7

 

 

Magnus saß im Schneidersitz da, über das kleine hölzerne Spielbrett gebeugt.

Er war ein Bär von einem Mann mit einem Kopf von der Größe eines Kürbisses, so kam es Regina vor, einem so großen Kopf, dass sein Helm oben auf der Schädeldecke zu sitzen schien. Allerdings war es eigentlich gar nicht sein Helm, sondern er hatte ihn von einem anderen Soldaten bekommen, ebenso wie sein Schwert und seinen Schild. Dagegen waren seine Rindslederstiefel, die wollene Tunika und der cucullus, der schwere Umhang mit Kapuze, alle im Dorf hinter dem Wall angefertigt worden und hatten rein gar nichts mit militärischen Kleidungsstücken gemein. In dem klobigen gebrauchten Helm war eine Beule, groß genug für ein Gänseei. Regina fragte sich manchmal, ob der mächtige Schlag, von dem diese Delle herrührte, der Grund für das »Ausscheiden« des ursprünglichen Besitzers gewesen war.

Trotz seiner massigen Gestalt war Magnus ein geduldiger Mann, weshalb Aetius damit einverstanden war, dass er Regina Gesellschaft leistete. Nach fünf Jahren am Wall glaubte sie, sich einigermaßen auszukennen, aber manche der raubeinigeren Soldaten, so hatte man ihr ziemlich deutlich erklärt, seien keine geeignete Gesellschaft für die zwölfjährige Enkelin des Präfekten.

Magnus war also ein guter Mann. Aber er war so langsam. Seine schinkengroße Hand hing kurz über dem Spielbrett, aber dann zog er sie wieder zurück.

»Ach, Magnus, nun mach schon«, flehte Regina. »Was ist daran so schwierig? Es ist nur ein Soldatenspiel, und wir haben doch gerade erst angefangen. Die Stellung ist einfach.«

»Wir haben nicht alle das Blut eines Präfekten in unseren Adern, junge Dame«, murmelte er lakonisch. Er setzte sich bequemer hin, den Speer an die Brust gedrückt, und fuhr mit seiner geduldigen Begutachtung des Spielbretts fort.

»Also, mir wird’s allmählich kalt am Rücken.« Sie sprang auf und marschierte auf dem schmalen, mit Steinplatten ausgelegten Kamm hinter der Brustwehr auf und ab.

Es war ein sonniger Herbsttag, und der Himmel im Norden Britanniens war von einem tiefen, satten Blau. Sie befanden sich im Beobachtungsstand eines Wachpostens auf der Mauer der Festung Brocolitia – genau genommen hatte Magnus jetzt sogar Wachdienst –, und Regina konnte in jeder Richtung bis zum fernsten Horizont schauen. Die wellige Moorlandschaft war schon im Hochsommer kahl und öde, und zu Herbstbeginn war sie es umso mehr. Nirgends war ein Lebenszeichen zu sehen, außer einer einzigen schwarzen Rauchfahne, die weit im Norden zum Himmel stieg, so weit entfernt, dass ihr Ausgangspunkt in dem Dunst verborgen lag, der selbst jetzt, so kurz vor Mittag, nicht weichen wollte.

Und wenn sie nach links oder rechts schaute, nach Osten und Westen, sah sie die Linie des Walls, die über einen natürlichen Kamm aus hartem, schwarzem Fels hinwegmarschierte.

Der Wall war ein Vorhang aus Ziegelsteinen und Gussgestein, überall mindestens fünf Mann hoch. An der Nordseite lief ein steilwandiger Graben entlang, gefüllt mit Abfall und Unkraut – und an manchen Stellen mit den Überbleibseln von Schlachten, zerbrochenen Schwertklingen, zerbeulten Schilden und zertrümmerten Rädern; hin und wieder schlichen sich die langhaarigen Leute aus dem Norden hinein, um Eisenstücke zu bergen. Im Süden, jenseits der parallel zum Wall verlaufenden Straße, erstreckte sich ein weiterer breiter Graben namens vallum. Das vallum hatte man hier und dort zugeschüttet, um leichter von den Festungen auf dem Wall zu der schmutzigen kleinen Siedlung aus Hütten und Rundhäusern zu gelangen, die im Laufe der Generationen im Süden entstanden war.

Es war ein faszinierender Gedanke, dass die gewaltige Linie des Walls quer über den Hals des Landes verlief. An klaren Tagen konnte man die Wachposten sehen, die bis zum Horizont auf ihm hin und her marschierten wie Ameisen auf einer Schnur. Während es auf der Nordseite nichts als Moor, Heide und Unrat gab, zog sich an der Südseite eine ganze Kette von Siedlungen entlang, die von den Soldaten und ihren Familien sowie denjenigen bewohnt wurden, die von ihnen lebten. Sie sei wie eine einzige Stadt, sagten einige der Soldaten, eine schmale Stadt von achtzig Meilen Länge, ein Gürtel der Trinkerei, der Hurerei, der Hahnenkämpfe, des Glücksspiels und anderer Laster, von denen Regina noch weniger wusste.

In der langen Zeit, die es den Wall nun schon gab, hatte sich jedoch vieles verändert, wie sie aus Aetius’ hartnäckigen Vorträgen wusste. Die Bedrohung, der sich der Wall gegenübersah, war gewachsen. Im Vergleich zu den verstreuten, verfeindeten Stämmen, mit denen Hadrian, der Erbauer des Walls, konfrontiert gewesen war, stellten die heutigen Barbarenvölker, wie die Pikten im Norden des Walls, einen weit ernster zu nehmenden Gegner dar.

Früher einmal, sagte Aetius, sei das Heer des Imperiums dem Gehäuse einer Schnecke vergleichbar gewesen: Wenn man es durchbrach, war man sofort im weichen, schutzlosen Kern der besiedelten Provinzen. Nach den katastrophalen Barbareneinfällen der jüngsten Zeit hatte man daraus Lehren gezogen, und so war der Wall trotz seiner imposanten Präsenz heute nur ein Element eines tief gestaffelten Verteidigungssystems. Weit hinter der Linie des Walls, im Penninischen Gebirge und noch südlicher, gab es Festungen, von denen aus man jeden Barbareneinfall abwehren konnte. Und nördlich des Walls lagen weitere Festungen, auch wenn nur wenige davon gegenwärtig bemannt waren. Wirkungsvoller waren die arcani, die unter den Stämmen des Nordens arbeiteten, Spione, die Zwietracht und Gerüchte säten und Informationen über mögliche Bedrohungen beschafften.

Regina hatte den Wall mit der Zeit ins Herz geschlossen. Natürlich sah man ihm sein Alter an. Ein großer Teil dieser alten Befestigungsanlage war zerstört oder verlassen worden, denn heutzutage waren hier viel kleinere Einheiten stationiert. Und die Zeit hatte zwangsläufig verheerende Schäden an der gewaltigen Konstruktion angerichtet. Die Reparaturen waren zum Teil deutlich primitiver als die hervorragende Arbeit früherer Generationen – hier und dort war das alte Mauerwerk sogar mit Grassoden und Schutt geflickt worden. Aber bisher hatte man die Barbaren noch jedes Mal zurückgeschlagen, den Wall wieder besetzt und die durch Freund oder Feind verursachten Schäden behoben, und so würde es immer sein. Umschlossen von seinen massiven Steinen, hatte Regina sich in den fünf Jahren, seit Aetius sie hierher gebracht hatte, in zunehmendem Maße sicher gefühlt, geschützt von dem Wall und der Macht und Beständigkeit, die er repräsentierte.

Nichtsdestotrotz machte sie sich manchmal große Sorgen, was die Zukunft betraf. Vor allem seien jetzt weitaus weniger Soldaten in Britannien als früher, klagte Aetius: vielleicht zehntausend gegenüber fünfzigtausend vor dem katastrophalen imperialen Abenteuer des Constantius, der Britannien seines Heeres beraubt hatte. Vor zwei Tagen war nachts ein heller roter Lichtschein am Osthimmel zu sehen gewesen, und am Morgen war eine gewaltige Rauchwolke aus der Richtung der nächsten Festung im Osten, Cilurnium, gekommen. Man hatte Soldaten hingeschickt, die herausfinden sollten, was geschehen war, aber sie waren noch nicht zurück – und wenn doch, dann sagte Aetius es ihr nicht. Nun, sie konnte nichts dagegen tun.

Regina fröstelte und rieb sich die Arme, um sich aufzuwärmen. Der Wall mochte ein sicherer Ort sein, aber es war ungemütlich hier. Die Steinmassen hielten den ganzen Tag lang die Kälte. Nach fünf Jahren hatte Regina sich jedoch an das frische Klima gewöhnt und brauchte nicht mehr als ihre dicke Wolltunika, um sich warm zu halten. Und sie hatte gelernt, sich niemals über die Härten des hiesigen Lebens zu beklagen, das im Vergleich zum Leben in der Villa, an das sie sich noch immer lebhaft erinnerte, so bescheiden war. Sie wollte nicht noch einmal als verwöhnt bezeichnet werden, obwohl sie wusste, dass sie als Enkelin des Präfekten besondere Privilegien genoss.

»Ah«, sagte Magnus.

Sie kam zu ihm zurück. »Sag bloß, du hast endlich gezogen, großer General.«

»Nein. Aber dein Großvater ist herausgekommen.« Er zeigte hin.

Auf der Südseite des Walls hatte Aetius seine Kohorte aus der Festung geführt und ließ sie nun gerade Aufstellung nehmen. Aetius stand hoch aufgerichtet da, ein Beispiel für seine Soldaten. Regina wusste jedoch, wie viel Mühe ihn das kostete, denn mit seinen fünfundsechzig Jahren wurde er von einer schmerzhaften Arthritis geplagt.

Die Helme und Schilde der Soldaten glänzten in der Sonne, und die meisten von ihnen trugen die kalten und ausdruckslosen, bronzenen Parademasken, die ihr anfangs solche Angst eingejagt hatten. Ihre Reihen waren jedoch unordentlich und sehr lückenhaft, und Aetius fuchtelte verärgert mit den Armen und rief die Namen der Fehlenden: »Marinus! Paternus! Andoc! Mavilodo!…«

Regina wusste, wie wütend ihn ein solcher Mangel an Disziplin und Professionalität machte. Aetius hatte früher in den comitatenses-Truppen gedient, einer äußerst mobilen, gut ausgerüsteten Streitmacht. Nun war er auf einmal Präfekt einer Kohorte der Umitanei, des stehenden Grenzheeres, und alles war ganz anders. Diese Grenztruppen waren seit Generationen hier stationiert. Gegenwärtig wurden die meisten Soldaten sogar aus der einheimischen Bevölkerung rekrutiert. Aetius zufolge waren die limitanei-Truppen durch und durch träge geworden. Er schimpfte über den Verfall der Sitten, über ihre Gewohnheit, Schauspieler, Akrobaten und Huren in die Festung zu bringen, und über ihre Neigung, während des Wachdienstes zu trinken und sogar zu schlafen.

All das gab – gelinde gesagt – Anlass zur Sorge. Ohne vernünftige comitatenses im Land waren diese schlampigen Truppen das Einzige, was zwischen dem zivilisierten Britannien und den Barbaren stand. Und es war Aetius’ Aufgabe, sie zusammenzuhalten.

Aetius schaute auf eine Tontafel und rief einen Namen. Ein unglücklicher Soldat trat vor, ein stämmiger, harmlos wirkender Mann, der nicht so aussah, als könnte er tausend Schritte laufen, geschweige denn eine Barbarenhorde abwehren.

»Ich habe den Wein nur getrunken, um den Andorn hinunterzuspülen, mit dem ich meinen Husten loswerden wollte, Präfekt.«

»Behandeln wir dich nicht gut? Genießt du keine medizinische Betreuung, wie sie nicht einmal die Bürger Londiniums bekommen könnten? Und entlohnst du es uns auf diese Weise, indem du deine Pflichten vernachlässigst?«

Regina wusste, dass Aetius’ Schelte für die Missetäter schwerer zu ertragen war als die Peitschenhiebe, die folgen würden. Doch nun hob der dicke Soldat den Arm und schüttelte ihn, sodass sein bronzener Geldbeutel klapperte. »Und entlohnt der Kaiser es mir auf diese Weise? Wann bist du das letzte Mal bezahlt worden, Präfekt?«

Aetius richtete sich auf. »Ihr werdet in Naturalien bezahlt. Der gegenwärtige Mangel an Münzen…«

»Ich muss mir trotzdem meine Kleider und meine Waffen kaufen und den alten Narren Percennius bestechen, damit er einen anderen für den Latrinendienst einteilt.« Dafür erntete er Gelächter. »Und das alles für das Privileg, darauf warten zu dürfen, dass ich den Holzspeer eines Pikten in den Arsch kriege. Was meinst du wohl, warum Paternus und die anderen weggelaufen sind?«

Regina machte große Augen; eine solche Aufsässigkeit hatte sie noch nie erlebt. Sie fühlte sich unangenehm an die Auflehnung jenes Bauern gegen ihren Vater erinnert.

Aber Aetius war nicht Marcus.

Er trat einen einzigen Schritt vor und schlug dem Mann mit seiner behandschuhten Hand an die Schläfe. Knochen prallte scheppernd auf Metall, und der Mann fiel seitwärts in den Schmutz. Grunzend rollte er sich auf den Rücken – und Regina sah, dass er die Hand tatsächlich an das Heft des Kurzschwerts an seiner Taille legte. Aber Aetius stand mit geballten Fäusten über ihm, bis er die Hand sinken ließ und den Blick abwandte.

Die anderen Soldaten gaben nicht den leisesten Mucks von sich.

Aetius zeigte auf zwei von ihnen. »Du und du. Ergreift ihn. Hundert Hiebe fürs Trinken auf Wache, hundert weitere für das, was er heute zu sagen hatte.«

Die Männer rührten sich nicht. Selbst aus dieser Entfernung spürte Regina die Spannung. Wenn sie jetzt Aetius’ Befehl verweigerten… Sie spürte eine Aufwallung von Hitze in ihrem Bauch und fragte sich, ob das Angst war.

Die beiden Soldaten ließen sich ihre Widerwilligkeit auf geradezu unverschämte Weise anmerken, als sie zu ihrem gestürzten Kameraden gingen. Aber sie bewegten sich. Aetius trat zurück, damit der Mann aufstehen konnte. Sie drehten ihm die Arme auf den Rücken und führten ihn zum Schandpfahl. Die Spannung löste sich allmählich. Aber Regina fühlte noch immer diese seltsame Wärme im Bauch.

Einer der Soldaten blickte hoch und zeigte auf sie. »Seht mal! Septimius – schau dir das an! Der rote Regen hat begonnen…« Die anderen Soldaten schauten zu Regina hinauf, zeigten auf sie und lachten. Aetius beschimpfte sie, aber nun war es mit ihrer Disziplin vorbei.

Sie merkte, wie ihr die Hitze in den Wangen brannte. Sie hatte keine Ahnung, was sie getan hatte.

Magnus war neben ihr. Er legte den Arm um sie und zog sie weg. »Komm. Leg meinen Umhang um. Ist schon in Ordnung.«

»Ich verstehe nicht«, sagte sie. Dann spürte sie Wärme an ihren Beinen. Sie senkte den Blick und sah Blut unter ihrer Tunika hervortropfen. Entsetzt schaute sie auf. »Magnus! Was ist los mit mir? Sterbe ich?«

Trotz seiner Kraft wirkte er so unsicher und schwach wie ein Kind; er konnte ihr nicht in die Augen schauen. »Frauenangelegenheiten«, stieß er hervor.

Jetzt begannen die Soldaten zu pfeifen. »All diese Jahre habe ich darauf gewartet, dass du endlich erblühst, kleine Blume!« -»Komm, setz dich auf mich, deinen alten Freund Septimius!« -»Nein, auf mich! Zuerst auf mich!« Einer von ihnen hatte seine Tunika gehoben und seinen Penis hervorgeholt und schüttelte ihn ihr nun wie ein schlaffes Stück Seil entgegen.

Regina nahm Magnus’ schweren, muffig riechenden wollenen Umhang und hüllte sich ein. Dann kletterte sie die Leiter zum Erdboden hinunter und lief über das vallum zur Siedlung, wobei sie ihr Gesicht verbarg.

Auch wenn Aetius noch so sehr schimpfte und wetterte, der verwirrende, erschreckende Wortschwall der Soldaten nahm kein Ende.

 

In ihren fünf gemeinsamen Jahren am Wall hatte Aetius Regina des Öfteren etwas von der Welt fernab des Walls erzählt. »Es gab verdammt viele Probleme. Alles fing in der Nacht an, als der Rhein zufror und die Barbaren einfach zu Fuß nach Gallien eindrangen. Aber was Britannien betrifft, so war es dieser elende Wicht Constantius, der den Sargdeckel zugenagelt hat…«

Aetius zufolge griffen die Probleme schließlich auf das gesamte Imperium über. Solange es sich ausgedehnt hatte, war durch Beute und Besteuerung immer neuer Reichtum geschaffen worden. Diese Zeiten waren jedoch längst vorbei. Und wegen der neuen, besser ausgerüsteten und stärkeren feindlichen Barbaren stieg gleichzeitig mit dem wirtschaftlichen Druck auch der Druck auf die Grenzen, und man brauchte mehr Mittel für die Verteidigung des Reiches. Seit einer Generation gab es in allen westlichen Provinzen Probleme und mangelnde Stabilität. Manchmal sprach Aetius wehmütig von dem großen Stilicho, dem Heermeister in den westlichen Provinzen, der Britannien geschützt hatte. Aetius schien Stilicho zu verehren, obwohl dieser, wie sich herausstellte, ein Barbar war, ein geborener Vandale. Barbar hin oder her, unter dem unfähigen Kaiser Honorius war er der wahre Herrscher im Westen gewesen. Aber selbst die größten Generäle werden schwach – und schaffen sich Todfeinde bei Hofe.

Und in Britannien waren die Probleme seit Constantius’ Abenteuer besonders akut.

Nachdem Constantius’ Untertanen seine Beamten, Steuereintreiber und Inspektoren hinausgeworfen hatten, war der Kreislauf von Besteuerung und Staatsausgaben zum Erliegen gekommen. Nicht nur das, es gab auch keine Münzanstalt in Britannien, und nach der Vertreibung der Geldleute fehlte die Möglichkeit, Münzen aus dem übrigen Imperium einzuführen. Auf einmal hatte man nicht einmal mehr Münzgeld, das man in Umlauf bringen konnte.

Jedermann hortete, was er noch besaß, und die Menschen kehrten wieder zum Tauschhandel zurück. Doch die Wirtschaft verfiel rapide, nachdem man ihr den Lebenssaft des Münzgelds abgedreht hatte.

»Für den Sold der Soldaten ist einfach kein Geld da. Weißt du, ich habe gehört, dass sie – bevor ich hier stationiert wurde – sogar eine Abordnung übers Meer geschickt haben, um den ausstehenden Sold einzufordern. Die Gesandten sind nie zurückgekommen.«

»Sie haben sich bestimmt woanders niedergelassen.«

»Oder die Barbaren haben ihnen die Kehle durchgeschnitten. Wir werden es nie erfahren, nicht wahr? Die Menschen in den Städten haben sogar dem Kaiser persönlich geschrieben und ihn um Hilfe gebeten. Das ist erst ein paar Jahre her. Aber da war Rom angeblich selbst schon von den Barbaren geplündert worden. Honorius’ Antwort lautete, die Britannier müssten sich von nun an selbst verteidigen, so gut sie könnten…«

Aetius machte sich Sorgen um Reginas Zukunft. Deshalb hielt er ihr Vorträge über Politik, Geschichte und Kriege. Es war ihm wichtig, sie für die Herausforderungen des Lebens zu wappnen.

Und er machte sich offensichtlich auch Sorgen um seine eigene Zukunft. Wenn man zwanzig Jahre Militärdienst abgeleistet hatte, konnte man in die Ränge der honestiores aufsteigen, der Spitzen der Gesellschaft. Eine Karriere als Soldat bot einem einfachen Mann die Möglichkeit, sich in einem hübschen Haus in der Stadt oder sogar in einer Villa zur Ruhe zu setzen. Aber es schien keinen Nachfolger für Aetius’ Posten hier am Wall zu geben, und er hatte keinen Kontakt zum zentralen Oberkommando der Diözese. Wenn er abtrat, würde die Truppe auseinander fallen, das wusste er. Und außerdem hatte er keinen Platz, wo er sich zur Ruhe setzen konnte. Er musste weitermachen.

»Weißt du«, pflegte er zu sagen, »dieser Unsinn in Gallien muss aufhören. Rom ist schon wieder auf den Beinen, und wenn der Kaiser die Gelegenheit dazu bekommt, wird er seiner Autorität hier von neuem Geltung verschaffen.«

»Und dann kehrt wieder Normalität ein.«

»Britannien ist dem Kaiser schon früher verloren gegangen – o ja, sehr oft –, und es ist jedes Mal zurückerobert worden. So wird es auch diesmal sein, da bin ich mir sicher.« Und wenn das schließlich geschehen würde, wenn die Steuereintreiber zurückkehrten und die Münzen wieder in Umlauf kämen – wenn die Soldaten anständig bezahlt und ausgerüstet würden und er einen sicheren Altersruhesitz fände –, konnte Aetius es sich erlauben, seine militärische Laufbahn zu beenden.

Wie sich jedoch herausstellte, sollte für ihn alles schon viel früher enden. Und geschweige denn, dass wieder Normalität einkehrte, stand Regina eine weitere einschneidende Veränderung bevor.

 

Nach ihrem demütigenden Erlebnis mit den Soldaten flüchtete sich Regina zu Cartumandua.

Carta kochte gerade eine in Stroh eingepackte Schweinelende. Sie hatte einen großen Eisenkessel an einem Dreibein aufgehängt und lud mit einer Zange glühend heiße Steine von der Feuerstelle hinein; sie zischten, wenn sie mit dem Wasser in Berührung kamen. Ihr Haus war ein Holzschuppen im rechteckigen römischen Stil. Die »Küche« war nicht mehr als ein Raum um eine Feuerstelle in einer mit Steinen umsäumten Grube; man hockte drum herum auf dem Boden.

Als Regina schluchzend hereingestürmt kam, ließ Carta die Zange fallen und lief zu ihr.

»Carta, o Carta, es war schrecklich!«

Carta drückte Reginas Gesicht an ihren nicht besonders sauberen Wollkittel und ließ sie weinen. »Schsch, meine Kleine.« Sie strich Regina über die Haare, so wie früher, als Regina ein verhätscheltes Villenkind und Cartumandua ein kleines Sklavenmädchen gewesen war.

Carta selbst war erst zwanzig. Aetius hatte ihr schon längst die Freiheit geschenkt und ihr erlaubt, in dieser kleinen Gemeinde am Fuß des Walls ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, aber Carta hatte in ihrem Leben immer noch Platz für Regina.

Als Regina sich so weit beruhigt hatte, dass sie ihr das Blut zeigen konnte, schnalzte Carta missbilligend. »Und niemand hat dich darüber aufgeklärt? Dieser alte Dummkopf Aetius sicher nicht, da wette ich.«

Regina schaute in neuem Entsetzen auf das getrocknete Blut. »Carta – ich habe Angst, dass ich sterbe. Das ist bestimmt etwas ganz Schlimmes.«

»Nein, das ist nichts Schlimmes – du bist einfach nur zwölf Jahre alt.« Und Carta erklärte ihr geduldig, was mit ihrem Körper passiert war, half ihr, sich zu säubern, und zeigte ihr, wie man sich aus einem mit Schnüren umwickelten Lendenschurz eine Binde machte.

Unterdessen kam Severus mit einem Bündel Feuerholz herein. Er war Soldat, ein massiger Mann mit schmutzigen Bartstoppeln. Er sah Regina finster an. Sie hatte ihn nie richtigen Militärdienst leisten sehen. Er arbeitete immer nur irgendwo in dem kleinen Dorf, schleppte Nahrungsmittel, reparierte Häuser und arbeitete sogar auf den Feldern, wo Hafer angebaut und Vieh gefüttert wurde. Im Schatten des Walls hatten sich die Grenzen zwischen den Soldaten und der restlichen Bevölkerung weitgehend verwischt, besonders seit die Eheschließung zwischen Einheimischen und Soldaten legalisiert worden war.

Regina mochte Severus nicht. Sie hatte immer gehofft, Carta würde sich mit Macco zusammentun, dem gleichmütigen, schweigsamen Sklaven, der sie von der Villa hierher begleitet hatte. Macco hatte sich jedoch eines Nachts davongeschlichen, offenbar um seine Freiheit in dem Land zu suchen, in dem die Gesetze des Kaisers nicht galten. Was Severus betraf, so schien er irgendwie eifersüchtig auf Reginas viel ältere Beziehung zu Carta zu sein. Regina wusste nicht einmal genau, was für eine Beziehung Severus und Carta eigentlich hatten. Sie waren jedenfalls nicht verheiratet. Regina glaubte, dass er ihr als Gegenleistung für ihre Gesellschaft ein gewisses Maß an Schutz gewährte – kein ungewöhnliches Arrangement.

Carta hatte allerdings das Heft in der Hand. Jetzt wartete sie nur, bis er das Holz hinwarf und wieder hinausging.

Dann machte sie ihnen beiden Brennnesseltee, und sie setzten sich auf Matten, die auf dem Boden lagen. Regina schilderte ihr, wie die Soldaten sie verspottet hatten – jetzt, wo sie nicht mehr befürchtete, sterben zu müssen, schien ihr dies das Schlimmste von allem zu sein –, und Carta tröstete sie, erklärte ihr aber, an solche Aufmerksamkeit müsse sie sich gewöhnen. Regina beruhigte sich allmählich.

Sie ließ den Blick über die rauchfleckigen Wände schweifen. Die Hütte bestand aus einer Holzkonstruktion, deren Lücken man mit Lehm und Stroh ausgestopft hatte.

»Woran denkst du gerade?«, fragte Carta.

Regina lächelte. »An die Küche meiner Mutter. Sie war so anders. Ich glaube, ich erinnere mich an einen großen Ofen mit Kuppeldach.«

Carta nickte. »Das stimmt. Man konnte Holzkohle hineintun und ihn verschließen. Und man konnte erstklassiges Brot darin backen – diese wundervolle trockene Hitze. Außerdem gab es auch noch einen erhöht angebrachten Herd.«

»Ich konnte nie drüber wegschauen. Ich möchte wissen, ob er noch da ist.«

»Ja«, sagte Carta fest. »Ganz bestimmt. Du weißt doch, dass dein Großvater die Villa einem Verwalter anvertraut hat.«

»Ach, in diesen Zeiten weiß man nie so genau«, erwiderte Regina.

Carta kicherte mädchenhaft. »O je. Du hörst dich an wie eine alte Frau! Du kannst dich darauf verlassen, dass dein Großvater sich um den Familienbesitz kümmert. Er ist ein guter Mann, und die Familie bedeutet ihm alles. Du bedeutest ihm alles… Macht er sich keine Sorgen um dich? Vielleicht sollte ich ihm eine Nachricht schicken.«

Regina zuckte die Achseln. »Soll er sich doch Sorgen machen. Er hätte mir von der Blutung erzählen sollen.«

Carta schnaubte. »Ich glaube, da würde er lieber tausend blaugesichtigen Pikten gegenübertreten.«

»Jedenfalls hat er gesehen, wohin ich gelaufen bin. Wenn er sich Sorgen macht, wird er mich schon holen kommen.«

Carta nippte an ihrem Tee. »Er kommt nicht oft hierher, in den Schatten des Walls.«

»Warum nicht?«

»Er gehört nicht hierher. Schon allein, weil er älter ist als alle anderen.«

»Was? Das kann nicht stimmen.«

»Überleg mal«, sagte Carta und musterte sie. »Du kennst doch eine Menge Leute hier. Du bist hier beliebt, so wie überall! Wie viele Männer über vierzig kennst du? Wie viele Frauen über fünfunddreißig?«

Keine, dachte Regina schockiert – obwohl sie sicher war, dass es im Freundeskreis ihrer Eltern zahlreiche noch viel ältere Leute mit Runzeln und weißen Haaren gegeben hatte, den Merkmalen des Alters.

»Woran liegt das?«

Carta lachte. »Daran, dass wir nicht in Villen leben. Dass wir keine Diener und Sklaven haben, die uns die Zähne putzen. Wir müssen hart arbeiten, und zwar von früh bis spät. So ist das nun mal, meine kleine Regina. Nur die Reichen werden alt.«

Regina runzelte die Stirn. Sie mochte es selbst jetzt noch nicht, wenn eine Sklavin – und sei es eine ehemalige Sklavin, ja sogar Carta – so mit ihr redete. »Wir brauchen uns nicht für das Leben zu schämen, das wir geführt haben«, erwiderte sie hitzig. »Unsere Familie war zivilisiert, nach Art der Römer.«

Zu ihrer Überraschung sah Cartumandua sie kalt an. »›Allmählich gab man sich dem verweichlichenden Einfluss des Lasters hin: Säulenhallen, Bädern und erlesenen Gelagen‹«, zitierte sie. »›Und so etwas hieß bei den Ahnungslosen Lebenskultur, während es doch nur ein Bestandteil der Knechtschaft war.‹«

»Von wem stammt das?«

»Von Tacitus. Du bist nicht die Einzige, die lesen lernt, Regina.« Sie stand auf, ging zu ihrem Kessel und prüfte mit einem langen Eisenspieß ihre Schweinelende.

 

Es war Abend, ein paar Tage nach Reginas demütigendem Erlebnis auf dem Wall. In stockendem Latein las sie bei Kerzenschein aus den Texten des Historikers Tacitus vor. »›Im Laufe von achthundert Jahren haben Glück und Manneszucht dieses Staatengefüge errichtet, das nicht zerstört werden kann ohne Verderben der Zerstörer…‹« Nach Cartas sanftem Tadel hatte sie um Tacitus gebeten. Die Rede, die Tacitus hier wiedergab, hatte Petillius Cerialis angeblich vor dreihundert Jahren rebellierenden Stämmen in Gallien gehalten, kurz bevor er Statthalter in Britannien geworden war.

Sie befand sich in Aetius’ Haus, das aufgereiht neben anderen in dieser kleinen Gemeinde im Windschatten des Walls stand. Es war eigentlich nur eine bescheidene vierzimmerige Hütte aus Flechtwerk und Lehm im rechtwinkligen römischen Grundriss, hatte aber einen Fliesenboden und eine große Feuerstelle und war behaglich und warm. Es war gebaut worden, als die seit vielen Jahren hier stationierten Soldaten endlich heiraten und Familien gründen durften. Hierher hatte Aetius während einer früheren turnusmäßigen Dienstzeit bei den Grenztruppen seine Braut Brica gebracht, und hier war Julia, Reginas Mutter, zur Welt gekommen.

Zentrum des Hauses war das lararium, der Familienschrein, den Aetius und Regina nach ihrer Flucht aus der Villa gemeinsam gebaut hatten. Die drei grob gearbeiteten matres in ihren Kapuzenumhängen standen inmitten eines kleinen Gabenkreises aus Wein und Nahrungsmitteln. Da dies jedoch ein Soldatenschrein war, enthielt er auch Andenken an solch abstrakte Gebilde wie Roma, Victoria und Disciplina sowie eine Münze mit dem Kopf von Honorius, dem letzten Kaiser, von dem die Menschen hier gehört hatten.

In diesem Haus hatte Regina auf Aetius’ beharrliches Drängen hin ihre Ausbildung fortgesetzt. Er erwartete, dass sie Latein ebenso fließend sprechen lernte wie ihre Muttersprache – und den Unterschied kannte; Aetius verabscheute das »Kuddelmuddel«, wie er es nannte, jenen Jargon aus mit lateinischen Brocken gewürztem Britannisch, der bei den gewöhnlichen Menschen der Gemeinschaft hinter der Mauer so hoch im Kurs stand. Er ließ sie Tacitus und Caesar lesen, Historiker, Kaiser und Dramatiker aus seinem Fundus uralter, brüchiger Papyrusrollen. Sie lernte, mit Griffeln auf gewachste Holztafeln zu schreiben, aber auch mit Tinte aus Ruß und einem Metallstift. Später, versprach er, würde er sie in der Redekunst ausbilden. Er glaubte jedoch an die Verbindung der besten britannischen und römischen Traditionen und ließ sie auch lange Sagen über Helden und Ungeheuer im alten britannischen Stil auswendig lernen.

»›Daher liebt und ehrt den Frieden und die Stadt, an der wir, Besiegte und Sieger, gleichen Rechtsanteil haben. Mahnen mögen euch Beispiele für die zwei Formen der Schicksalsmacht, damit ihr nicht Trotz, verbunden mit Untergang, dem Gehorsam, verbunden mit Sicherheit, vorzieht…‹«

Draußen gab es einige Unruhe. Geschrei, das wie Gesang klang. Zweifellos betranken sich die Soldaten wieder einmal. Aber Aetius reagierte nicht, und Regina wusste, dass sie bei ihm in Sicherheit war.

Aetius saß in seinem Lieblingskorbsessel und trank Bier. »Ja, ja… gleichen Rechtsanteil. Das Gesetz steht über uns allen – den Grundbesitzern, den Senatoren, sogar über dem Kaiser selbst, wer immer das gerade sein mag. Das ist das Eigentümliche an dem alten System, verstehst du. Es spielt keine Rolle, wer an der Spitze steht. Das System selbst hat sich so weit ausgebreitet und sich erhalten, obwohl wir Soldaten, Verwalter und sogar Kaiser aus den Reihen derjenigen gewählt haben, die man früher einmal als Barbaren bezeichnet hätte. Das System bleibt bestehen, während wir kommen und gehen.«

Sie stand mit dem brüchigen Papyrus in der Hand da und sagte: »Wie ein Ameisenhaufen. Das Imperium ist wie ein Ameisenhaufen, und wir sind alle bloß umherkrabbelnde Ameisen.«

Er knallte seinen hölzernen Krug auf die Armlehne seines Sessels. »Ameisen? Ameisen? Wovon redest du, Mädchen?«

»Nun ja, ein Ameisenhaufen organisiert sich selbst, ohne dass ihm jemand sagt, was er tun soll. Und wenn eine Ameise stirbt, nimmt eine andere ihren Platz ein – das gilt sogar für die Königin. Das sagen die Griechen, und die haben solche Dinge studiert. Ist es bei deinem Imperium nicht genauso?«

»Rom ist doch kein Ameisenhaufen, du törichtes Kind!«

So diskutierten sie weiter, wobei sie beide um ihre jeweilige Rolle wussten und sie mit viel Spaß an der Freude ausfüllten; sie provozierte ihn spitzbübisch, er fuhr hoch und geriet ins Stottern…

Die Tür flog krachend auf.

Im Eingang, umrahmt von Dunkelheit, stand ein Soldat. Er taumelte sichtlich betrunken in den Raum. Als er Regina sah, grinste er.

Aetius schien genauso schockiert zu sein wie Regina. Aber er stand auf und trat einen Schritt vor. »Septimius«, sagte er mit einer Stimme wie Donnergrollen. »Du bist betrunken. Und du solltest auf Wache sein.«

Septimius lachte nur, ein einzelnes Bellen. »Niemand ist auf Wache, du alter Narr. Was macht das schon? Ich bin nicht bezahlt worden. Du bist nicht bezahlt worden. Niemand kümmert es mehr.« Er trat einen schwankenden Schritt näher, ohne den Blick von Regina zu wenden. Sie roch den Schnaps in seinem Atem und erinnerte sich an ihn: Er war der Soldat, der sich vor ihr entblößt hatte, als sie auf dem Wall geblutet hatte.

Sie wich zurück, stieß jedoch an den Tisch und konnte in den beengten Räumlichkeiten des kleinen Landhauses nicht weiter ausweichen.

Aetius trat einen gemessenen Schritt vor. »Verschwinde von hier, Septimius. Du machst alles nur noch schlimmer für dich.«

»Ich glaube nicht, dass ich mich noch einmal von dir auspeitschen lasse, alter Mann.« Er drehte sich zu Regina um. »Du weißt, was ich will, stimmt’s, kleine Frau? Du bist reif, gepflückt zu werden.« Er griff nach ihr. Regina zuckte zurück, aber Septimius packte ihre kleine Brust und drückte sie fest.

Aetius warf sich mit der Schulter in ihn hinein. Septimius krachte gegen eine Wand, und das ganze Haus erbebte unter dem Aufprall. Aetius richtete sich taumelnd auf. »Lass die Finger von ihr, du Stück Dreck…« Er ließ seine Faust vorschnellen; sie war so groß, dass sie wie ein Felsbrocken aussah.

Aber so betrunken Septimius auch war, er tauchte unter dem Schlag weg. Und als er sich wieder aufrichtete, sah Regina Stahl aufblitzen.

»Großvater – nein!«

Sie hörte richtiggehend, wie die Klinge eindrang. Sie kratzte über die raue Wolle von Aetius’ Tunika. Aetius stand da und starrte Septimius an. Dann quoll ihm dunkles Blut aus dem Mund. Er erbebte und stürzte in starrer Haltung zu Boden.

Septimius fiel das Kinn herunter, als würde ihm erst jetzt bewusst, wo er war und was er getan hatte. Er drehte sich um und lief in die Nacht hinaus. Aetius lag auf dem Boden und atmete mit tiefen, röchelnden Zügen.

Auf dem Boden war Blut, es breitete sich aus wie damals bei ihrem Vater. Regina zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie lief zu Aetius und hob seinen schweren Kopf auf ihren Schoß. »Großvater! Hörst du mich? O Großvater!«

Er versuchte zu sprechen, hustete und spuckte einen Schwall dunklen Blutes aus. »Es tut mir Leid, meine Kleine. Es tut mir so Leid.«

»Nein…«

»Narr. War ein Narr. Habe mir etwas vorgemacht. Es ist vorbei. Der Wall. Jetzt werden auch die Letzten von ihnen verschwinden. Kein Sold, verstehst du, kein Sold. Cilurnium ist gefallen. Du hast das Feuer am Horizont gesehen. Cilurnium gibt es nicht mehr…« Er hustete wieder. »Geh mit Carta.«

»Cartumandua…«

»Geh mit ihr. Ihren Leuten. Hier hast du nichts mehr verloren. Sag ihr, ich hätte gesagt…«

Sie stellte ihm die Frage, die seit fünf Jahren in ihrem jungen Herzen brannte. Wenn er starb, konnte er sie nicht mehr beantworten, und sie würde es vielleicht nie erfahren. »Großvater – wo ist meine Mutter?«

»Rom«, stieß er hervor. »Ihre Schwester ist dort, Helena. Sie ist so schwach. Wollte nicht einmal auf dich warten…« Er packte sie an der Schulter. Seine Hand war glitschig vom Blut. »Vergiss sie. Julia ist unwichtig. Du bist jetzt die Familie. Nimm die matres mit.«

»Nein! Ich gehe nicht weg. Ich lasse dich nicht allein.«

Er bäumte sich in der immer größer werdenden Blutlache auf, und noch mehr rote Flüssigkeit strömte aus der klaffenden Wunde in seiner Brust. »Nimm sie…«

Regina streckte die Hand aus und nahm die kleinen Statuen von ihrem Bord im lararium. Endlich schien er sich zu entspannen. Sie dachte, dass er noch etwas sagen wollte, aber seine Stimme war ein Gurgeln, und sie verstand kein Wort.

Plötzlich zerbrach etwas in ihr. Sie stieß seinen Kopf weg, sodass er auf den Boden schlug, und rannte mit den Statuen in den Händen zu der aufgebrochenen Tür. Sie schaute sich nur ein einziges Mal um. Seine Augen waren noch offen, und er sah sie an. Sie floh in die Nacht hinaus.