13

 

 

Die kleine Gruppe von Flüchtlingen bog von der Straße ab und schleppte sich den Hang hinauf.

Das Gehöft war nicht mehr als eine chaotische Ansammlung von Gebäuden, die sich auf der ausladenden Hügelflanke verloren. Nirgends brannte Licht. Regina sah die gähnenden Löcher unverglaster Fenster, verfallene Dächer, von Trockenmauern umgrenzte, aber unkrautüberwucherte Felder. Hinter den Gebäuden bedeckte ein dichter, dunkler Wald den oberen Teil des Hangs.

Das Gehöft war verlassen.

Sie waren zu fünft – Regina, Cartumandua und Severus, Marina, Carausias –, und sie standen dicht beieinander. Die Dunkelheit brach bereits herein, und die Kälte senkte sich herab. Sie waren fast schon einen Monat unterwegs, seit Verulamium niedergebrannt war, einen Monat, in dem sie stetig nach Westen gegangen waren. Sie mussten genauso verloren und hilflos aussehen wie die Gebäude selbst, dachte Regina.

»Sie haben gesagt, sie würden warten«, klagte Carausias. »Arcadius war ein Freund meines Bruders – ein enger Freund. Sie haben gesagt, sie würden auf uns warten.«

Severus löste sich aus der Gruppe. »Auf dem ganzen Weg von Verulamium hierher habe ich nichts als dein Gejammer und deine Ausreden gehört, alter Mann«, knurrte er verächtlich.

»Severus«, sagte Carta müde, »wir sind alle erschöpft.«

»Und wegen der sentimentalen Dummheit dieses alten Narren sind wir nun auf diesem Hang gestrandet. Ich habe dir ja gesagt, wir hätten nach Londinium gehen sollen.«

»Das haben wir doch schon besprochen. In Londinium war für uns nichts zu holen.«

»Arcadius hat gesagt, er würde warten«, wiederholte Carausias. Er nestelte unter seinem Umhang. »Ich habe die Briefe, die Briefe…«

Severus ging mit großen Schritten über den dunkler werdenden Hang davon.

»Severus, bitte«, rief Marina ihm ängstlich nach.

Carta hielt sie zurück. »Lass ihn gehen. Hier würde er uns nichts nützen.«

»Aber was sollen wir tun?«

Darauf hatte Carta keine Antwort. Carausias lief ziellos umher; er humpelte seit dem ersten Tag, trotz der Verbände, die seine Füße in den Lederschuhen umschlossen. Es schien, als wären sie alle nur mit sich selbst beschäftigt.

Regina hockte sich hin, umschloss ihre Knie mit den Armen und drückte sie an ihren Bauch. Immerhin blieb sie von den Krämpfen verschont, unter denen sie seit ihrem Aufbruch aus Verulamium nahezu ununterbrochen gelitten hatte.

Arcadius war ein Freund der Familie, der hier, tief im Herzen des Landes im Westen, ein Gehöft besaß. Arcadius und Carausias hatten immer schon vorgehabt, ihre Mittel zusammenzulegen und gemeinsam nach Armorica überzusetzen. Dank Amator war Carausias’ Geld fort, und er gab zu, dass sein letzter Kontakt mit Arcadius wegen der gegenwärtigen Unzuverlässigkeit der Post schon ein Jahr oder länger zurücklag. Aber er war sicher gewesen, dass Arcadius auf ihn warten und ihn in seinem Heim aufnehmen würde.

Dieses Versprechen hatte ihnen in jener ersten, schrecklichen Nacht der Flucht aus dem brennenden Verulamium Kraft gegeben – in den ersten trostlosen Stunden, als sie im Freien zu schlafen versuchten und sich vom Strom der Flüchtlinge, den weinenden Kindern und hinkenden Invaliden, den Betrunkenen fern hielten –, und es hatte ihnen geholfen, die Tage und Nächte ihres unablässigen Marsches nach Westen durchzustehen, während Carausias und Severus ihr letztes Geld für ein wenig Nahrung, Wasser und einen Schlafplatz in heruntergekommenen Gasthäusern ausgegeben hatten.

Selbst das Land war feindselig gewesen. Der Zusammenbruch der römischen Provinz hatte sich am unmittelbarsten auf die zehn Prozent ausgewirkt, die in den Villen und Städten gelebt hatten und von denen viele jetzt auf dem Land unterzukommen versuchten, so wie Regina und ihre Gruppe. Aber die Bauern waren ebenfalls betroffen gewesen, so sehr sie auch über die Steuern gemurrt hatten. Da sie keinen Überschuss mehr produzieren mussten, um die Steuern des Kaisers zu bezahlen, hatten sie ihre Arbeitslast so weit reduziert, dass sie gerade noch ihre Familien ernähren konnten. Wegen des Niedergangs der Städte gab es jedoch keine Märkte, auf denen sie etwa noch vorhandene Überschüsse verkaufen oder tauschen konnten, und es gab nirgends Handwerkserzeugnisse wie Tonwaren oder Werkzeug zu kaufen. Insbesondere an Eisenwaren herrschte großer Mangel, denn die uralte Kunst der Eisenherstellung war in Vergessenheit geraten. Viele Gehöfte wurden mit viel primitiveren Methoden betrieben, als die Vorfahren der Bauern sie schon vor Jahrhunderten angewandt hatten.

Jedenfalls hatte es nirgends einen Platz für Regina und ihre Gruppe gegeben – keine Gastfreundschaft, keine Hilfsangebote der hungrigen, verärgerten, argwöhnischen Menschen –, und sie hatten ihr letztes Geld in überteuerten Gasthäusern gelassen. Aber das hatte keine Rolle gespielt. Wenn sie erst einmal hier waren, auf diesem Hügelhof und bei Carausias’ Freunden, würde alles in Ordnung sein.

Doch nun waren sie hier, und es war niemand mehr da. Wieder einmal hatte man sie im Stich gelassen. Mehr denn je schien die Zukunft eine trübe, schwarze, erschreckende Leere zu sein. Regina schlang die Arme um ihren Bauch und das wachsende, hungrige Leben darin.

Carta setzte sich neben sie. »Geht es dir gut?«

»Keinem von uns geht es ›gut‹«, sagte Regina. »Welch ein Pech.«

»Ja, welch ein Pech! Dieser Hof muss schon vor mindestens einem Jahr verlassen worden sein. Der arme, törichte Carausias.«

»Hier gibt es für uns nichts zu holen.«

»Aber wir können nirgends anders hin, und wir haben kein Geld mehr«, erwiderte Carta grimmig. »Ich finde es hier gar nicht so schlecht. Da unten ist Wasser.« Sie zeigte auf ein sumpfiges Gebiet am Fuß des grasbewachsenen Hügels und den Faden eines trägen Flusses dahinter. »Die Felder sind überwuchert, aber sie sind schon einmal bearbeitet worden; es dürfte nicht schwer sein, sie zu pflügen. Dieser Hang liegt ein wenig abseits der Straße. Vielleicht werden wir kein solches Ziel für die bacaudae sein.«

»Wovon redest du? Wer soll die Felder pflügen? Womit wollen wir sie bezahlen?«

»Niemand wird sie für uns pflügen«, sagte Carta verbissen. »Wir werden sie pflügen.«

Regina starrte sie an. »Du denkst dir Märchen aus. Wir haben jetzt nichts zu essen. Wir können schon froh sein, wenn wir die Nacht überstehen. Und falls du es noch nicht bemerkt hast, es ist Herbst. Welche Feldfrüchte wachsen im Winter? Und außerdem – Carta, ich will keine Bäuerin sein.«

»Und ich wollte keine Sklavin sein«, entgegnete Carta. »Aber ich habe es überlebt, und ich werde auch das hier überleben. Genau wie du.« Sie rappelte sich hoch und zog Regina am Arm. »Komm. Schauen wir uns die Gebäude an.«

Regina folgte ihr widerstrebend.

 

Die Gebäude des Gehöfts drängten sich um einen Platz aus aufgewühltem Schlamm. Es gab drei scheunenartige Bauten mit ordentlichem rechteckigem Grundriss nach römischer Art und die Überreste eines Rundhauses, eines primitiveren Bauwerks mit einem gewaltigen kegelförmigen Dach aus geschwärztem Stroh und Wänden aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk.

Regina trieb es zu den rechteckigen Bauten, die ihr am vertrautesten waren. Es mussten einmal gepflegte, helle Gebäude gewesen sein; sie sah Spuren von Tünche an den Wänden und ein paar leuchtend rote Ziegel, die sich noch an die Holzlatten des Daches klammerten. Eines war jedoch vollständig ausgebrannt, und die Dächer der anderen besaßen so gut wie keine Ziegel mehr und waren durchgefault. Sie ging durch einen Eingang. Der Boden war mit Schutt übersät und von einer blühenden Gemeinschaft von Unkräutern aufgebrochen worden. Etwas huschte im Halbdunkel davon.

Carta zeigte zu dem Rundhaus. »Darin wären wir besser aufgehoben.«

Regina rümpfte die Nase. »In diesem Matschkuchen? Ich kann es von hier aus riechen. Und schau dir nur das verfaulende Stroh an – da leben Tiere drin!«

»Aber wir werden es leichter reparieren können«, erwiderte Carta. »Sieh den Tatsachen ins Auge, Regina – wie sollen wir Dachziegel brennen?«

»Wir könnten sie ersetzen lassen.«

Carta lachte müde. »Ach, Regina – von wem denn? Wo sind die Handwerker? Und womit sollen wir sie bezahlen?… Ich weiß, es ist schwer. Aber ich sehe hier niemanden herumstehen, der darauf wartet, uns zu helfen. Du etwa? Wenn wir es nicht selbst reparieren – tja, dann bleibt es eben so.«

Regina legte eine Hand auf ihren Bauch. Irgendwie machten Cartas Realismus und Verbissenheit alles eher schlimmer als besser.

Vom unteren Hang des Hügels ertönte ein Ruf. Severus kam mit etwas Schwerem und Schlaffem zurück, das ihm über der Schulter hing. Bald darauf stiegen Regina der Eisengestank von Blut und ein noch stärkerer Verwesungsgeruch in die Nase. Grunzend ließ Severus seine Last auf den schlammigen Boden fallen. Es war der Kadaver eines jungen Hirsches. Der Kopf war fast vom Körper abgetrennt, vermutlich von Severus’ Messer. Severus schwitzte, und seine Tunika war blutgetränkt. »Glück gehabt«, sagte er. »Hat mit dem Lauf in einer Falle gesteckt. War schon fast tot, glaube ich. Seht ihr?«

Der Hirsch war sehr jung gewesen. Seine Hörner waren bloße Stummel, sein Körper war klein und geschmeidig. Aber einer seiner Läufe baumelte ungelenk herab, und starker Fäulnisgeruch stieg von dem geschwärzten Fleisch auf.

Severus beugte sich über den schlaffen Kadaver. Mit wenig wirkungsvollen, aber brutalen Stößen trieb er sein Messer in das Hüftgelenk über dem gesunden Hinterlauf des Hirsches. Nachdem er Sehnen und Knochen geräuschvoll durchtrennt hatte, riss er das Gelenk auseinander und hängte sich die Keule über die Schulter. »Wir haben Nachbarn«, sagte er und zeigte mit seinem blutigen Messer in eine Richtung. »Ich habe Lichter gesehen. Ein Gehöft, da drüben hinter dem Kamm. Mal sehen, ob sie handeln wollen.«

»Ja«, sagte Carausias mit eindringlicher Stimme. »Wir brauchen alles Mögliche.«

»Was ich brauche, ist ein großer Schluck Weizenbier«, erwiderte Severus. »Für heute reicht’s mir.«

»Du kannst doch nicht so egoistisch sein!«, rief Carausias.

Aber Carta sagte nur: »Komm lebend zurück.«

Als er fort war, standen die anderen um den Kadaver herum. Blut rann langsam aus seiner Kehle in den Schlamm.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Carausias, als könnte er den Hirsch aufwecken.

Schließlich seufzte Regina. »Früher habe ich immer den Schlachtern in der Villa zugeschaut. Wir brauchen ein Seil…«

Sie durchwühlten den Abfall in den Gebäuden, bis Marina ein von Mäusen angenagtes Stück Seil fand. Zu Reginas Entsetzen war das Fleisch des Hirschs warm und weich; sie hatte noch nie ein Tier angefasst, das erst vor so kurzer Zeit gestorben war. Aber sie band das Seil um den verbliebenen Hinterlauf des Hirschs und warf es über den Ast eines Baumes. Indem sie zu dritt daran zogen, gelang es ihnen, den Kadaver ins Geäst zu hieven.

Der Hirsch baumelte wie eine riesige, grausige Frucht herab. Blut und dunklere Flüssigkeiten flossen träge aus seinem Hals und bildeten eine Lache auf dem Boden.

Carta schaute unschlüssig zu. »Wir sollten das Blut auffangen.«

»Wozu?«

»Man kann es kochen – mit Kräutern mischen – die Gedärme damit füllen. Das habe ich schon gesehen. Wir sollten nichts verkommen lassen.«

Regina merkte, wie ihr übel wurde. Aber sie sagte: »Wir haben keine Schüssel, um es aufzufangen. Nächstes Mal.«

»Ja.«

Regina trat mit Carausias’ Messer vor. In Erinnerung an grässliche Bilder aus ihrer Kindheit hob sie die Hand, stieß dem Hirsch das Messer unter dem Bauch in die Haut und zog die Klinge mit aller Kraft der Länge nach durch den Kadaver. Innereien glitten heraus, ein Gewirr dunkler Schlingen. Sie wich zitternd zurück. Ihre Tunika und ihre Haut waren mit dunklem Blut bespritzt, und ihre Hände waren schon jetzt bis zu den Handgelenken rot gefärbt. Sie trat hinter den Kadaver und zog an den Hautlappen. »Helft mir«, sagte sie. »Danach müssen wir die anderen Läufe abschneiden.«

Carausias schichtete in den Ruinen des Rundhauses einen Stapel Feuerholz auf. Das Holz, das sie sammelten, war jung und taufeucht, und sie hatten Mühe, es anzuzünden. Aber als es endlich richtig brannte und Fleischstücke an einem improvisierten Spieß brutzelten, kauerten sie sich um das Licht und die Wärme zusammen. Das Fleisch war mager und so zäh, dass man es kaum zerbeißen konnte, und sein blutiger, rauchiger Gestank war abstoßend. Aber Regina war sich beständig des Fünkchens Leben in ihrem Innern bewusst, und darum zwang sie sich, das Fleisch in den Mund zu stecken, kaute es, bis es weich war, und schluckte es hinunter.

»Wir sind wie Wilde«, sagte Carausias. »Barbaren. Das ist doch kein Leben.«

»Aber auch Barbaren verstehen sich auf so manche Dinge«, sagte Carta. »Wie du den Hirsch ausgenommen hast, Regina…«

»Ich war ungeschickt.«

»Das wird schon noch. Es gibt ältere Fertigkeiten, die wir uns in Erinnerung rufen müssen. Zum Beispiel sollten wir die Haut behalten und sie beizen, wenn wir können. Und das Fleisch haltbar machen. Wir haben Glück gehabt, aber wir sind keine Jäger. Es könnte eine Weile dauern, bis uns wieder ein solches Mahl in den Schoß fällt. Wir könnten das Fleisch räuchern, in der Sonne trocknen und vielleicht in Salz einlegen.«

»Wie?«

»Das weiß ich nicht. Aber wir werden es lernen. Und in Zukunft sollten wir auch das Fett aufbewahren. Vielleicht können wir Talgkerzen daraus machen.«

Carausias legte ihr die Hand auf die Schulter. »Genug für heute Abend, Nichte.«

Als sie mit dem Essen fertig waren, zog sich Regina in den tiefsten Schatten des Rundhausdaches zurück, den sie finden konnte. Mit einem Zipfel ihres Umhangs versuchte sie, das Tierblut von ihren Händen und ihrem Gesicht zu reiben. Bald war ihre Haut wund, und das Tuch begann zu reißen, aber das Blut ging trotzdem nicht ab.

Carausias kam zu ihr in die Dunkelheit. Er setzte sich neben sie, legte seine Hände auf ihre und beendete damit ihr besessenes Schrubben. »Morgen früh suchen wir Wasser«, sagte er. »Dann können wir uns alle waschen.«

»Ich will das nicht«, zischte Regina. »Ich will nicht wie… wie ein Hund leben. Carta ist so stark.«

»Ja. Und das macht es noch schlimmer, nicht wahr? Denn indem sie es annimmt, macht sie es wirklich. Aber du bist ebenfalls stark, Regina. Wie du das mit dem Hirsch gemacht hast…«

»Ich will nicht stark sein. Nicht auf diese Weise.« Sie blickte in sein freundliches, blutbesudeltes Gesicht hinauf, das im Dunkeln nur undeutlich erkennbar war. »Irgendwann wird sich alles wieder normalisieren, nicht wahr, Carausias?«

Er zuckte die Achseln. »Selbst jetzt umspannt Rom einen ganzen Kontinent, ein tausendjähriges Reich, nur eine Tagesreise mit dem Schiff entfernt, jenseits des Meeres. Das war eine schreckliche Zeit für uns alle. Aber weshalb sollten wir glauben, dass wir in besonderen Zeiten oder gar in einer Endzeit leben? Wie überheblich von uns, und wie töricht.«

»Ja. Aber vorerst…«

»Es wird bestimmt nur ein paar Wochen dauern, bis wir die Postboten wieder über die Straßen klappern sehen. Bis dahin müssen wir uns halt irgendwie durchschlagen.«

»Nur ein paar Wochen. Ja.«

 

Der Hirsch ernährte sie die ersten paar Tage. Sie ergänzten das Fleisch durch eine Beilage aus späten Beeren. Um Wasser zu holen, mussten sie täglich mehrmals zum Sumpf land am Fuß des Hügels hinunterlaufen; sie trugen das Wasser in einem Holzeimer hinauf, den sie in den Ruinen des Gehöfts gefunden hatten.

Der erste Regen hätte ihr Feuer jedoch beinahe gelöscht. Er verwandelte den Fußboden des Rundhauses in einen Morast. Obwohl Carausias sich bemühte, tapfer zu sein, weinte er in dieser Nacht, durchnässt, frierend und gedemütigt, weil er zugelassen hatte, dass seine Familie so tief gesunken war.

Regina erkannte, dass sie das Dach reparieren mussten.

Severus erklärte, er könne das übernehmen. Er kletterte aufs Dach und schichtete Eichen- und Haselnusszweige über das klaffende Loch. Regina war optimistisch: Ein so primitiver Bau erforderte sicher nur die primitivsten Reparaturen. Doch als Severus einmal ungeschickt sein Gewicht verlagerte, gab seine Konstruktion nach, und er fiel in einem Regen zerbrochener Zweige auf den schlammigen Boden. Er stand auf, versetzte dem wirren Haufen einen Tritt, verwünschte die Götter der Christen, Britannier und Römer und stolzierte schmollend davon.

Also kam Regina zu dem Schluss, dass sie es selbst tun musste.

Sie lief in dem kleinen Haus umher und studierte die Dachkonstruktion. Die Kegelform beruhte auf mehreren Hauptsparren, die aneinander gelehnt und dann an der Spitze an einen mittigen Pfosten gebunden worden waren. Dazu kamen weitere komplizierte Holzkonstruktionen, die Überreste eines Ringbalkens und kreuz und quer verlaufende Sparren. Aber das Hauptproblem war, dass zwei oder drei der großen Sparren fehlten.

Keiner der von Severus in aller Eile gesammelten Zweige konnte einen der Sparren ersetzen, und sie hatten keine Axt. Aber im Wald unmittelbar unter der Hügelkuppe fanden sie lange, heruntergefallene Äste. Carausias, Regina und Carta schleiften sie zusammen den Hügel hinunter. Dann schoben sie ihre behelfsmäßigen Sparren gemeinsam an die richtige Stelle. Marina, die Leichteste von ihnen, wurde trotz ihres Widerstrebens nach oben geschickt und musste auf dem Stroh zum höchsten Punkt der Hütte klettern, wo sie die neuen Sparren mit den alten verband. Die komplizierte Gitterkonstruktion war für Regina anfangs noch ein Buch mit sieben Siegeln. Dennoch befahl sie Marina, leichte Haselnusszweige an die neuen Sparren zu binden. Anschließend unternahmen sie Expeditionen ins Sumpfland, um Schilf vom Fluss zu dicken Schichten aufzuhäufen.

Es war primitiv und hässlich, aber es funktionierte.

Sobald das Dach wasserdicht war, wurde alles rasch besser. Im alten Stroh wohnten nach wie vor ganze Mäusedynastien, aber ein paar Tage intensiven Räucherns schafften Abhilfe. Das zerstörte Dach hatte dem Regen erlaubt, die Lehmwände anzugreifen, aber ihre elementare Struktur aus dünnen, miteinander verflochtenen Haselnusszweigen war noch intakt. Regina und Carta stopften die Löcher in den Wänden mit Schlamm und Stroh; sie schoben das Material von beiden Seiten hinein und glätteten es mit den Fingern.

Als das Tageslicht endlich ausgeschlossen war, hielten sie eine kleine Feier ab. Sie saßen im Kreis um ihr Feuer, der Rauch kräuselte sich und zog durch das Kaminloch in ihrem neuen Dach ab, und ihre Hirschfett-Kerzen brannten qualmend. Sie aßen den Rest der Hirschleber, gebraten mit wildem Knoblauch, den Marina hinter den Hütten entdeckt hatte. Sie fanden, dass sie gute Arbeit geleistet hatten; immerhin waren sie erst ein paar Tage hier.

Erst in diesem Moment war Regina bereit, ihre kostbaren matres auszuwickeln. Sie stellte sie in eine primitive Nische, damit sie über dem Haufen aus getrocknetem Schilf wachten, auf dem sie nun schlief.

 

Als sie das nächste Mal einen Hirsch fingen – in einer simplen Falle, die Severus aufgestellt hatte –, nutzten sie ihn effektiver. Sie achteten darauf, dass die Haut heil blieb, damit sie mit ihr den Boden des Rundhauses abdecken konnten, und kochten sogar die Knochen, um das Mark herauszuholen.

Der größte Teil ihrer Nahrung stammte aus Fallen – meist kleineres Wild, vor allem Hasen. Aber sie nahmen auch zaghafte Handelsbeziehungen mit dem Bauernhof auf, den Severus hinter dem Kamm entdeckt hatte. Der Bauer, ein hoch gewachsener, misstrauischer Mann mit wildem Bart, der auf den Namen Exsuperius hörte, war bereit, ihnen im Tausch für ihr Fleisch Wintergemüse wie Kohl und sogar Kleidung zu geben, abgetragene Tuniken, Umhänge und Decken. Die Kleidung, so alt und verlaust sie auch sein mochte, war höchst willkommen. Regina experimentierte mit verschiedenen Methoden, ihre Kleidung im Fluss zu waschen – die leicht ätzende Holzasche ergab ein gutes Reinigungsmittel.

Aber Carausias und Carta konnten betteln, so viel sie wollten, Exsuperius hatte keine Töpferwaren, keine Fußbekleidung und kein Werkzeug für sie – keine Sägen, Hämmer oder Messer –, überhaupt nichts aus Eisen, nicht einmal einen Nagel für ihre Schuhe.

Severus tat seinen Teil, wenn auch widerwillig. Als weitaus Stärkster von ihnen schleppte er die schwersten Lasten, und er konstruierte größere Fallen und Steinschleudern, um weiteres Wild zur Strecke zu bringen. Aber er war unzuverlässig und jähzornig. Er sprach kaum mit den anderen und schien sogar Carta zu vernachlässigen.

Regina war überzeugt, dass sie Cartas Beziehung zu Severus nie verstehen würde. Die beiden schienen niemals glücklich miteinander zu sein – es hatte nicht den geringsten Hinweis darauf gegeben, dass Carta ein Kind mit Severus haben wollte –, und dennoch hielt ihre mittlerweile schon mehrere Jahre alte Beziehung. Es schien, als erwartete sich keiner von ihnen etwas Besseres vom Leben.

Als Regina erfuhr, dass Severus weiterhin versuchte, bei Exsuperius Fleisch gegen Bier zu tauschen, wurde ihr klar, dass auf ihn kein Verlass war.

Die Tage wurden zu Wochen und dann zu Monaten. Sie hielten jeden Tag Ausschau nach Soldaten oder Postboten auf der Straße. Aber die Rückkehr zur Normalität blieb aus.

Stück für Stück machten sie es sich bequem. Doch Regina musste jeden Tag etwas Neues herausfinden: Überleben war eine erstaunlich komplizierte Angelegenheit. Und das Leben war gnadenlos hart, jede Stunde vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit war mit anstrengender körperlicher Arbeit angefüllt. Der Winterfrost kam, und das Leben wurde noch härter.

Trotz alledem – und obwohl das neue Leben in ihrem Bauch unablässig wuchs – merkte Regina, wie sie stärker wurde. Die Haut ihrer Hände, ihrer Füße und ihres Gesichts wurde fester, ihre Bein- und Schultermuskeln wurden kräftiger. Sie aß wie ein Scheunendrescher, um ihr ungeborenes Kind zu füttern und die Kälte zu vertreiben. Aber sie wurde nicht krank. Carausias litt jedoch sehr; seine Gelenke und sein Rücken – ohnehin schon ein wenig anfällig – erholten sich nicht mehr von dem langen Marsch von Verulamium hierher, und obwohl er mutig versuchte, weiterhin seinen Teil der Arbeit zu erledigen, war seine Schwäche nicht zu übersehen.

Zu Reginas Entsetzen war es jedoch Cartumandua, die von ihnen allen am schlimmsten erkrankte.

Es fing mit Bauchschmerzen an. Sie hörten nicht mehr auf, ganz gleich, was sie aß, selbst wenn sie überhaupt nichts zu sich nahm. Als Regina Cartas Bauch berührte, ertastete sie einen harten Klumpen unter ihrem Brustkorb, fast wie ein weiteres, bösartiges Kind.

Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, was Carta fehlte. Natürlich gab es auch keinen Arzt, den man um Rat hätte fragen können. Regina versuchte sogar, Arznei von dem bärtigen Farmer zu erbetteln. Exsuperius gab ihr nichts als den Rat, Carta solle Weidenrinde kauen. Carta versuchte es und stellte fest, dass der immer stärker werdende Schmerz nachließ, wenn auch nur für kurze Zeit. Aber sie wurde Tag für Tag ein wenig schwächer und blasser, und Regina verspürte eine wachsende Furcht.

 

Als die Tage am kürzesten waren, gefror ein großer Teil des Sumpflands. Da sie trotzdem nach wie vor täglich Wasser holen mussten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als weitere Strecken zurückzulegen, um eine Stelle zu finden, wo der Boden nicht gefroren oder das Eis so dünn war, dass sie es durchbrechen konnten. Das Wasserholen wurde zum beherrschenden Element ihres Lebens, dem Ersten, woran Regina jeden Morgen beim Aufwachen dachte.

An einem besonders trüben, grauen Wintermorgen unternahm sie mit Marina den ersten Gang hinunter zum Sumpfland. Dort hatten sie eine Senkgrube angelegt. Regina hockte sich über das Loch im Boden, hob ihr Kleid und entblößte in der brutalen Kälte ihren Hintern.

Plötzlich stellte sie sich vor, was ihr jüngeres Ich wohl gedacht hätte, wenn es sie über dieser schlammigen Grube hocken gesehen hätte. In der Villa ihrer Mutter war eine Latrine nahe bei der Küche gewesen, sodass man sie mit Wasser aus der Küche hatte spülen können. Dort hatte man sich mit Schwämmen an Stöcken und Fläschchen mit Duftwasser reinigen können, und der kleine Raum war immer von Küchengerüchen erfüllt gewesen. Und nun das. Schritt für Schritt war sie so weit gekommen – und dabei war es immer nur abwärts gegangen –, und sie war so damit beschäftigt gewesen, am Leben zu bleiben, dass sie vergessen hatte, wie weit sie schon von ihrem Zuhause entfernt war.

Aber man musste sich nun mal erleichtern. Sie hockte da, presste ordentlich, beendete ihr Geschäft, so rasch sie konnte, und säuberte sich mit einer Hand voll Gras.

Es war ein nebliger Tag, aber nicht ganz so bitter kalt wie zuvor; vielleicht war das Sumpfland in der Mitte aufgetaut. Also ging sie vorsichtig zum ungefähren Uferbereich und bahnte sich einen Weg über gefrorenen Schlamm und vereiste Wasserpfützen. Sie kam zu einem Flecken offenen, schlammigen Wassers, wo welke Schilfrohre, braun und dünn, wie Haare trieben. Sie bückte sich und fasste ins eiskalte Wasser, um das Schilf beiseite zu ziehen. Auf einmal spürte sie einen stechenden Schmerz.

Sie zog den Arm zurück. In ihrer Handfläche klaffte ein Schnitt, und hellrotes Blut, die leuchtendste Farbe in einer Landschaft aus Grau und Graubraun, lief ihr über den Arm und vermischte sich mit dem Wasser auf ihrer Haut.

Marina kam aufgeregt zu ihr. »Was ist los?«

»Ich glaube, ich bin gebissen worden. Vielleicht ein Hecht.«

Marina untersuchte ihre Hand. »Für mich sieht das nicht wie ein Biss aus. Du musst das abwaschen.«

»Ja.« Regina bückte sich und spähte ins Wasser. Unter der Schilfrohrschicht war kein Fisch zu sehen. Aber sie bemerkte etwas Helles und Glänzendes, wie eine Münze in einem Brunnen. Noch vorsichtiger langte sie mit ihrer gesunden Hand nach unten und tastete danach. Es war schwer, die Tiefe des schlammigen Wassers zu beurteilen. Ihre Hand stieß bald auf etwas Hartes und Flaches – eine Klinge. Vorsichtig packte sie sie mit Daumen und Zeigefinger und zog sie heraus.

Es war ein Messer. Die Eisenklinge war stark verrostet, aber das Heft aus leuchtend gelbem Metall, in das schwungvolle kreisrunde Muster eingraviert waren, schien unversehrt. »Ich glaube, das ist Gold«, sagte sie erstaunt.

Marina war nicht beeindruckt. »Der alte Exsuperius würde dir wahrscheinlich einen Beutel Bohnen für das Eisen geben, aber nichts für das Gold«, sagte sie nüchtern.

»Ich möchte wissen, wie es dorthin gekommen ist.«

»Eine Opfergabe«, sagte Marina unerwartet. »Für den Fluss. Wenn man stirbt, gibt man ihm seine Rüstung, seine Waffen, seine Schätze. So hat man das schon immer gemacht, außerhalb der Städte. So wie früher… wahrscheinlich haben wir sie heraufgeholt, als wir am Schilf gezogen haben.«

Der Schatz eines Toten. Es war ein unheimlicher Gedanke, und Regina ließ den Blick nervös über die neblige, schlammige Landschaft schweifen.

In weiten Teilen des Landes war die römische Herrschaft mit ihren Sitten und Gebräuchen nicht sehr stark verankert gewesen. Solange die Menschen friedlich blieben und ihre Steuern zahlten, hatte es den Kaiser nicht sonderlich gekümmert, was sie in ihrem Privatleben taten. Vielleicht hatte eine Gemeinschaft in diesem abgelegenen Gehöft die Rituale ihrer fernen Vorfahren beibehalten und ihre persönliche Habe in den Sumpf geworfen, um die Göttinnen des Wassers und der Erde zu besänftigen. Regina fragte sich in einem rationalen Winkel ihres Bewusstseins, ob es für die verschwundenen Menschen nicht besser gewesen wäre, wenn sie ihre Waffen behalten und ihr Geld für den Handel oder für Schutzvorkehrungen ausgegeben hätten, statt alles derart verschwenderisch in diesen Sumpf zu werfen. Dann hätten sie den Römern besser Widerstand leisten können.

Wahrscheinlich lagen hier auch Leichen, die man ins Wasser geworfen hatte. Das wären nicht die Toten ihrer Zeit, sondern jener seltsamen, ferneren Vergangenheit vor den Legionären, den Volkszählern und Steuereintreibern: nicht ihre Toten, sondern die Toten anderer, fremder Menschen, deren Geister irgendwie vielleicht noch in den Nebeln dieser uralten, immer wieder umgestalteten Landschaft verweilten.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie steckte die kleine Waffe in ihren Gürtel.

Im Rundhaus reinigte Carta die Wunde in Reginas Hand mit Urin und rieb bei Exsuperius teuer erstandenen Honig hinein, um eine Infektion zu verhindern. Am nächsten Tag war es heller, und Reginas seltsame, abergläubische Ängste waren gebannt. Die Helligkeit brachte jedoch eine beißendere Kälte, und das Sumpfland fror zu und verbarg seinen seltsamen Schatz.

 

Als der Winter in den Frühling überging, wurde Regina mit ihrem schweren Bauch immer langsamer. Doch dies war eine Gemeinschaft von drei Frauen, einem alten Mann und dem unzuverlässigen, faulen Severus, und da war kein Platz für Müßiggänger.

Aber es war nicht mal so schlimm. Auf die eine oder andere Weise hatten sie immer genug zu essen, selbst im tiefsten Winter. Und als die Tage länger und wärmer wurden, fühlte sich Regina trotz der Last in ihrem Bauch seltsamerweise stärker denn je.

Und während Carta allmählich immer schwächer geworden war, schien es, dass die anderen Regina in zunehmendem Maße als ihre Anführerin betrachteten. Also stand sie jeden Morgen als Erste von ihrem Strohhaufen auf, holte als Erste Wasser, schaute als Erste nach ihren Fallen und gab mit ihren eigenen Anstrengungen immer ein Beispiel.

Sie konnte sich schlecht bücken und Dinge hochheben, und sie konnte nicht aufs Dach des Rundhauses klettern. Aber sie konnte einen Fußpflug bedienen. Eines Morgens machte sie sich daran, ihn über eins der Felder auf dem Hang hinter dem Gehöft zu ziehen. Man musste die Eisenspitze in den Boden graben, sie mit dem Fuß tiefer hineinstoßen und dann den Griff – der fast so lang war wie sie groß – nach hinten ziehen, um das Erdreich aufzubrechen.

Der eiserne Pflug mit seinem gebogenen Holzgriff, den der verschwundene Arcadius und seine Arbeiter unter einem Haufen verrottenden Sackleinens zurückgelassen hatten, war ein kostbarer Fund gewesen. Einen weiteren Teil des erjagten Fleisches hatten sie bei Exsuperius gegen Saatgut für Weizen und verschiedene Kohlsorten eingetauscht. Und jetzt, so erinnerte Regina sich undeutlich von ihrem Leben in der Villa, kam die Zeit zum Pflügen und Pflanzen.

Aber mit dem Fußpflug konnte man nur eine flache Furche in den Boden kratzen. Sie ärgerte sich, wenn sie daran dachte, wie die Pächter ihres Vaters das Erdreich auf riesigen Flächen mit Ochsengespannen aufgebrochen hatten, während sie auf dieses jämmerliche Scharren beschränkt war. Exsuperius hatte ihnen jedoch mit kargen Worten den Rat gegeben, ihre Felder zweimal zu pflügen, und zwar in einem Kreuzmuster, um den Boden stärker zu lockern. Und als sie nun zur zweiten Furchenreihe kam, stellte sie fest, dass der Pflug geradezu in den bereits aufgebrochenen Boden hineinglitt.

Gegen Mittag hatten sich ihre Muskeln gründlich erwärmt, und die Sonne spendete auch ihrem Gesicht ein wenig Wärme.

Nach so vielen Monaten verspürte sie keine derart obsessive Bitterkeit mehr bei dem Gedanken an Aetius, Marcus, Julia und Amator – vor allem Amator –, all die Menschen, die sie auf die eine oder andere Weise verlassen hatten. Was ihre Gefährten hier auf dem Hof betraf, so hatte sie der Zufall zusammengeführt, und sie waren allesamt nicht vollkommen: Carausias war ein vertrauensseliger alter Narr, Severus faul, egoistisch und mürrisch, Marina furchtsam und ohne Unternehmungsgeist, und Carta – die liebe Carta – nunmehr schrecklich geschwächt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte Regina mit diesen Leuten sicherlich nicht ihr neunzehntes Lebensjahr verbracht. Aber es waren ihre Leute, wie sie nun allmählich erkannte: Es waren die Menschen, die sie nach dem Tod ihres Großvaters aufgenommen, ihr nach besten Kräften Zuflucht gewährt hatten…

In diesem Augenblick, als sie zum ersten Mal seit jener Nacht mit Amator fast wieder so etwas wie Zufriedenheit empfand, kam die erste Wehe. Sie fiel zu Boden und schrie nach Carta, während Wogen des Schmerzes über ihren Bauch liefen.

Was dann kam, war eine Abfolge verschwommener Bilder. Da waren Marina und der alte Carausias, deren Gesichter sich wie Monde über ihr abzeichneten. Sie waren zu schwach, um sie zu tragen, deshalb musste sie sich hochrappeln und, schwer auf ihre Schultern gestützt, zum Haus humpeln.

Cartas Gesicht war gelb und wirkte abgespannt. Sie sah aus, als könnte sie selber kaum aufrecht stehen. Aber sie legte ihre Hände auf Reginas Bauch und ertastete die pulsierenden Muskeln, die Lage des Kindes.

»Es ist zu früh!«, rief Regina. »O Carta, mach, dass es aufhört!«

Carta schüttelte den Kopf. »Das Kind hat seine eigene Zeit… Leg sie aufs Bett, Marina, schnell.« Sie zog Reginas von der Erde auf den Feldern verschmutzte Tunika hoch und legte ihr ein Holzbrett aus einem der anderen Gebäude unter den Po.

»Hier. Nimm das.« Carausias ragte über ihr auf. Er hatte ihr eine ihrer kostbaren matres gebracht. Die zumindest hatten sie nie verlassen; sie drückte die klobige kleine Statue an ihre Brust.

Die Wehen kamen jetzt in Wellen.

»Regina, zieh die Knie an«, blaffte Carta. Regina langte hinunter, hakte mit einer gewaltigen Anstrengung die Finger hinter ihre Knie und zog die Beine hoch und auseinander.

Carta zwang sich zu einem Lächeln. »Ich weiß, ich hätte dich nicht dieses elende Feld pflügen lassen dürfen.«

»Und wer hätte es sonst tun sollen?… Auu! Carta…«

»Ja?«

»Du hast das doch schon mal gemacht, oder?«

»Was, ein Kind zur Welt gebracht? Hast du schon mal ein Feld gepflügt?«

Bei der nächsten Wehe wurde der Schmerz unglaublich stark, so als würde sie langsam zerrissen.

Carta beugte sich näher zu ihr herunter. Trotz ihrer eigenen Schmerzen sah Regina, wie blass sie war; ihr weißes Gesicht glänzte von öligem Schweiß. »Regina, hör mir zu. Ich muss dir etwas sagen.«

»Kann das nicht warten?«

»Nein, mein Kind«, sagte Carta traurig. »Nein, ich glaube nicht. Dein Vater… du weißt doch noch, wie er gestorben ist?«

Es war ein schreckliches Bild, das durch die Wolken von Reginas Schmerz wehte. »Wie sollte ich das je vergessen.«

»Ich war es.«

»Was?«

»Ich war diejenige, mit der er untreu war. Ich war der Grund, weshalb er sich bestraft hat.«

Regina schnappte nach Luft. »Carta, wie konntest du? Du hast meine Mutter hintergangen.«

Cartas blutleere Lippen arbeiteten. »Er hat mir keine Wahl gelassen.«

»Ich kann seinen Kopf sehen!«, schrie Marina.

Carta richtete sich ein Stück weit auf, um es sich anzusehen. »Hilf mir, Marina…« Sie langte nach unten, um Reginas Damm zu stützen, und legte die Hand um den Kopf des Kindes. »Es hat die Nabelschnur um den Hals… Onkel, gib mir das Messer. Sofort, du alter Narr!« Trotz ihrer Schmerzen spürte Regina, wie Cartas Hände zitterten, während sie arbeitete.

Als die Nabelschnur durchgeschnitten war, glitt das Kind zügig heraus und fiel mit einem letzten Schwall Flüssigkeit in Marinas wartende Arme. Marina wischte Schleim vom winzigen Mund des Neugeborenen. Carta blieb bei Regina, bis die Nachgeburt herausgekommen war, und stopfte ihr dann Moos in die Vagina, um die Blutung zu stillen.

Trotz ihrer Schwäche und Erschöpfung hatte Regina nur Augen für ihr Kind, das mit dünner Stimme zu schreien begonnen hatte. »Zeig es mir…«

»Es ist ein Mädchen«, sagte Marina mit leuchtenden Augen. Sie hatte das Kind in eine saubere Decke gehüllt und beugte sich nun zu Regina herunter, damit sie das runde, rosafarbene Gesicht sehen konnte.

Carta sagte: »Ich glaube… ich glaube…« Und sie fiel nach hinten und sank zu Boden. Regina versuchte, nach ihr zu sehen, konnte aber den Kopf nicht heben.

»Cartumandua!«, rief Carausias. »Komm, komm, meine kleine Nichte, das geht doch nicht.« Er tastete nach einer kleinen Flasche; Regina wusste, dass sie einen Tollkirschenextrakt enthielt, ein Herzstimulans, das sie bei Exsuperius teuer erstanden hatten. Er versuchte, Carta ein paar Tropfen zwischen die Lippen zu träufeln, aber ihr Gesicht war wie eine wächserne Maske.

Die Göttin lag schwer auf Reginas Brust. Furcht und Zorn durchströmten sie. »Nein! Nein, du Sau, du Miststück, du Kuh, du Hure, Cartumandua! Du wirst mich nicht verlassen, du nicht auch noch, du Sklavin, nicht jetzt!«

Aber Carta antwortete nicht, nicht einmal, um sich zu entschuldigen. Das Kind schrie weiter, dünn und unheimlich.

 

An diesem Abend kam Severus von der Jagd zurück. Er sah das Kind, das Durcheinander in der Hütte, Cartas Leiche.

Severus blieb noch diese Nacht und die nächste. Er half Carausias und Marina, den Leichnam herzurichten, und grub mit dem Pflug ein flaches Grab in den felsigen Boden auf der Hügelkuppe. Doch als Carta begraben war, ging er fort. Er nahm nur mit, was er am Leib trug. Regina wusste, dass sie ihn nie wiedersehen würden.