie vielleicht auch nach London geführt – nach Londinium, wie die Römer es nannten. Doch wie der größte Teil der Londoner Nomadenbevölkerung hatte ich, wiewohl ich einen großen Teil meines Arbeitslebens in der City verbracht hatte, der Geschichte der Stadt bisher keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Ich war noch nicht einmal im Tower gewesen, obwohl er nur eine Viertelstunde von den Büros entfernt lag, in denen ich einmal gearbeitet hatte. Jedenfalls war dies nun eine Chance, mein Versäumnis zumindest ansatzweise zu korrigieren.

Eine kurze Recherche im Internet ergab, dass die römische Stadt einst von einer Mauer umgeben gewesen war, die einen großen Teil der heutigen Londoner City – das Finanzzentrum – umfasst hatte, jedoch ohne das West End und alles östlich des Towers. Das Museum of London lag an einer Ecke der alten Mauer, oder vielmehr dort, wo sie früher einmal verlaufen war. Vielleicht würde ich hier ein paar Hinweise auf Regina finden.

Und zweitausend Jahre Geschichte würden Linda und mich hoffentlich für ein paar Stunden so weit ablenken, dass wir uns nicht stritten.

Wie sich herausstellte, befand sich das Museum gleich neben dem Barbican Centre, jener Betonwüste, die für Autos und nicht für Menschen konstruiert zu sein schien. Das Museum selbst lag auf einer Verkehrsinsel, die durch einen Graben tosenden Verkehrs abgeschnitten war. Es kam mir vor, als wäre ich zwei Kilometer gelaufen, ehe ich eine Treppe zu einem erhöhten Gehweg fand, der den Verkehrsstrom überquerte und in den Museumskomplex hineinführte. Ich war früh dran – ich bin immer eher zu früh als zu spät dran, im Gegensatz zu Linda –, und ich verbrachte die verbleibende Zeit damit, mir die mit Audiokommentar versehenen Ausstellungsobjekte und die maßstabsgetreuen Modelle des Museums anzuschauen, die Londiniums Aufstieg und Niedergang zeigten.

Nach Cäsars erstem Streifzug hatte Kaiser Claudius, ausgerüstet mit Kriegselefanten, die eigentliche Eroberung Britanniens begonnen. Sechzig Jahre nach dem Tod Jesu Christi war Londinium zu einer Stadt von solcher Größe herangewachsen, dass Boudicca es für wert befand, sie niederzubrennen. Aber im fünften Jahrhundert, nachdem Britannien sich vom Imperium losgelöst hatte, ging Londinium zugrunde. Erst vierhundert Jahre später, in der Zeit Alfreds des Großen, sollte das römische Gebiet wieder besetzt werden. Ich sah mir die kleinen Modelle und Karten an und versuchte herauszufinden, um welche Zeit Regina durch Londinium gekommen sein musste, falls sie überhaupt jemals hier gewesen war. Ich wusste nicht genug, um das feststellen zu können.

Ich kramte im Souvenirshop herum und kam mir dabei wie der einzige Erwachsene vor; die anderen Museumsbesucher waren ein paar skandinavische Touristinnen, alle mit langen Beinen, Rucksäcken und blonden Haaren, und ein Haufen Schulkinder von zwölf, dreizehn Jahren, die überall herumzuwimmeln schienen und an deren Benehmen das Geschrei und Gekläff ihrer Lehrer kaum etwas änderte. Schließlich fand ich einen schmalen Führer für den »Mauerspaziergang«, eine Tour entlang der ehemaligen römischen Mauer. Ich stellte mich in die Schlange an der Kasse, hinter eine Reihe von Schulkindern, die alle eine Süßigkeit, einen glitzernden Bleistiftspitzer oder ein »Arno Londinium«-Mousepad kauften. Ein alter Furz in einem Dufflecoat, übte ich mich zähneknirschend in Geduld und rief mir ins Gedächtnis, dass all dieser Schrott dazu beitrug, den freien Eintritt ins Museum zu sichern.

Linda fand mich in der Cafeteria. Sie kam von der Arbeit; sie war Büroleiterin in einer Anwaltskanzlei am Rand von Soho. Sie war ein bisschen kleiner als ich und hatte eine praktische Kurzhaarfrisur, ein bisschen ausgefranst, wo die Haare zu ergrauen begannen. Sie trug ein leicht zerknittertes blau-schwarzes Kostüm. Ihr Gesicht war klein, symmetrisch, mit hübschen Zügen, die von einer winzigen Nase betont wurden. Sie war immer auf eine sanfte, nett anzusehende Weise schön gewesen. Aber ich glaubte, mehr Linien und Schatten zu sehen, und sie wirkte ein bisschen gestresst; ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Gewöhnlich deckte sie sich immer bis zur letzten Minute mit Terminen ein, und das hatte sie zweifellos auch heute getan; sie hatte in ihrem Arbeitspensum Platz für mich schaffen müssen.

Ich spendierte ihr einen Kaffee und erklärte ihr, dass ich vorhatte, den Mauerspaziergang zu absolvieren.

»Mit diesen Schuhen?«

Sie trug schlicht aussehende schwarze Lederschuhe mit flachen Sohlen, Dinger, die ich immer »Matronenschuhe« nannte, wenn ich mich traute. »Die sind doch okay.«

»Nicht meine. Deine.« Ich trug ein Paar meiner alten Hush-Puppies-Slipper. »Wann, zum Teufel, wirst du dir mal Turnschuhe besorgen?«

»An dem Tag, an dem sie aus der Mode kommen.«

Sie grunzte. »Du warst schon immer pervers. Aber trotzdem – zwei Stunden Londoner Straßen an so einem schwülen Tag. Warum?… Ach so. Es geht mal wieder um Familienkram, stimmt’s?«

Sie hatte meiner Familie immer mit Skepsis gegenübergestanden, seit klar geworden war, dass meine Mutter nie wirklich mit ihr einverstanden gewesen war. »Zu unbedarft für deine ausgeprägte Persönlichkeit«, hatte Mum immer zu mir gesagt. Ich glaube, Linda war insgeheim froh gewesen, dass ich ein bestenfalls distanziertes Verhältnis zu meinen Eltern gehabt und nach dem Tod meiner Mutter noch größeren Abstand zu meinem Vater gewonnen hatte. Wir hatten trotzdem noch genug Auseinandersetzungen über Familienangelegenheiten geführt. Aber schließlich hatten wir uns über alles und jedes gestritten.

»Ja«, sagte ich. »Familienkram. Komm schon, Linda. Seien wir ausnahmsweise mal Touristen.«

»Wir können ja immer noch in den Pub gehen, wenn es nicht hinhaut«, meinte sie.

»Na klar.«

Sie stand auf, sammelte energisch ihre Habseligkeiten ein, warf einen kurzen Blick auf ihr Handy und ging vor mir zur Tür hinaus.

 

Die Londoner Mauer war ein großer Halbkreis, der bei Blackfriars von der Themse aus im Bogen nach Norden führte, dann an der Moorgate entlang nach Osten und wieder nach Süden zum Fluss beim Tower. Von der Mauer selbst hat nicht viel überdauert, doch selbst nach all dieser Zeit ist die Stadtanlage der Römer im Muster der Londoner Straßen noch präsent.

Der Rundgang folgte nicht dem ganzen Verlauf der Mauer, sondern nur dem Abschnitt, der östlich vom Museum am Barbican vorbeiführte, dann nördlich der City verlief und am Tower beim Fluss endete. Es sollte kleine, nummerierte Keramiktafeln geben, denen man folgen konnte, die ersten paar im Bereich des Museums selbst, das am Standort einer Römerfestung erbaut war. Tafel Nummer eins war am Tower und Nummer 21 in der Nähe des Museums, wir würden sie also in umgekehrter Richtung ablaufen müssen, was meinen Sinn für Ordnung störte und mir die erste spöttische Bemerkung des Tages von Linda eintrug.

Im Barbican, diesem dreidimensionalen Betonlabyrinth aus Straßen und erhöhten Gehwegen – »wie ein nach außen gestülptes Gefängnis«, um mit Linda zu sprechen –, waren die Tafeln schwer zu finden. Die erste klebte an der Wand eines modernen Bankgebäudes; hier hatte einmal ein spätrömisches Stadttor gestanden, das nun jedoch schon längst zerstört war. Als wir dorthin kamen, schwitzte Linda bereits. »Geht das jetzt den ganzen Nachmittag so weiter? Beschissene kleine Tafeln, auf denen man sehen kann, wo früher mal irgendwas war?«

»Was hast du denn erwartet? Gladiatoren?«

Die nächsten paar Tafeln führten uns um die alte römische Festung herum. In winzigen Gärtchen unterhalb des Straßenniveaus waren kleine Mauerabschnitte zu sehen. Ein großer Teil der Mauer war im Mittelalter überbaut und dann von den Archäologen entdeckt worden. Der Boden hatte sich im Lauf der Zeit immer weiter nach oben verschoben; wir gingen auf einer Jahrhunderte dicken Schuttschicht, ein Maß für die Tiefe der Zeit selbst.

Die Tafeln siebzehn bis fünfzehn trugen uns einige Diskussionen ein, denn sie waren in den Ruinen eines runden mittelalterlichen Turms verstreut, der in einem Garten im Schatten des Museums stand. Wir latschen über den grasbewachsenen Boden zum Wasser und zurück und versuchten dabei, aus den seltsamen kleinen Karten schlau zu werden, die uns angeblich zeigten, wie man von einer Tafel zur nächsten gelangte.

Tafel Nummer vierzehn befand sich auf einem Friedhof, der sich als eine kleine Oase des Friedens erwies, abseits des unablässigen Verkehrslärms. Wir setzen uns auf eine Bank mit Blick auf einen rechteckigen, mit Beton eingefassten Teich. Die Mauer mit ihren komplexen Schichten mittelalterlicher Überbauungen führte am gegenüberliegenden Ufer entlang und an den Überresten eines runden Festungsturms vorbei. Ich hatte zwei Flaschen Evian mitgebracht; eine davon reichte ich Linda. Was die Schuhe betraf, hatte Linda Recht gehabt. Mir taten jetzt schon die Füße weh.

»Weißt du, ich hatte mal so ein Spielzeug«, sagte ich. »Eine Burg. Sie war aus Plastik, mit einer Grundplatte, auf der man zylindrische Türme und Mauerstücke befestigen konnte, und einer Zugbrücke, auf der kleine Ritter ein und aus ritten.«

Sie blätterte den Führer durch. »Ich kann nicht glauben, dass du die Tafeln, die wir gefunden haben, tatsächlich abhakst. Du bist ja dermaßen pingelig.«

»Ach, hör schon auf, Linda«, blaffte ich zurück. »Wenn du abbrechen willst…«

»Nein, nein. Ich weiß ja, wie du dann wieder jammerst.« Das war der Code dafür, dass ihr die kleine Expedition irgendwie Spaß machte. »Na komm.«

Wir gingen weiter.

Während wir die Tafeln rückwärts abzählten, kamen wir an den Stätten verschwundener Stadttore vorbei und entdeckten weitere versunkene Gärten, die abseits der Straße lagen, wie Inseln der Vergangenheit. Doch als wir die Moorgate entlang gingen, waren die Tafeln weniger interessant; die Abstände zwischen ihnen waren größer, und sie waren an den Mauern von Bürogebäuden angebracht. Die Moorgate selbst war eine geschäftige Mischung von Läden und Büros, und wie immer fanden gerade umfangreiche Sanierungsmaßnahmen statt. Wir mussten uns auf provisorischen Gehsteigen Furcht einflößend nah am unablässigen Verkehr um blau gestrichene Sichtschutzwände herumzwängen, während einschüchternde Kräne über uns aufragten.

Eine der hübscheren Stätten war ein weiterer kleiner Gartenbereich in der Nähe des Eingangs zur All Hallows Church: Büroangestellte saßen mit abgelegten Jacketts herum und rauchten, und ihre Handys glitzerten neben ihnen im Gras wie zahme Insekten. Aber die Tafel – Nummer zehn – fehlte an ihrem Sockel, wahrscheinlich war sie schon vor langer Zeit mutwillig zerstört und nicht mehr ersetzt worden. Nummer neun war ebenfalls weg, und Nummer acht schien der Sanierung zum Opfer gefallen zu sein. Ich konnte nur frustrierend wenige Häkchen in mein Büchlein machen. Der Rundgang selbst war 1985 entwickelt worden, sodass die Zeit und die Entropie inzwischen schon ihre geduldige Arbeit begonnen hatten, sogar an den Tafeln.

Ich fragte: »Also, warum wolltest du mich sehen?«

Die Augen unter ihren Ray Bans verborgen, zuckte sie die Achseln. »Ich dachte einfach, ich sollte es tun. Jacks Tod… ich wollte sehen, ob du damit fertig wirst.«

»Das ist nett von dir.« Ich meinte es ernst. »Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Ich schätze, du bist gesund. Du hast immer noch diesen verdammten Dufflecoat, und dein Schließmuskel ist so fest zugekniffen wie eh und je.« Sie drehte sich zu mir. Ich konnte ihre Augen sehen, die sich in den Schatten ihrer Brille unruhig bewegten. »Was mir Sorgen macht, ist diese Suche nach deiner mythischen Schwester.«

»Wer hat dir davon erzählt?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Das findest du bestimmt auch pingelig.«

Während wir uns Aldgate näherten, gelangten wir in den Finanzbezirk der City, jenes Gebiet, in dem ich einen so großen Teil meines Arbeitslebens verbracht hatte. Zu dieser Tageszeit, am späten Nachmittag, wimmelte es auf den Bürgersteigen von größtenteils jungen und lebhaften Menschen; viele von ihnen drückten sich Handys ans Ohr oder verdeckten mit ihnen ihr Gesicht. Es war wirklich ein seltsames Gefühl, der Mauer, diesem mehrschichtigen Relikt der Vergangenheit, durch einen Stadtteil zu folgen, der so stark mit meiner eigenen Vorgeschichte verknüpft war.

»Also, was hast du vor?«, fragte sie mich. »Fliegst du nach Rom?«

Lou hatte das vorgeschlagen, aber ich war mir noch nicht sicher. »Ich weiß nicht. Ist vielleicht ganz schön viel Aufwand.«

»Für ein Projekt, das möglicherweise total durchgeknallt ist. Aber es ist vielleicht der einzige Weg, wie du die Sache aufklären kannst, wenn es dir Ernst damit ist.«

»Es ist mir Ernst. Glaube ich. Ich weiß es nicht.«

»Immer dasselbe mit dir. Du bist zwar ein sehr netter Kerl, George. Aber so verdammt unentschlossen. Wie ein Fähnchen im Wind.«

»Dann war es richtig, dass du mir den Laufpass gegeben hast«, sagte ich.

Wir gingen eine Weile schweigend weiter.

Tafel Nummer vier befand sich an der Rückseite eines Bürogebäudes – wir mussten so kühn sein, auf Privatgelände vorzudringen –, wo wir einen schräg gestellten Glasrahmen fanden, der wie ein niedriges Gewächshaus über einem Graben im Asphalt aufgebaut war. Ein Abschnitt der Mauer war freigelegt worden, sechs Meter tief unter dem Glas, durch das wir spähten. Den unteren Teil, das römische Stück, konnten wir nicht sehen, weil die Büroangestellten in ihrem Verlies dort unten Kisten und Aktenbündel daran aufgestapelt hatten.

Ich sprach es als Erster aus. »Okay, tut mir Leid. Aber ich weiß wirklich nicht so genau, ob ich im Augenblick Rat brauche. Mag schon sein, dass meine Familie ganz schön verkorkst war, aber ich kann die Vergangenheit nicht mehr ändern. Und jetzt ist sie weg – Gina ist ungefähr so weit geflohen wie sie konnte –, und ich habe nur noch…«

»Dieses lose Ende. Und du kannst der Versuchung nicht widerstehen, daran zu ziehen. Also, ich finde, du solltest hinfliegen. Sehen wir der Sache ins Auge. Der Tod eines Elternteils ist wohl so ziemlich der größte Verlust, den wir jemals erleiden werden. Ich finde, du solltest dir ein bisschen Zeit nehmen, um drüber hinwegzukommen. Und wenn diese Schwestergeschichte ein Vorwand dafür ist, okay. Flieg nach Rom. Hau ein paar Lire auf den Kopf.«

»Euro.«

»Was auch immer.«

»Ich war sicher, dass du versuchen würdest, mich davon abzuhalten.«

Sie seufzte. »Zuhören ist nur eine der Fähigkeiten, die du nie erworben, hast, George.« Sie berührte meine Hand; ihre Haut war warm und tröstlich. »Flieg hin. Wenn du irgendwas brauchst, ruf einfach an.«

»Danke.«

»Und jetzt lass uns diesen dämlichen Rundgang beenden.« Sie marschierte weiter.

 

Wir verließen den Bereich der City und gingen die Cooper’s Row entlang, unter den Eisenbahngleisen hindurch in das touristische Gebiet in der Nähe der Themse und des Towers. Wir durchquerten die Tower-Hill-Unterführung beim Eingang zur U-Bahn, sahen uns die Ruine eines robust wirkenden mittelalterlichen Tores an und gingen dann durch die U-Bahn dorthin zurück, wo in einem versunkenen Garten an der nordöstlichen Ecke der Unterführung die Statue eines Kaisers stand – und, ironischerweise, genau am Ende des Rundgangs der am besten erhaltene Mauerabschnitt, den wir an diesem ganzen Nachmittag gesehen hatten.

Wir setzten uns auf eine Bank und tranken unser Wasser.

»Noch ein Häkchen für dein kleines Buch«, sagte Linda nicht allzu unfreundlich.

»Jawohl.« Er war insgesamt zehn Meter hoch, der römische Teil selbst vielleicht drei Meter. Das römische Mauerwerk bestand aus ordentlichen Steinreihen mit roten Ziegeln dazwischen, die von meinem Elternhaus hätten stammen können. Die mittelalterliche Konstruktion darüber war viel gröber. »Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, das römische Zeug sei viktorianisch oder später«, erklärte ich. »Es ist, als wäre die ganze Mauer auf den Kopf gestellt worden.«

Linda sagte: »Hier ist die Zivilisation wirklich zusammengebrochen, nicht?«

»Kann man wohl sagen.«

»Ich frage mich, ob sie hierher gekommen ist. Diese Urgroßmutter von dir. Regina.«

»Und ich frage mich, ob sie wusste, dass alles verschwinden würde, als ob jemand eine kleine Atombombe auf die Stadt abgeworfen hätte.«

Die dritte Stimme ließ uns beide zusammenzucken. Ich drehte mich um und sah eine massige Gestalt mit leicht schlurfendem Gang, in einen Mantel gehüllt, der noch schwerer aussah als mein Dufflecoat. Linda wich vor ihr zurück, und ich spürte, wie sich die zaghafte Stimmung zwischen uns verflüchtigte.

»Peter. Was machst du denn hier?«

Peter McLachlan kam um die Bank herum und setzte sich neben mich. »Du hast erwähnt, dass du den Rundgang machen wolltest.« Das hatte ich, in einer E-Mail. »Ich dachte mir, dass du hier landen würdest. Ich habe gewartet.«

»Wie lange?«

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Nur rund drei Stunden.«

»Drei Stunden?«

Ich sah Lindas Miene. »Hör mal, George, es war nett, aber ich glaube…«

»Nein, warte. Tut mir Leid.« Ich stellte sie einander rasch vor. »Peter, warum wolltest du mich treffen?«

»Um dir zu danken. Und dir zu sagen, dass ich eine Weile weg sein werde. Ich fliege in die Staaten.«

»Besuchst du die Slan(t)er?« Linda lenkte erneut meine Aufmerksamkeit auf sich; ich schürzte die Lippen. Frag nicht.

»Ich verspüre das Bedürfnis, etwas nachzuholen. Die Batterien aufzuladen.«

»Womit?«

Er zuckte die Achseln. »Mit Energie. Mit Glauben. Deshalb möchte ich dir danken. Irgendwie hast du mich aus meinen eingefahrenen Gleisen geworfen. Diese rätselhafte Geschichte mit deiner Schwester. Schichten auf Schichten… Das und Kuiper, natürlich.« Er beugte sich vor und sah Linda um mich herum an. »Natürlich wissen Sie über die Kuiper-Anomalie Bescheid. Haben Sie die neuesten Entwicklungen verfolgt?« Er holte seinen Handheld hervor und tippte auf den winzigen Tasten herum. Websites blinkten über den juwelenartigen Bildschirm.

Linda zupfte mich am Ärmel. »Der Kerl hat nicht alle Tassen im Schrank«, flüsterte sie.

»Er ist ein alter Schulfreund. Er hat meinem Dad geholfen. Und…«

»Nun hör aber auf. Dein Dad ist unter der Erde. Er ist dir nach London gefolgt. Und all dieses unheimliche Zeug – was hat das mit dir und deiner Schwester zu tun?«

»Keine Ahnung.«

»Hör mal, George, ich habe meine Meinung geändert. Es ist, als ob die Menschen um dich herum Teile deiner Persönlichkeit wären. Deine Eltern waren der klettenartige, bedrückende, katholische Teil, und du musst weg von alledem, statt dich ihm hinzugeben. Und dieser Kerl, der ist wie dein…«

»Mein Schließmuskel.«

Dafür erntete ich ein unterdrücktes Lachen. »Geh wieder zur Arbeit, George. Oder streich dein Haus an. Lass die Erinnerungen ruhen. Und halt dich von diesem Typen fern, sonst endest du auch noch auf einer Parkbank und brabbelst irgendwelches Verschwörungszeugs vor dich hin.«

»Hier.« Peter hielt mir sein Handy vor die Nase; Daten und Diagramme flimmerten über das Display. »Der Kuiper-Gürtel ist ein Überbleibsel der Entstehung des Sonnensystems. Wir sehen ähnliche Gürtel um andere Sterne, zum Beispiel um die Wega. Die äußeren Planeten, wie Uranus und Neptun, sind durch Kollisionen von Objekten des Kuiper-Gürtels entstanden. Aber den besten Theorien zufolge hätten dort draußen viel mehr Objekte sein müssen – das Hundertfache der Masse, die wir jetzt sehen können, genug, um einen weiteren Neptun zu formen. Und wir wissen, dass ein solcher Schwarm sich rasch zu einem Planeten verdichten müsste.«

»Ich verstehe nicht. Peter, ich glaube…«

»Irgendwas hat den Kuiper-Gürtel gestört. Irgendwas hat diese Eiskugeln ungefähr zu der Zeit durcheinander gewirbelt, als der Pluto entstanden ist – und damit die Entstehung eines weiteren Neptuns verhindert. Seither sind die Kuiper-Objekte durch Kollisionen zerbrochen oder aus dem Gürtel herausgedriftet.«

»Wann fand diese Störung statt?«

»Das muss so um die Zeit gewesen sein, als die Planeten entstanden. Vielleicht vor viereinhalb Milliarden Jahren.« Er sah mich mit glänzenden Augen an. »Verstehst du? Schichten von Eingriffen. Die Anomalie, die Explosionen im galaktischen Kern, jetzt dieses Herumgepfusche bei der Entstehung des Sonnensystems. Das werden wir untersuchen.«

»Wir?«

»Die Slan(t)er, in den Staaten. Du hast doch meine E-Mails gelesen.«

»Ja…« Ich drehte mich um. Linda war fort. Ich stand auf und hielt Ausschau nach ihr, aber da die Stoßzeit nahte, ergossen sich bereits dichte Menschenmengen in die U-Bahn.

Peter war immer noch voll in Fahrt, er saß auf der Bank, redete wie aus einem inneren Zwang heraus und holte eine Seite mit Daten nach der anderen auf den Bildschirm. Er hockte vornübergebeugt da, in angespannter Haltung.

Wie ich so dastand, konnte ich entweder Linda nachlaufen oder bei Peter bleiben. Ich spürte, wie ich irgendwie eine Entscheidung traf, die vielleicht mein ganzes restliches Leben beeinflussen würde.

Ich setzte mich. »Zeig’s mir noch mal«, sagte ich.