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Im Jahr 1778 fand Edmund Minerva und verlor sie auch wieder.
Er war dreiundzwanzig Jahre alt. Nach Rom gekommen war er im Rahmen seiner traditionellen »Kavaliersreise«, die er den finanziellen Mitteln seines Vaters sowie seiner eigenen Jugend und Energie verdankte. Er wohnte an der Piazza di Spagna, im so genannten Englischen Ghetto. Die Wohnung, eine annehmbare erste Etage und zwei Schlafräume in der zweiten, war klein, aber gut möbliert und kostete nicht mehr als einen scudo pro Tag.
Edmund schloss sich einem gewissen James Macpherson an, einem vierzigjährigen jakobitischen Flüchtling und erfahrenen Lebemann, der sich als bereitwilliger Führer zu allem erwies, was Rom so zu bieten hatte – natürlich nur, solange Edmund als Geldquelle fungierte. Edmund war sich über den Charakter dieser Beziehung durchaus im Klaren und achtete sorgfältig darauf, dass James ihn nicht ausnutzte. Edmund hatte jedoch breit gefächerte Neigungen; bald lernte er Gerichte wie vitella mongana schätzen, das er für das köstlichste Kalbfleisch hielt, das er je gegessen hatte, und trank große Mengen Orvieto, einen passablen Weißwein.
Rom erwies sich als äußerst amüsant. Tag und Nacht waren die Piazzas von Akrobaten und Astrologen, Jongleuren und Zahnbrechern bevölkert. In den engen, nach Knoblauch stinkenden Gassen, wo imposante Villen über winzigen Häusern aufragten, hingen überall Reklameschilder für Barbiere, Schneider, Chirurgen und Tabakwarenhändler. Die Gassen waren jedoch immer voller Lärm und Dreck, weil die Römer die rüpelhafte Angewohnheit hatten, sich in jedem gerade verfügbaren Eingang und an jeder Mauer zu erleichtern, und ihre Müllhaufen in sämtlichen Ecken liegen ließen, wo sie auf die in unregelmäßigen Abständen vorbeikommenden Müllsammler warteten.
Doch inmitten des Lärms, des Drecks und der Ausschweifungen gab es echte Wunder.
Edmund fand die Peterskirche und ihre Piazza geradezu atemberaubend – er ließ sich von James Tag für Tag dorthin bringen, denn es gab immer wieder etwas Neues zu entdecken –, und er war entzückt von der Umgebung des großen Doms, wo sich elegante große und kleine Kuppeln aus dem Morgennebel erhoben. Und dann gab es auch noch die älteren Denkmäler, die aus der Vergangenheit ragten. Edmund ließ sich von James oftmals auf den Gipfel des Palatin begleiten, wo alte Zypressen inmitten der Palastruinen sanft mit ihren Ästen wedelten.
Die Römer selbst fand Edmund angenehm und höflich – kein Wunder, dachte er, schließlich waren sie mit Sicherheit die trägsten Menschen in ganz Europa. Hier gab es keine Industrie, keinen Handel, keine Produktion. Das Einkommen der Menschen hing vom stetigen Zustrom von Geld aus dem gesamten christlichen Europa ab, der schon seit Jahrhunderten nicht mehr abgerissen war.
Und die Religion beherrschte alles in Rom. Angeblich waren immer ebenso viele Pilger und andere Besucher wie Einwohner in der Stadt. Dreitausend Priester sowie fünftausend Mönche und Nonnen versahen ihren Dienst in dreihundert Mönchsund Nonnenklöstern und vierhundert Kirchen. Es war schick, sich wie ein Geistlicher zu kleiden, selbst wenn man die heiligen Weihen nicht empfangen hatte. Ein größerer Gegensatz zum dynamischen industriellen Getriebe Englands war kaum vorstellbar; manchmal hatte Edmund das Gefühl, als wäre die von Geistlichen überhäufte Stadt von einem großen Wahnsinn befallen.
Edmund war keineswegs begeistert von den römischen Frauen, deren Schönheit sich seiner Ansicht nach nicht mit der ihrer Stadt messen konnte. Er erinnerte sich an eine Bemerkung von Boswell, dass nur einige wenige Römerinnen hübsch und von denen wiederum die meisten Nonnen seien. Aber er hatte nichts dagegen, dass James ihn mit Kurtisanen bekannt machte, die er in großer Zahl zu kennen schien. Edmund war nicht der Ausschweifungen halber hergekommen, aber er war auch kein Mönch, und er musste gestehen, dass es ein eigentümlicher Nervenkitzel war, sich hier in der Heimat der Mutter Kirche seinen fleischlichen Gelüsten hinzugeben – wo einige der Prostituierten, wie er erfuhr, sogar eine vom Papst höchstpersönlich ausgestellte Arbeitserlaubnis besaßen!
All das änderte sich jedoch, als er Minerva traf.
Eines Abends sah er sich im Capranica eine Operette an. Es fiel ihm schwer, der Darbietung zu folgen, weil in der von James angemieteten Privatloge heftig getrunken und gespielt wurde. James machte ihn mit der lärmenden Truppe der Sänger und Schauspieler bekannt, und im Verlauf eines sehr langen Abends erfuhr Edmund zu seinem Erstaunen, dass einige der schönen »Mädchen«, die sich unter die Truppe gemischt hatten, in Wirklichkeit castrati waren. Dankbar vermied er es, sich zum Narren zu machen.
Am nächsten Morgen ging Edmund mit dickerem Schädel als sonst allein zum Forum.
Er fand eine umgestürzte Säule und setzte sich darauf. Das Forum war eine von Ruinen übersäte Wiese. Er sah zu, wie die Heuwagen über die freie Fläche rumpelten, und beobachtete die Tiere, die zwischen den mit Flechten überzogenen Steinen grasten. Als die höher steigende Sonne den letzten Rest des Morgennebels wegbannte, spürte er trotz seiner Kopfschmerzen, wie sich eine heitere Ruhe in seinem Innern ausbreitete. Es war ein Trümmerfeld, ja, und es tat weh, die schäbigen Hütten von Zimmerleuten auf der Tribüne zu sehen, wo einst Cicero gestanden hatte. Aber hier herrschte ein großer Frieden, als ob die Gegenwart sich irgendwie mit der Vergangenheit geeinigt hätte.
In einer Ecke des alten Platzes stand eine Reihe von Holzkohleherden, und der saure Gestank von Kohl und Kaidaunen stieg ihm in die Nase. Müßig stand er auf, wischte sich Flechten von der Hose und schlenderte dorthin. In Rom konnte man vielerorts Garküchen unter freiem Himmel finden. Einige dieser Einrichtungen waren großartig, und Edmund hatte dort durchaus akzeptable Speisen zu sich genommen – Salat, pochierten Fisch, Käse und Obst, abgerundet von der Eiskrem, von der die Römer anscheinend nicht genug bekommen konnten. Er sah jedoch, dass diese Kohlkocher bescheidenere kulinarische Ambitionen hatten und dass die abgerissenen Gestalten, die sich um die Herde drängten, die Ärmsten der Armen waren.
Zuerst hielt er die Frauen an den Herden wegen ihrer schlichten weißen Gewänder mit dem eingewebten dünnen Purpurstreifen für Nonnen. Aber sie trugen weder Schleier noch Hauben, und ihm fiel auf, dass sie alle jung waren und sich ziemlich ähnelten, fast wie Schwestern – und blass waren sie, als hätten sie dicke Theaterschminke aufgelegt.
In diesem Augenblick sah er Minerva.
Sie war eine der Frauen an der Essensausgabe. Ihre Schönheit raubte ihm schlichtweg den Atem. Ihr kleines, rautenförmiges Gesicht war symmetrisch, ihre Nase gerade und hübsch, ihr Mund voll und kirschrot, und ihre Augen waren grau, wie Fenster zu einem wolkenverhangenen Himmel. Sie glich ihren Gefährtinnen, aber bei ihr hatte die Kombination der Merkmale eine überwältigende Wirkung, wie ein perfektes Blatt bei einem Kartenspiel, dachte er.
Er hatte das Gefühl, als könnte er sie den ganzen Tag lang betrachten, so sehr bezauberte ihn ihre schlichte Eleganz. Und als sie um den Herd herumkam, fiel das Sonnenlicht zufällig von hinten auf ihr Gewand, und er erhaschte einen Blick von ihrer Figur, die…
Jemand sprach mit ihm. Überrascht kam er wieder zu sich.
Eine der Köchinnen stand vor ihm. Sie sah aus wie die Schöne, ja, nicht unattraktiv, nur älter und mit strengerem Gesicht. Aber ihr Mund zuckte belustigt.
»Verzeihung – wie bitte?«, stammelte er auf Englisch.
Sie wiederholte in sorgfältigem Italienisch: »Ich habe gefragt, ob Ihr Hunger habt. Der Geruch der Kaidaunen hat Euch offenbar angezogen.«
»Ich… äh… nein. Ich meine, nein danke. Ich habe nur…«
»Wir müssen hier unsere Arbeit machen, mein Herr«, sagte sie sanft. »Wichtige Arbeit – lebenswichtig für diejenigen, denen wir dienen. Ich fürchte, Ihr werdet uns ablenken.«
Und er sah, dass sie in der Tat bemerkt hatte, wie er sie angestarrt hatte. Sie reagierte mit verstohlenen, nervösen Blicken, schaute dann jedoch weg.
»Ja, sie ist schön«, sagte die ältere Frau trocken. »Sie kann nichts dagegen machen.«
»Wie heißt sie?«
»Minerva. Aber sie steht leider nicht auf der Speisekarte. Wenn Ihr mich nun entschuldigen wollt…« Sie drehte sich mit einem letzten, nicht unfreundlichen Blick um und ging zu ihrem Platz an den Herden zurück.
Edmund konnte nicht einfach so dort stehen bleiben. Außerdem nahmen nun die unglücklichen Armen Notiz von ihm und kicherten. Er ging fort und suchte sich einen Platz, wo er sich hinsetzen und den Frauen bei der Arbeit zusehen konnte. Vielleicht ergab sich später eine Möglichkeit, mit dem Mädchen zu reden.
Doch als er sich umdrehte, sah er zu seinem Entsetzen, dass sie fort waren, mitsamt ihrer Herde und allem, als hätten sie nie existiert. Die Armen, von denen einige immer noch ihre Portion Kohl und Kaidaunen hinunterschlangen, zerstreuten sich allmählich.
Er lief zurück und packte einen Mann an der Schulter, ließ aber sofort wieder los, als er schmierigen Dreck unter den Fingern fühlte. »Bitte, guter Mann – die Frauen hier…«
Der Mann hätte jedes Alter haben können, so schmutzverkrustet war sein Gesicht. Kohlreste klebten in seinem verfilzten Bart. Er wollte nichts sagen, bis Edmund ein paar Münzen hervorholte.
»Die Jungfrauen, ja.«
»Woher kommen sie? Wo sind sie hingegangen? Wie kann ich sie finden?«
»Wen kümmert’s? Ich bin hier, um Kohl zu essen, nicht, um Fragen zu beantworten.« Aber dann setzte er hinzu: »Morgen. Sie kommen zum Kolosseum. Das haben sie uns jedenfalls gesagt.«
An diesem Abend fand Edmund in James’ Gesellschaft keine Ruhe. Ihre übliche Runde über die Piazzas und durch die Tavernen konnte ihn nicht ablenken. Es half auch nicht, dass er einen massigen Gastwirt murmeln hörte, englische Gentlemen auf ihrer Kavaliersreise seien berühmte »milordi pelabili clienti«, leicht zu schröpfende Kunden.
Für Edmund war die Nacht nur eine Zeit, die er herumbringen musste, bis er Minerva zwischen ihren Herden und Kohlköpfen wiederfinden würde.
Ein Teil von ihm warnte ihn vor seiner Torheit. Doch obwohl er schon verliebt gewesen war, hatte er noch nie so etwas wie diese überwältigende Sehnsucht beim Anblick von Minervas vollkommenem Gesicht und dem hellen Schatten ihres schlanken Körpers verspürt.
Am nächsten Tag eilte er lange vor der Mittagszeit zum Kolosseum.
Edmund musste eine Einsiedelei durchqueren, als er den gewaltigen Krater aus Marmor und Stein mit seinen stummen, runden Sitzreihen betrat. Schäbige Hütten aus Lehm und erbeutetem Backstein duckten sich in den Schutz der Bogengänge, wo früher einmal Senatoren flaniert waren; unten in der Arena grasten Tiere unter hohen Bäumen.
Es gab keine kleine Reihe von Holzkohleherden, keine Frauen in weißen Gewändern, keinen feuchten Geruch von gekochtem Kohl, der mit dem Gestank des Dungs wetteiferte. Allerdings waren Bettler da, die lustlos umherwanderten. Die Enttäuschung in ihren Gesichtern – auch wenn sie durch die schmutzigen Elendsmasken schwer zu erkennen war – spiegelte seine eigene. Keiner von ihnen konnte seine Fragen nach Minerva und den Jungfrauen beantworten.
Eine Woche lang durchkämmte er die Stadt. Aber er fand keine Spur von den Jungfrauen, und auch niemanden, der etwas über sie wusste. Es schien, als wären sie einfach verschwunden, so unbeständig wie der vom Tiber aufsteigende Nebel.