9
Die Reise vom Wall nach Süden durch einen tristen, trüben britannischen Herbst war eine Abfolge verschwommener Eindrücke, ein böser Traum. Nichts an ihr glich dem Abenteuer mit Aetius vor fünf Jahren. Diesmal fuhren die drei - Regina, Cartumandua und Severus – nicht einmal mit einer richtigen Kutsche, sondern mit einem primitiven, schmutzigen, stinkenden Karren, der für den Transport von Heu und Jauche benutzt wurde. In den fünf Jahren hatte sich der Zustand der Straße erheblich verschlechtert; die Gräben am Straßenrand waren von Unkraut und Müll verstopft, die Wegsteine umgestürzt, zerbrochen oder gestohlen, und Schlaglöcher verrieten, wo die Einheimischen Steine aus dem Straßenbelag gebrochen hatten, um sie als Baumaterial zu verwenden. Auch die Raststationen und Herbergen wirkten reichlich heruntergekommen.
Aber das interessierte Regina alles nicht.
Sie hockte zusammengekauert mit Cartumandua hinten im Karren, in ihren cucullus gehüllt, und drückte die drei matres an ihren Bauch. Sie sprach nicht, wollte nichts spielen und aß nur widerwillig. Sie hatte nicht einmal Angst, trotz Severus’ fortwährender düsterer Warnungen vor der Gefahr, die ihnen von bacaudae drohte. Diese Vagabunden, die das Land unsicher machten, waren Flüchtlinge aus zugrunde gegangenen Städten und aufgegebenen Villen, nach abgewehrten Invasionen zurückgebliebene Barbaren oder sogar ehemalige Soldaten, die ihre Posten verlassen hatten. Die bacaudae waren Symptome des langsamen Zusammenbruchs der Gesellschaft der Diözese und mussten allesamt als Bedrohung aufgefasst werden.
Regina schlief, so viel sie konnte, obwohl das Holpern des Karrens sie immer wieder weckte. Nachts lag sie auf Strohsäcken oder manchmal auch nur auf Decken und Umhängen, die auf schmutzigen Fußböden ausgelegt waren, und hörte zu, wie Severus betrunken an Cartumandua herumfummelte. Manchmal blieb sie die ganze Nacht hindurch wach, bis der Morgen kam. In der Dunkelheit war sie wenigstens allein. Und wenn sie wach blieb, gelang es ihr während des trostlosen Tages eher, ins Vergessen des Schlafs zu entfliehen.
Aber wenn sie doch einmal schlief, fand sie sich beim Aufwachen jedes Mal enttäuscht in dieser unerfreulichen Wirklichkeit der endlosen, sinnlosen, schnurgeraden Straße wieder, einer Wirklichkeit, in der sie nun allein war, allein bis auf die matres – und vielleicht ihre Mutter, die sie verlassen hatte, um nach Rom zu gehen.
Schließlich erreichten sie eine ummauerte Stadt. Sie lag an einem Fluss, auf einer von Gehöften gesprenkelten Ebene. Hinter der Stadt erhob sich ein steiler Hügel mit einigen verstreuten Häusern an den Flanken und auf dem Gipfel.
Die Stadtmauer überragte Regina mindestens um das Doppelte. Sie war mit quadratischen grauen Schiefertafeln verkleidet, die jedoch an manchen Stellen zerbrochen oder entfernt worden waren, sodass der Mauerkern frei lag: große, eingepasste Bruchsteinblöcke mit Schichten aus flachen roten Ziegeln dazwischen. Verglichen mit dem gewaltigen Wall im Norden wirkte sie natürlich geradezu winzig.
Sie gelangten an ein Tor, eine massive Konstruktion mit zwei zylindrischen, zinnenbewehrten Türmen. Die Straße führte durch zwei große Torwege hinein; zwei kleinere Seitenpassagen waren offensichtlich für Fußgänger gedacht. Aber die Seitenpassagen waren von Trümmern blockiert, und einer der großen Torbogen war eingestürzt.
Ein Mann stand vor dem Tor und versperrte ihnen den Weg. Er trug die Überreste eines Harnischs, angelaufene Metallstreifen, die von mehrfach geflickten Lederbändern auf seiner Brust gehalten wurden. Er war bewaffnet – seltsamerweise aber nur mit einem Ding, das wie die eiserne Sichel eines Bauern aussah. Severus verhandelte mit ihm. Als ehemaliger Soldat hatte er sofort eine Gesprächsgrundlage mit dem Torwächter, und sie tauschten langweilige, unverständliche Details über Missionen, Ränge und Dienstpflichten aus.
Von den Mauern aus sahen andere Männer zu, Männer, die mit Schwertern und Bogen bewaffnet waren. Sie schauten abwägend zu Regina und Carta herunter. Regina blieb zusammengekauert in ihrem Umhang sitzen und gab sich Mühe, formlos und unbedeutend zu erscheinen.
Alter Soldat hin oder her, Severus musste einen Zoll entrichten, um in die Stadt eingelassen zu werden, was ihm ein vernehmliches Murren entlockte. Der Karren ratterte durchs Tor und holperte über Schutt. Die Mauer war so dick, dass der Torweg eine Art Tunnel war, und das Klappern der Pferdehufe hallte von den Wänden wider.
Als sie wieder ins Licht hinauskamen, waren sie in der Stadt – aber Regina sah zunächst nur überall Grün. Abseits der Straße wurde so gut wie jedes Fleckchen Boden landwirtschaftlich genutzt. Obst- und Gemüsegärten reihten sich aneinander, und Tiere streiften umher – Schafe, Ziegen, Hühner, ja sogar ein Schwein, das mit der Schnauze unter einem abgebrochenen Stück der Fahrbahn wühlte. Menschen eilten geschäftig hin und her, überall liefen Erwachsene und Kinder herum, alle in schlichte Wolltuniken und Umhänge gekleidet. Es roch penetrant nach Tieren und Essensdünsten, aber darunter lag ein noch stärkerer Gestank, der Fäulnisgeruch von Abwässern.
All das hatte gar keine Ähnlichkeit mit einer Stadt. Es war ein Stück Land, abgeteilt durch die Mauer. Hier und dort ragten jedoch imposantere Gebilde aus dem Grün – Bogengänge, Säulen, und dünne Rauchfahnen stiegen zum Himmel empor.
Gelenkt von Severus, bahnte sich der Karren vorsichtig einen Weg durch die Menge.
»So, da wären wir«, sagte Carta leise zu Regina. »Weißt du, wo du bist?« Als Regina nicht antwortete, fragte sie: »Interessiert es dich überhaupt?«
»In Verulamium«, blaffte Regina. »Ich bin ja nicht blöd.«
Carta lächelte. »Aber ich würde es ›Verlamion‹ nennen. Das war die Stadt meines Volkes, der Catuvellaunier. Damals, als wir Krieg gegen Caesar führten, unter unserem großen König Cymbeline…«
»Das weiß ich alles. Du bist also wieder zu Hause.«
»Ja.« Carta beugte sich vor und sah ihr ins Gesicht. »Aber es ist mein Zuhause«, sagte sie. »Ich bin jetzt keine Sklavin mehr.«
»Und werde ich nun deine Sklavin sein, Cartumandua?«
»Nein. Aber du bist hier zu Gast. Merk dir das.«
Regina wandte sich ab. Sie wollte nicht bei Carta sein, wollte nicht hier in Verulamium sein, wollte nirgendwo sein. Doch selbst sie war beeindruckt, als der Karren vor einem imposanten Stadthaus hielt, das an einer Straßenkreuzung stand. Ein Innenhof wurde von einem offenen Arkadengang mit schlanken Säulen umgrenzt. Im Hof selbst stand eine Hütte, vielleicht ein ehemaliges Pförtnerhaus, das nun jedoch mit Brettern vernagelt war. Man sah Spuren von Verfall, aber die weiß getünchten Wände und die roten Ziegeldächer waren weitgehend unbeschädigt.
Drei Personen traten aus den Gebäuden – ein älterer Mann und eine Frau, die gleichermaßen schlichte Wolltuniken trugen, sowie ein jüngerer Mann, der in leuchtendere Farben gekleidet war. Wie sich herausstellte, war die Frau eine Dienstmagd namens Marina. Sie half Severus, den Pferden das Geschirr abzunehmen, und führte sie zu einem kleinen Stall außerhalb des Gebäudekomplexes.
»Marina ist eine Dienstmagd, aber keine Sklavin«, flüsterte Carta Regina ins Ohr. »Denk daran.«
Der ältere Mann umarmte Carta strahlend, wahrte jedoch Distanz zu Severus. Er wandte sich Regina zu und verbeugte sich höflich. »Cartumandua hat mir in ihren Briefen alles von dir erzählt. Sei willkommen in unserem Haus. Ich bin Cartas Onkel – der Bruder ihrer Mutter. Mein Name ist Carausias.« Er war ein kleiner, untersetzter Mann, noch kleiner als Carta, mit den großen, schwieligen Händen eines Landarbeiters. Er hatte Cartas dunkle Hautfarbe, ihre dunkelbraunen Augen und auch ihr breites Gesicht; sein ordentlich gestutztes schwarzes Haar war allerdings von grauen Strähnen durchzogen, und seine breite Nase war abgeflacht und krumm, als wäre sie gebrochen.
»Und das ist mein Sohn. Er heißt Amator.«
Der Junge war ungefähr achtzehn. Seine kurze, extravagant gefärbte Tunika wurde über einer Schulter von einer silbernen Brosche zusammengehalten; die andere Schulter blieb unbedeckt. Er hatte dieselbe Hautfarbe wie seine Angehörigen, und sein Gesicht, so breit und grob wie das von Carta oder ihrem Onkel, konnte nicht unbedingt als hübsch bezeichnet werden. Doch als er sich wortlos vor Regina verneigte, war sein Blick intensiv.
Sie spürte, wie sich in ihrem Innern etwas regte: etwas Warmes, ja sogar Aufregendes – wenn auch gemischt mit der Angst und dem Abscheu, die sie angesichts von Septimius’ betrunkener Lust empfunden hatte. Sie wandte sich verwirrt ab. Ihr war bewusst, dass der Blick des Jungen ihr folgte.
Während Carta, Severus und die anderen den Karren entluden, brachte Carausias sie zu dem Zimmer, in dem sie schlafen würde. Es besaß einen schlichten Fliesenboden und grün gestrichene Wände. Zu Reginas Bestürzung standen zwei Betten darin, zusammen mit kleinen Schränken und Kisten. »Schläft Carta auch hier?«
»Nein.« Verlegen sagte er: »Carta und – äh – Severus wollen bestimmt zusammen sein. Ich habe ihnen ein weiteres Zimmer aufgemacht, in dem das Dach noch halbwegs in Ordnung ist… Marina wird hier bei dir schlafen.«
»Die Dienstmagd?«
Seine Miene gefror. »Marina ist eine gute Frau, und sie ist sauber und ruhig. Ich bin sicher, dass du dich wohl fühlen wirst.« Er zögerte. »Weißt du – Carta hat mir erzählt, was passiert ist. Ich weiß, dass du einiges durchgemacht hast.«
»Ich bin dankbar für eure Gastfreundschaft.«
Er winkte ab. »Schon gut. Ich werde Marina bitten, woanders zu schlafen, nur für eine Weile, bis du wieder zu dir gefunden hast. Vielleicht in der Küche. Sie ist eine gute Seele; sie hat bestimmt nichts dagegen. Du kannst das Zimmer eine Weile für dich allein haben. Was meinst du?«
Sie trat einen Schritt in das Zimmer. »Vielen Dank.«
»Möchtest du dich ausruhen? Falls du baden willst…«
»Nein.«
»Wenn Essenszeit ist…«
»Könnte ich hier essen? Auf meinem Zimmer?«
Carausias schien verblüfft zu sein, aber er breitete seine großen Hände aus. »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Ich werde Carta später zu dir schicken.«
»Ja. Das wäre schön…« Sie machte dem freundlichen kleinen Mann die Tür vor der Nase zu und zog sich erleichtert in die Dunkelheit und die Stille zurück.
Bald darauf rollte sich auf einem der Betten zusammen – demjenigen, das frischer roch – und schlief, bis Carta mit einer kleinen Schüssel Wasser kam, damit sie sich waschen und ihre Kleider reinigen konnte.
An diesem ersten Tag verließ sie ihr Zimmer lediglich, um die Latrine in dem kleinen Badehaus aufzusuchen. Carta brachte ihr etwas zu essen und rief ihr freundlich ins Gedächtnis, dass sie gern mit der Familie essen könne. Regina stand jedoch nur vom Sofa auf, um in einem leeren Schrank ihr lararium zu errichten, einen behelfsmäßigen kleinen Schrein, in dessen Zentrum mürrisch und stumm die drei matres standen. Sie stellte eine brennende Kerze daneben und gab ihnen etwas von ihrem Essen und dem mit Wasser versetzten Wein, den sie dazu bekommen hatte.
Sie würden ihr gegenüber nicht ewig Nachsicht walten lassen.
Am zweiten Tag schleifte Carta Regina aus dem Zimmer, machte mit ihr einen langsamen Rundgang um den Hof und zeigte ihr das Haus.
»Hier haben wir das triclinium.« So lautete das lateinische Wort für Speisezimmer, abgeleitet aus den Liegebetten, die um drei Seiten der Tische standen. Der Mosaikboden war unbeschädigt, die Wandbemalung – Säulenimitate und Blicke in märchenhafte Gärten – sauber und ordentlich, obwohl sie verblichen wirkte. In einer Ecke des Gebäudekomplexes gab es einen noch eindrucksvolleren Raum, der jedoch mit niedrigen Tischen und Kochgerätschaften, Töpfen, Pfannen und Haufen von Besteck und Geschirr voll gestopft war; an einer Wand lehnte eine Reihe unten schmal zulaufender amphorae. »Früher einmal war das ein Empfangsraum«, sagte Carta ein bisschen wehmütig. »Jetzt ist es die Küche. Es hat hier sogar eine Fußbodenheizung gegeben, aber Carausias meint, dass man keine Arbeiter bekommt, die sie instand halten. Durchs Kochen wird es hier sowieso warm genug. Und der Hof geht nach Süden hinaus, weißt du; im Sommer ist er ein richtig sonniges Plätzchen.«
Privatgemächer, ein kleines Badehaus und eine schmale Treppe, die zum Familienschrein hinunterführte, säumten die restlichen beiden Seiten des Hofes. Das Haus war imposant, wenn auch nicht so imposant wie die Villa von Reginas Eltern. Aber es hatte offenkundig bessere Zeiten gesehen. Viele der Zimmer waren mit Brettern vernagelt, und in einem schien es sogar gebrannt zu haben.
Während des Rundgangs sah sie auf der anderen Seite des Hofes ein Aufleuchten von Farbe, eine geschmeidige Bewegung. Es war der Junge, Amator. Er war ihnen gefolgt und beobachtete Regina mit ernstem Blick aus glänzenden Augen.
Regina zog sich in ihr Zimmer zurück, sobald sie Carta entkommen konnte.
Am dritten Tag klopfte es an die Tür. Sie machte auf und erwartete, wieder Carta vor sich zu sehen. Es war jedoch Carausias. Er lächelte sie an, die Hände über dem Bauch gefaltet. »Darf ich hineinkommen?«
»Ich…«
Bevor sie ablehnen konnte, hatte er schon die Türschwelle überschritten. Er schaute sich in dem Zimmer um, musterte ihre kleinen Stapel von Kleidern und Habseligkeiten und nickte respektvoll zu ihrem lararium. »Ich bedauere es wirklich sehr, meine Liebe, aber Marina braucht leider ihr Zimmer zurück. Es ist nicht sehr angenehm für sie, in der Küche zu schlafen. Und außerdem hat sie keine sauberen Kleider mehr.«
»Gut«, fauchte Regina und setzte sich mit verschränkten Armen aufs Bett. »Die Dienstmagd kann ihr Zimmer wiederhaben. Ich schlafe in der Küche. Oder im Stall bei den Pferden.«
»Also, das ist doch Unsinn.« Er hockte sich vor sie hin; im Halbdunkel wirkten seine Züge weicher. »Wir wollen nur, dass du dich bei uns wohl und geborgen fühlst.«
»Ich will nicht hier sein. Ich will nicht bei euch sein.«
Er schaute verletzt drein. »Und wo möchtest du sein?«
»In Rom«, sagte sie. »Bei meiner Mutter.«
Er seufzte. »Aber in Gallien wimmelt es von Barbaren, meine Liebe. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in absehbarer Zeit nach Rom reisen wird. Erst, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat. Und bis dahin«, sagte er etwas schärfer, »wäre es vielleicht ratsam, wenn du das Beste daraus machen würdest.«
Sie lachte ihn aus. »Das Beste? So etwas gibt es nicht. Ich sitze hier in dieser Bruchbude fest. Und…«
»Diese Bruchbude ist das Einzige, was verfügbar ist«, sagte er mit ruhiger, aber fester Stimme. »Und jetzt hör mir zu.
Vor nicht allzu langer Zeit waren wir – meine Frau, mein Sohn und ich, wir alle – noch Bedienstete wie Marina. Wir haben in einer Villa unweit der Stadtmauern gearbeitet. Als die Probleme anfingen, gerieten die Eigentümer der Villa in Schwierigkeiten. Sie führten ein verschwenderisches Leben und wollten nicht aufhören, Geld auszugeben, selbst als ihre Ersparnisse zur Neige gingen. Sie wollten uns als Landarbeiter verkaufen – uns alle –, aber wir waren schließlich keine Sklaven. Am Ende flohen sie und nahmen alles Wertvolle aus der Villa mit – das Geld, den Schmuck, die Töpferwaren, ja sogar einen Großteil des Mobiliars. Aber die Gebäude und das Land ließen sie zurück. Und uns.
Also haben wir das Landgut übernommen. Wir haben den Boden selbst bestellt und unsere Verwandten und Freunde in den Gehöften untergebracht. Bald hatten wir einen Überschuss erwirtschaftet, mit dem wir in der Stadt einkaufen konnten. Das ist erst drei Ernten her.
Nach dem zweiten Jahr hatten wir genug Ersparnisse angehäuft, um dieses Stadthaus zu kaufen; der Vorbesitzer wollte so schnell wie möglich nach Londinium fliehen. Unser Gut wird zwar noch von Verwaltern geführt, aber für uns ist es innerhalb der Mauern sicherer.
Wir haben Erfolg gehabt. Es gibt nur noch zehn Häuser wie dieses in der Stadt, und drei davon stehen leer. Zweifellos wird sich die Lage beruhigen, wenn der Kaiser seine Probleme bewältigt hat. Aber bis dahin werden wir tun, was wir Catuvellaunier immer getan haben. Wir werden hart arbeiten und einander helfen, und wir werden zurechtkommen.«
Er stand auf. »Du bist nicht einmal eine Catuvellaunierin. Aber Carta hat dich mitgebracht. Ich biete dir an, ein Teil dieser Familie, dieser Gemeinschaft zu werden. Du wirst hart arbeiten müssen, wie wir alle. Wenn du das tust, bist du willkommen. Wenn nicht – nun, wir können uns nicht einmal eine weitere Dienstmagd leisten. Das musst du verstehen.« Er stand wartend über ihr.
Schließlich sagte sie: »Die Küche.«
»Was?«
»Ich würde gern in die Küche gehen. Bitte.«
Er machte ein verdutztes Gesicht, sagte aber: »Na schön« und hielt ihr die Hand hin.
Marina arbeitete gerade in der Küche. Sie bereitete das Mittagessen für die Familie zu. In der Luft hing der starke Geruch einer Fischsoße, die Marina unter einen Salat aus Hülsenfrüchten und Obst mischte. Sie war eine gleichmütige, fröhlich wirkende Frau von ungefähr dreißig Jahren. Ihre braunen Haare waren straff nach hinten gekämmt und zu einem schlichten Knoten gebunden. Sie lächelte Regina an, offenbar nicht verärgert darüber, dass diese Fremde ihr so lange das Zimmer gestohlen hatte.
Regina schaute sich um. Eindrucksvolle, verblichene Wandbilder verschwanden hinter Borden, auf denen sich Mörser, Siebe und Käsepressen sowie Becher, Krüge, Teller und Schüsseln aus Metall, Glas und Ton stapelten. Die an den Wänden lehnenden, mehrfach ausgebesserten amphorae waren ihren Aufschriften zufolge einmal mit Olivenöl, Datteln, Feigen, Fischsoße und Gewürzen aus dem Osten gefüllt gewesen. Jetzt enthielten sie Nüsse, Weizen, Gerste und Hafer sowie Fisch und Fleisch – gesalzen, gepökelt oder geräuchert.
Es gab keinen Backofen, aber mitten auf dem Mosaikboden war eine Feuerstelle eingerichtet worden, und in die Decke darüber hatte man einen primitiven Kamin geschnitten. Heute brannte kein Feuer, aber die Malereien an der Decke und im oberen Bereich der Wände waren rußverschmiert. Die Hitze hatte viele tesserae des Mosaiks zerbrochen oder verbrannt. Über der geschwärzten Stelle war ein Gitterrost angebracht; darüber hing ein großer Kessel an einer Kette. Regina bemerkte, dass auf dem Mosaik ein schlankes, blasses Mädchen inmitten springender Delfine zu sehen gewesen war.
Marina nickte zu einem Mahlstein, der in einer Ecke des Raumes stand. »Wir brauchen Mehl. Ich werde später noch Brot backen. Kannst du mit dem Stein umgehen?«
Und so setzte sich Regina auf den Boden und fing an, nach Marinas Anweisungen Weizen zu mahlen. Bald umfingen sie die vertrauten, ewigen Gerüche und Geräusche der Küche, und während sie den Mahlstein betätigte – ihre Muskeln kribbelten von der ungewohnten Anstrengung –, spürte sie, wie sich ihre um die immer gleichen Bilder kreisenden Gedanken verflüchtigten.
Sie merkte es kaum, als die Tränen zu fließen begannen.
Aber Marina merkte es. Die Dienstmagd kam zu ihr und nahm sie in den Arm, tätschelte ihr den Rücken und sorgte dafür, dass sie die wenigen, körnigen Hand voll Mehl, die sie produziert hatte, nicht unbrauchbar machte.
Am nächsten Tag ging Carausias mit Regina in die Stadt, um auf dem Forum Einkäufe zu tätigen.
Sie brachen am hellen Vormittag auf – es war ein kalter, klarer, frischer Oktobertag –, und Carausias ermahnte Regina, auf der Hut zu sein. »In deiner Villa, ja sogar am Wall warst du geschützt. Aber in der Stadt ist das anders. Die Leute sind nicht immer nett. Viele von ihnen würden dir den Geldbeutel aufschlitzen – oder den Hals durchschneiden, wenn du Schwierigkeiten machst…«
Regina hörte ihm zu. Aetius hatte sie mit ähnlichen Warnungen überhäuft, seit sie sieben gewesen war, aber sie hatte sich trotzdem in der schmalen Stadt zurechtgefunden.
Die von ihren Mauern umgebene Stadt war wie eine Raute geformt. Ein Gittermuster aus Straßen durchzog sie kreuz und quer; beherrscht wurde es von der Straße nach Londinium, die von Nord nach Süd durch die Stadt führte und von einem großen Bogen überspannt wurde. Regina starrte dieses Monument aus behauenem Marmor an, das reicher verziert war als jedes andere Bauwerk, das sie in ihrem jungen Leben gesehen hatte. Doch an der Fassade klebten Efeu und Flechten und verdeckten die Inschrift an der Oberschwelle; eine gelangweilt wirkende Krähe hüpfte auf seinem mit Guano bedeckten Rückenschild herum.
In der Nähe des Bogens führte die Straße nah an einem sehr seltsamen Bauwerk vorbei. Ein offener Raum wurde von einer halbkreisförmigen Mauer eingefasst, die Regina um ein Vielfaches überragte; Stufen führten zur Brüstung hinauf. Carausias sagte, dies sei das Theater. Als sie fragte, ob sie die Stufen hinaufsteigen dürfe, erlaubte er es ihr mit einem nachsichtigen Lächeln.
Die Holzstufen waren alt und zerbrochen. Von der Brüstung aus schaute sie in eine Schüssel hinunter. Über nach unten hin gestaffelte Terrassen zogen sich halbrunde, hölzerne Sitzreihen, die jetzt geborsten und schmutzig waren. Vorn befand sich eine Bühne mit vier schlanken Säulen davor; sie ähnelte einem kleinen Tempel. Die einzigen Akteure auf der Bühne waren zwei Mäuse, die gerade von einer Säule zur anderen huschten.
Carausias folgte ihr. Er schnaufte ein wenig vor Anstrengung. »Hier finden vierhundert Personen Platz. Und die Theaterstücke – einige waren zu hoch für mich, aber die fabula togata haben mir gefallen, Komödien wie ›Die Anklage‹ und ›Was ihr wollt‹. Und dann gab es auch noch die Farcen – meine verstorbene Frau war besonders begeistert von den ›Weinpflückern‹ – was haben wir an der Stelle gelacht, wo der Bursche mit dem Traubenkorb gestolpert und hingefallen ist, und…«
All das sagte Regina nicht viel. Was ein Theaterstück war, wusste sie lediglich aus den Büchern ihres Großvaters. Das Theater war voller Müll, ein Kompost aus fauligen, weggeworfenen Nahrungsmitteln, Schutt und Tonscherben – selbst der aufgedunsene Kadaver eines Esels lag dort unten, wie es schien –, alles mit welkem Herbstlaub bestreut. Der Unrat stieg wie eine langsame Flutwelle die Bankreihen empor, und wenn der Wind drehte, drang Regina Verwesungsgestank in die Nase.
Carausias seufzte, zupfte sie am Ärmel und führte sie die Treppe hinunter.
Auf dem Weg zum Forum gingen sie durch eine von Läden gesäumte Nebenstraße. Die lang gestreckten, schmalen Gebäude standen sehr eng beieinander; im rückwärtigen Bereich befanden sich Werkstätten und Wohnungen. Regina warf einen Blick in einige Läden und sah, dass es sich um eine Fleischerei, eine Tischlerei und eine Metallwerkstatt handelte; beim Fleischer war am meisten Betrieb. Aber viele Läden waren geschlossen.
»Hier konnte man noch vor ein paar Jahren die feinste Keramik kaufen«, sagte Carausias bedauernd. »Auf Wunsch auch importierte Tonwaren, sogar aus Samos, aber die Sachen aus dem Südwesten und Norden Britanniens waren genauso gut und erheblich preisgünstiger. Jetzt bekommt man keine neuen Tongefäße mehr, ganz gleich, was man dafür bezahlt; wir müssen uns einfach irgendwie behelfen und die alten ausbessern, bis der Kaiser seine Probleme gelöst hat.« Er betrachtete sie. »Wie wär’s mit dir, Regina? Hast du schon einmal darüber nachgedacht, was du machen möchtest, wenn du älter bist? Vielleicht könntest du töpfern lernen. Dieser Laden wäre bestimmt für ein paar Sesterzen zu haben.«
Regina hatte keine Ahnung, wie Tonwaren hergestellt wurden, stellte sich jedoch vor, dass viel klebriger Lehm und harte Arbeit dazugehörten. Höflich sagte sie: »Ich glaube nicht, dass meine künstlerische Begabung dafür reicht, Carausias.«
Sie erreichten das Forum, einen freien Platz voller Stände aus Tuch und Holz. Es wimmelte von Menschen, die kauften und verkauften, eingehüllt in eine Dunstwolke, die nach Gewürzen, Fleisch, Gemüse und tierischen Exkrementen stank. Hühner liefern gackernd herum, gejagt von Kindern mit schmutzigen Gesichtern.
Um dieses Gewühl herum war das Forum jedoch auf drei Seiten von kleinen Tempeln und Säulengängen umgeben. Und auf der vierten Seite stand eine große Halle aus Backstein, Feuerstein und Mörtel mit einem roten Schindeldach, die alle anderen Gebäude der Stadt überragte. Regina blieb der Mund offen stehen. Außer dem Wall hatte sie noch nie ein so gewaltiges Bauwerk gesehen.
Carausias stupste ihr sanft mit dem Finger unters Kinn und schloss ihr den Mund. »Jetzt musst du aufpassen, denn wenn die Schurken sehen, dass du abgelenkt bist…«
»Ist das ein Tempel?«
»Nein – obwohl es in der Basilika tatsächlich einen Schrein für Aedes, den Stammesgott, gibt, ebenso wie Schreine für Christus und den Kaiser. Schau, kannst du die Inschrift da oben lesen?«
Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, die in den Stein gehauenen lateinischen Zeichen zu entziffern. »›Für den Kaiser Titus Caesar Vespasian, Sohn des als Gott verehrten Vespasian…‹«
»Das ist die Basilika. Hier kommt der Stadtrat zusammen, hier regelt das Gericht Streitigkeiten, hier arbeiten die Steuer- und Zensus-Behörden – und Schulräume gibt es auch.«
Unter der kaiserlichen Verwaltung waren die Städte die lokalen Regierungszentren gewesen. Und obwohl das Steuersystem nach der Rebellion während Constantius’ Herrschaft praktisch implodiert war, hielten die örtlichen Grundbesitzer nach wie vor das Gerichtssystem aufrecht und diskutierten darüber, wie man Abgaben erheben konnte, um die städtischen Einrichtungen wie die Abwasserkanäle, die Bäder und die Basilika selbst zu erhalten, die allmählich verfielen. Das seien alles nur provisorische Maßnahmen, erklärte Carausias immer wieder mit Nachdruck, bis der Kaiser seine Probleme bewältigt habe.
»Aber die Leute sollten etwas mehr staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen«, klagte er. »Heutzutage stecken sie ungeheuer viel Geld in ihre Villen oder Stadthäuser, aber die Abwasserkanäle von Verulamium lassen sie verkommen. Der Römer hat schon immer in einem Spannungsverhältnis zwischen staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein und der Verehrung der Familie – seiner lebenden und toten Angehörigen – gelebt. In schweren Zeiten zieht er sich in die Familie zurück, verstehst du. Aber was glaubt er, wovon die Soldaten bezahlt werden, die ihn beschützen, wenn es keine Steuern gibt, und wie sollen Steuern eingezogen werden, wenn die Städte nicht wären? Hm? Hm? Und darum bezahle ich dafür, dass die Abwasserkanäle, die Wasserleitungen und alles Übrige instand gehalten werden können. Ich weiß, wo meine Interessen liegen.«
All das kümmerte Regina nicht sonderlich.
An Carausias’ Seite schlenderte sie über das Forum und sah sich die Marktstände an. Sie suchten Gewürze, Olivenöl und vor allem Töpferwaren, fanden aber praktisch nur regionale Produkte. Ein großer Teil der Geschäfte wurde per Tauschhandel abgewickelt – Fleisch gegen Gemüse, ein alter Tonkrug gegen ein paar Schuhnägel –, obwohl einige Leute, darunter auch Carausias, von Hand ausgestelltes Ersatzpapiergeld benutzten.
Regina fand, dass die Obst- und Gemüseauslagen erbärmlich aussahen. Sie befingerte einen Bund langer, dünner, farbloser Möhren. Carausias sagte ablehnend: »Manchmal arbeiten Leute aus der Stadt auf Feldern, die seit den Zeiten ihrer Urgroßväter nicht mehr bestellt worden sind. Sie haben nicht die leiseste Ahnung. Und das kommt dann dabei heraus.« Regina legte die Möhren schuldbewusst wieder hin. Sie stammten vom Stand einer dünnen Frau mit bleicher, schmutziger Haut und vorstehenden Zähnen. Ein Kind mit aufgeblähtem Bauch klammerte sich an ihr Bein.
Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt hatten – weitgehend ohne Erfolg –, kehrte Carausias mit Regina zur Straße nach Londinium zurück; sie ließen das Forum hinter sich und gingen weiter nach Südosten.
Schließlich gelangten sie zu einem Tempel. Er stand auf einem Platz, wo die Hauptstraße sich gabelte; dank seines Standorts war er wie ein V geformt. Ein dreieckiger Hof lag vor einem purpurrot gestrichenen Gebäude.
Es roch nach Holzrauch oder etwas Ähnlichem. Regina schnupperte. »Das riecht gut.«
»Verbrannte Kiefernzapfen.« Carausias betrachtete sie aufmerksam. »Weißt du, was das für ein Gebäude ist? Wie steht’s mit der Inschrift?« Über dem Haupteingang zum Hof war eine Widmung an die dendrophori der Stadt angebracht. »Das heißt ›Zweigträger‹.«
»Ich verstehe nicht.«
Carausias legte ihr die Hand auf die Schulter. »Cartumandua hat mir von deinem Vater erzählt, mein Kind.«
Sie merkte, wie sich ihre Miene verschloss.
»Das ist ein Tempel der Kybele. Sie ist hier sehr beliebt. Ich komme selbst hierher, um zu ihr zu beten. Wenn du mit hineinkommen möchtest…«
»Nein!«, fauchte sie.
»Du solltest deinen Frieden mit den Göttern machen – und mit dem Andenken an deinen Vater. Und auch mit dir selbst.«
»Aber nicht heute.«
»Nun ja, vielleicht ist das klug. Aber der Tempel wird immer hier sein und auf dich warten. Wollen wir nachsehen, was Marina uns zubereitet hat? Und wir müssen noch Wasser holen.«
Er nahm sie an der Hand, und zusammen gingen sie durch das schmuddelige Menschengewühl von Verulamium zurück nach Hause.
Auf Cartas nachdrücklichen Wunsch hin hatte Regina ihre Schriftrollen und Tafeln vom Wall mitgenommen. Carta meinte, sie solle weiterhin lernen, denn Aetius hätte es sicher so gewollt.
Anfangs versuchte sie es. Sie lernte im Hof des Hauses oder in ihrem Zimmer, wenn Marina nicht da war. Aber sie musste allein arbeiten. Hier gab es niemanden, der sie unterrichten konnte. Trotz seines ersichtlichen Geschäftssinns und seiner guten Menschenkenntnis war Carausias nicht gebildeter als seine Nichte, und seine Hilfe beschränkte sich darauf, ihr Anekdoten aus Theaterstücken zu erzählen, die er vor über zehn Jahren gesehen hatte und an die er sich nur noch undeutlich erinnerte. Doch er konnte es sich gewiss nicht leisten, einen Lehrer anzustellen.
Das einsame Lernen langweilte Regina in zunehmendem Maße. Und als die Wochen ins Land gingen und die Tage mit dem Herannahen des Winters kürzer wurden, erschien ihr die Arbeit immer weniger lohnend. Wen würde es jemals interessieren, ob sie Listen von Kaisern mitsamt den Daten ihrer Thronbesteigung auswendig herbeten konnte oder nicht? In Verulamium wusste man ja noch nicht einmal genau, wer der gegenwärtige Kaiser war.
Und außerdem lenkte Amator sie ab.
Eines Tages kam er hereingeschneit, als sie gerade in ihrem Zimmer saß und zu lernen versuchte. »Lernen, lernen, lernen«, zog er sie auf. »Immer dasselbe. Du bist so langweilig.«
»Und du bist ein fauler Tölpel, der nichts Besseres zu tun hat, als Leute zu ärgern«, schoss sie zurück und wiederholte damit eine der spöttischen Bemerkungen seines Vaters.
Amator schlenderte zu Marinas Bett. Er grinste Regina an, kniete sich hin und tastete unter der Matratze herum. »Aha!«, verkündete er triumphierend und zog einen blutigen Lappen heraus. Es war einer der Lendenschurze, die Marina während ihrer Periode als Binden benutzte. Er schnupperte an dem getrockneten Blut und rieb es an seine Wange. »Ah, der Duft einer Frau…«
Regina lachte, war aber zugleich empört. Sie legte ihren Papyrus weg und lief hinter ihm her. »Das ist ekelhaft! Gib her!«
Aber er weigerte sich, und sie jagte ihn eine Weile durchs Zimmer. Sie hatten eine Methode entwickelt, einander nachzulaufen, ohne sich zu berühren, nah an den anderen heranzukommen, jedoch ohne Körperkontakt aufzunehmen, ein Spiel mit subtilen, unausgesprochenen Regeln.
Endlich gab er auf, warf sich auf Marinas Bett und stopfte den blutigen kleinen Lappen wieder dorthin, wo er ihn weggenommen hatte.
»Sie wird es merken«, sagte Regina.
»Und wenn schon. Es ist ja nur Marina.« Er stand wieder auf und ging zu Reginas lararium in der Ecke. »Das habe ich mir noch nie richtig angesehen.« Er hob eine der matres auf. »Bei Kybeles linker Brustwarze, wie hässlich.«
»Stell das hin.«
»Und wie billig.«
»Stell das hin.«
Er blickte auf, überrascht von ihrem Ton. »Schon gut, schon gut.« Er stellte die Statuette hin – nicht an die richtige Stelle; sie versprach sich, das später zu korrigieren. »Für diesen Unsinn verschwendest du also jeden Tag gutes Essen und guten Wein«, sagte er und musterte sie. »Aber hast du schon mal einen echten Gott gesehen?«
»Was meinst du damit?«
Statt einer Antwort winkte er ihr, ihm zu folgen, und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Natürlich ging sie ihm nach.
Amator hatte seine eigenen Aufgaben im Haus. Carausias versuchte, ihn in der Führung des Haushalts zu unterweisen, die Ursache vieler Konflikte zwischen den beiden. Aber er schien immer reichlich Freizeit zu haben, und einen großen Teil davon verbrachte er offenbar gern mit Regina. Als er herausfand, dass sie das Spiel »Soldaten« mochte, erklärte er sich zum Experten, grub in irgendeinem Winkel des Hauses die alten Figuren aus und baute sie im Hof auf, wo sie fortan zu spielen pflegten. Manchmal vergnügten sie sich auch mit dem Ball, oder sie spielten Nachlaufen in den Säulengängen oder auf den Wiesen außerhalb der Stadtmauern. Allmählich waren erste zaghafte Ansätze einer Beziehung zwischen ihnen entstanden.
Doch Amator – mit seinen achtzehn Jahren ein gutes Stück älter als sie – hatte auch eine gewisse Scharfkantigkeit. Vielleicht genoss sie die Unterströmung von Gefahr, die sie bei ihm spürte, einem Jungen, der so viel mehr wusste als sie, bestimmt so viel mehr getan hatte und sich unerklärlicherweise dennoch so für sie interessierte. Amator war rätselhaft, verwirrend, irgendwie bezaubernd – aber vor allem war er amüsant, und im Gegensatz zu den tristen Stadtbewohnern kleidete er sich immer farbenfroh und stilsicher.
Cartumandua wahrte in Bezug auf diese Dinge ein frostiges Schweigen.
Sie umrundeten den Hof, bis sie zum Kopfende der Steintreppe kamen, die zu Carausias’ Schrein hinabführte.
Regina trat zurück. »Nein. Das darf ich nicht. Carausias wäre bestimmt nicht damit einverstanden.«
»Nun ja, Carausias ist auch nicht damit einverstanden, dass er kahlköpfig, fett und alt ist, aber er muss damit leben. Komm schon – wenn du keine Angst hast.« Er setzte den Fuß auf eine Stufe, dann auf die nächste, und plötzlich lief er hinunter und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Nach kurzem Zögern folgte sie ihm.
Der Schrein war nicht viel mehr als eine Grube im Boden. Sie hörte ein kratzendes Geräusch, dann hielt Amator eine Kerze hoch. Sein Gesicht schien im Dunkeln zu schweben.
Im unbeständigen Licht sah sie über den Mauern dieses kleinen unterirdischen Schreins eine Schicht dunklerer Erde. Als sie daran kratzte, zerbröselte sie und hinterließ etwas Schwarzes auf den Fingern, wie Ruß. Später fand sie heraus, dass Verulamium in seiner kurzen Geschichte zweimal niedergebrannt worden war und dass es sich bei diesen Ascheschichten um Überbleibsel jener Katastrophen handelte.
In die Wand war eine überwölbte Höhlung gehauen worden. Darin stand eine kleine Figur, offenbar aus Bronze – ein Mann auf einem Pferd. Auf seinem übergroßen Kopf saß ein Helm mit Federbusch. Vor ihm lagen kleine Opfergaben, vielleicht ein Anteil an Speisen.
»Siehe«, forderte Amator sie spöttisch-weihevoll auf. »Mars Toutatis, der Kriegsgott der Catuvellaunier. Als römischer Mars betrachtet, solange es politisch opportun war. Was nun – glaubst du, er wird Christus werden? Müssen wir demnächst ein Chi und Rho über seinem Kopf einmeißeln?«
»Du solltest nicht so reden«, sagte sie leise.
»Oder was? Pinkelt mir sein Pferd sonst ans Bein?«
»Wir sollten nicht hier unten sein.«
»Da hast du vermutlich Recht. Aber niemand wird es erfahren.« Er beugte sich vor und blies die Flamme aus. Es war stockfinster, bis auf das schwache, diffuse Tageslicht, das vom Treppenschacht hereinfiel. Sie spürte Amators schwere Wärme, keine Handbreit von ihr entfernt, und sein Atem wehte heiß an ihre Wange.
Er wich zurück. Seine Tunika raschelte leise. »Jetzt haben wir beide ein Geheimnis.« Er lachte, und seine Füße klapperten über die Stufen. Sie folgte ihm hinauf ins Tageslicht, doch als sie oben ankam, war er fort.