11
»… Der Gedanke, dass der Mensch seit der Erschaffung der Welt mit angeborenen Fehlern behaftet sei, ist nur ein künstliches Erzeugnis unserer schwierigen Zeit. So wie der kluge Bauer seine Ernte einfährt und seinen Wintervorrat beiseite legt, so wird sich ein Gerechter durch gute Taten, Liebe und die Freude Christi seinen Eintritt in Gottes ewiges Königreich verdienen…«
Die Stimme des christlichen Philosophen war hoch und dünn, und nur Bruchstücke dessen, was er zu sagen hatte, wurden von der sanften Brise, die über die Hügelkuppe wehte, an Reginas Ohr getragen. Die Menge, die sich um sie drängte, tat ihr Bestes, um seine Worte ebenso zu verstehen wie die Erwiderungen der konkurrierenden Denker, die diese »pelagische Häresie« zurückwiesen und den deprimierenden Gedanken vorzogen, dass die Menschen mit hässlichen, befleckten Seelen in diese Welt geboren wurden.
Sie unterdrückte ein Seufzen, und ihre Aufmerksamkeit schweifte ab. Es wollte schon etwas heißen, dachte sie, wenn das aufregendste Ereignis in ihrem Leben eine Debatte zwischen zwei Splittersekten der Anhänger Christi war. Eigentlich mochte sie die Christen nicht; sie fand ihre Intensität und ihre Angewohnheit, mit ausgebreiteten Armen und erhobenen Händen und Gesichtern zu beten, beunruhigend und unsympathisch. Aber sie wussten wenigstens, wie man sich in Szene setzte.
Und immerhin, die kleine christliche Gemeinde hier auf dem Hügel blühte und gedieh. Er lag außerhalb von Verulamium, in der Nähe des protzigen Schreins, der über dem mutmaßlichen Grab von Alban, dem ersten Märtyrer der Stadt, errichtet worden war – angeblich sogar dem ersten christlichen Märtyrer in ganz Britannien. Um den Schrein als Mittelpunkt hatte sich eine Gruppe hölzerner Rundhäuser und rechteckiger Hütten angesammelt; sogar ein kleiner freier Bereich, der als Marktplatz diente, war entstanden. Der Schrein – das einzige steinerne Bauwerk hier – war ersichtlich aus Marmor errichtet worden, den man aus einem der Bogengänge der alten Stadt herausgeschnitten hatte; lateinische Inschriften, eine Sprache, die nur noch wenige sprachen, waren ohne viel Federlesens weggemeißelt worden. An den entsprechenden Stellen hatte man dann das Chi und Rho, das Symbol der Christen, in den Stein gekratzt.
Dieses Hügeldorf war noch klein und in seinem groben, ungeplanten Durcheinander kaum eine römische Gemeinde. Aber Pilger kamen von weither, um Albans martyrium zu besuchen, und brachten ihren Reichtum mit. Selbst heute mochten es vierzig Menschen sein, die sich dieses trockene Gerede über das Wesen der Sünde anhörten – eine große Versammlung für Verulamium in diesen Zeiten –, und viele von ihnen trugen aus diesem Anlass Tuniken und Umhänge in leuchtenden, fröhlichen Farben. Einige hatten ihre Kinder mitgebracht, die nun zu ihren Füßen spielten. Selbst ein Verkäufer war da, der den Leuten eifrig gebratenes Fleisch anbot und zu der seltsamen Karnevalsatmosphäre beitrug.
Regina schaute auf die alte Stadt hinunter. Von hier aus konnte sie mühelos die Linien ihrer Mauern erkennen, die Rautenform, die der Fluss auf die Ebene zeichnete, und das ordentliche Gitterwerk der Straßen, das wiederum mit den nach Norden, Süden und Westen führenden Straßen verbunden war. Dort unten herrschte ein buntes Treiben, Karren und Fußgänger waren auf den Hauptstraßen unterwegs und passierten die Tore, und um die Stände auf dem Forum herrschte dichtes Gewühl. Sie sah jedoch auch, dass Teile der Mauer niedergerissen worden waren und das Grün in den sechs Jahren, die sie nun hier war, wie eine Flut angestiegen war, das Stadtzentrum eingeschlossen und die eingestürzten Hüllen verlassener Gebäude überschwemmt hatte.
Carausias beklagte sich, dass die Gemeinde um den Schrein der alten Stadt das letzte Blut abzapfte. Aber das interessierte Regina nicht weiter. Weshalb sollte sie sich den Kopf über die Instandhaltung öffentlicher Gebäude, die Besoldungsprobleme von Soldaten oder die Maßnahmen zur Fernhaltung von bacaudae aus der Stadt zerbrechen? Sie war achtzehn Jahre alt. Sie wollte nur eines: sich amüsieren. Und wenn überhaupt irgendwo etwas Aufregendes geschah, dann hier auf dem Hügel der Christen.
»… Wer hätte je gedacht, dass meine kleine Regina Studentin der Theologie werden würde?«
Es war Amator. Beim Klang seiner Stimme fuhr Regina herum.
Er stand nah bei ihr, keine Handbreit entfernt. Er trug eine leuchtend bunte, gelb-grüne Tunika und ein kunstvoll gearbeitetes Halstuch aus einem Stoff, der wie Seide aussah; es wurde von einer kleinen Spange an seiner Kehle zusammengehalten. Das dichte schwarze Haar war aus dem sonnengebräunten Gesicht nach hinten gekämmt und mit Puder und Öl eingerieben. Den Mann neben ihm kannte sie nicht: Er schien ungefähr im selben Alter zu sein, ein stämmiger Bursche, der eine Tunika im Barbarenstil trug, aus Leder und Wolle, geschmückt mit einer großen, grob gefertigten silbernen Brosche.
Regina hatte Amator seit drei Jahren nicht mehr gesehen, seit er nach Gallien gegangen war – um, wie er sagte, »sein Glück zu machen«. Dennoch hatte sein Blick dieselbe forschende Intensität wie eh und je, und sie reagierte unwillkürlich mit einer Aufwallung von Wärme im Bauch und spürte, wie ihr die Röte bis in die Wangen stieg. Mit achtzehn war sie jedoch kein Kind mehr. Und inzwischen war er nicht mehr der einzige Mann, der sie jemals so angestarrt hatte.
Sie hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. »Du hast mich erschreckt.«
»Da möchte ich wetten. Und, hast du mich vermisst, kleines Huhn?«
»Oh, warst du weg?« Regina strich Amator mit einem Finger über die Wange. Seine Augen wurden groß; er wäre beinahe vor ihrer Berührung zurückgezuckt. »Die Sonne hat dich verändert.«
»Sie scheint stärker auf das südliche Gallien.«
»Sie hat dein Gesicht in altes Leder verwandelt. Schade – früher hast du weitaus besser ausgesehen.«
Amator schaute finster drein.
Sein Freund lachte. »Sie hat dich durchschaut, Amator.« Er hatte einen starken, beinahe unverständlichen Akzent. »Du hast ihn mit deinem Schwert durchbohrt, junge Dame; jeden Morgen verbringt er ungeheuer viel Zeit damit, sich die Wangen einzucremen und zu pudern, um seine helle Hautfarbe wiederzubekommen.« Sein Name war Athaulf, wie sich herausstellte; er verneigte sich und küsste ihr die Hand. Sein auffälliger Barbarenschmuck funkelte. »Ein hübsches Gesicht und eine scharfe Zunge«, sagte er.
Amator sagte: »Aber du, Regina, du bist noch schöner geworden – aber vielleicht hätte ich dich nicht so lange allein lassen sollen, wenn diese staubtrockene Theologie der Höhepunkt deines Lebens ist.«
Sie seufzte. »Das Leben war ein bisschen langweiliger, seit du fortgegangen bist, Amator«, gestand sie. Langweiliger und ohne die Scharfkantigkeit, das Funkeln, das Kribbeln der Gefahr, die sie immer mit Amator in Verbindung gebracht hatte.
»Nun bin ich ja wieder da…«
»Und schon ruft die Arbeit«, erinnerte ihn Athaulf. »So schwer es mir fällt, mich von der jungen Dame loszureißen, sind wir nicht mit diesen Grundbesitzern verabredet?«
»Sind wir, sind wir. Ich bin jetzt Geschäftsmann, Regina. Geschäft, Eigentum, Reichtum, äußerst wichtige Dinge jenseits des Meeres. Deshalb muss ich mich mit alten Scheintoten wie meinem Vater abgeben, obwohl ich viel lieber mit dir meine Zeit verbringen würde.«
»Aber deine Geschäfte dauern doch nicht den ganzen Tag«, sagte sie so gelassen, wie sie konnte.
»Nein, in der Tat.« Er warf Athaulf einen Blick zu. »Ich sage dir was. Warum feiern wir kein Fest?«
Sie klatschte in die Hände, obwohl ihr bewusst war, dass sie kindlich wirken musste. »Oh, wie schön! Ich sage Carausias, Cartumandua und Marina Bescheid. Wir werden den Hof vorbereiten…«
»O nein, nein«, unterbrach er sie sanft. »Von dieser traurigen Truppe wollen wir uns doch nicht die Stimmung verderben lassen. Feiern wir unser eigenes Fest! Komm zum Badehaus. Sagen wir, kurz nach Sonnenuntergang?«
»Zum Badehaus? Aber dort geht niemand mehr hin. Es hat kein Dach!«
»Umso besser, umso besser; nichts eignet sich besser als ein wenig verblichene Größe, um das Blut zum Fließen zu bringen. Also, nach Sonnenuntergang.« Er hob eine Augenbraue. »Außer du bist mit deiner Theologie im Rückstand und musst noch etwas nachholen.«
»Ich werde da sein«, sagte sie ruhig. »Einen guten Tag, Amator. Und dir auch, Athaulf.« Damit drehte sie sich um und ging mit schwingenden Hüften davon; sie war sich bewusst, dass sie ihr stumm nachschauten.
Doch sobald sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war, rannte sie in den Hügel hinunter bis nach Hause.
Schon in den wenigen Jahren, die sie nun hier lebte, war es immer schwerer geworden, sich einen Weg durch die Straßen Verulamiums zu bahnen.
Einige der verlassenen, dachlosen, von Bränden ausgehöhlten Häuser waren endgültig am Einstürzen. Der Diebstahl von Schindeln und Mauersteinen hatte den Verfall beschleunigt, obwohl er nachgelassen hatte, weil die meisten neuen Bauten aus Flechtwerk und Lehm bestanden und niemand mehr viel Verwendung für Steine hatte. Pflanzen sprossen auf Mauern und Simsen. Die ehemaligen Obst- und Ziergärten waren von Unkraut überwuchert: Löwenzahn, Gänseblümchen, Weidenröschen. In einigen schon vor längerer Zeit aufgegebenen Gärten wuchsen die Büsche und Schösslinge hüfthoch oder höher. Da die Einwohnerzahl der Stadt kontinuierlich gesunken war, hatte niemand diese brachliegenden Flächen auch nur als Weideland genutzt. Die wenigen neuen Gebäude – nur Flechtwerk und Lehm mit primitiven Strohdächern – waren zumeist auf den alten Straßen erbaut, wo die Gefahr einstürzenden Mauerwerks am geringsten war. Man musste also die Straße verlassen und die Häuser umgehen, über Schutthaufen klettern, an zerstörten Abzugsrinnen und verstopften Abwasserkanälen vorbeigehen, die niemand mehr reparierte, und den Kindern, Hühnern und Mäusen ausweichen, die überall herumliefen.
Einmal kam sie an einem Grab vorbei, das auf primitive Weise in die nackte Erde gegraben und mit einer Holztafel gekennzeichnet war. Genau genommen war die Beerdigung innerhalb der Stadtmauern nach wie vor gegen das Gesetz, genauso wie unter der römischen Herrschaft. Aber die Magistrate traten selten zusammen, und wenn, dann hörte niemand darauf, was sie verkündeten.
Selbst die große Basilika war vom allgemeinen Verfall betroffen. Ihre Mauern standen zwar noch, aber nachdem die Grundbesitzer und ihre Räte sie endgültig aufgegeben hatten, war ihr Dach eingestürzt, und Vögel nisteten in den leeren Höhlen ihrer klaffenden Fenster. Doch das Gebäude wurde durchaus noch genutzt. Selbst ohne das Dach boten die dicken Mauern einen gewissen Schutz vor dem Wetter, und so war in ihrem Innern – auf dem Boden der großen Halle – ein Miniaturdorf entstanden, mit Dachpfosten und in die Mauern getriebene Balken, die kleine Holzschuppen stützten. Es war ein außergewöhnlicher Anblick. Wenn man einen Beweis für das schwere Versäumnis des Kaisers suchte, seinen Pflichten nachzukommen und die Dinge zu regeln, dachte Regina, dann war er in diesem Bild der Schuppen zu finden, die sich furchtsam in den Windschatten der mächtigen Mauern duckten. Wenn wieder Normalität einkehrte, würde es schrecklich viel zu tun geben, um all das zu reparieren.
Dennoch herrschte auf dem Forum, dem schlagenden Herzen der Stadt, das gleiche Gedränge wie immer. Regina stürzte sich entschlossen in das geräuschvolle, stinkende Gewühl.
Sie war bei den Händlern des Forums beliebt, wenn auch nur, weil sie jünger war als die meisten von ihnen. In der Stadt sah man heutzutage nur noch wenige junge Menschen, und noch weniger, die über Geld verfügten. Die Stadt hatte ihre Einwohnerzahl noch nie aus eigener Kraft halten können; dazu war die Säuglingssterblichkeit immer zu hoch gewesen. Doch da es keine Arbeit mehr gab, war der Strom der Zuwanderer vom Land längst versiegt. Jedenfalls machte sich Regina ihre Jugend und Energie nach besten Kräften zunutze und feilschte erbarmungslos mit Männern mittleren Alters, die eigentlich klüger hätten sein sollen.
Heutzutage wurden an den Ständen zumeist Obst, Gemüse und Fleisch aus den umliegenden Gehöften und Gärten angeboten. Es gab nur sehr wenige Handwerksprodukte zu kaufen. Aber manchmal waren echte Schätze zu finden – es kam vor, dass eine Ladung Broschen, Parfüms oder Stoffe vom Festland ihren Weg hierher fand oder dass der Inhalt eines Stadthauses oder einer Villa von deren Besitzern verkauft wurde, die auf der Suche nach einem besseren Leben andernorts Tabula rasa gemacht hatten.
Als Regina an diesem Tag die Stände durchstöberte, hatte sie Glück. Sie fand ein Schultertuch aus gelber Wolle, das, wie der Verkäufer schwor, aus Karthago stammte, und sogar einen Satz Ringe – nur aus Bronze, aber in einen davon war ein Intaglio eingesetzt, ein geschnittener Stein, mit dem irgendeine vornehme Dame einmal Dokumente gesiegelt hatte. Sie hätte für all das in bar bezahlen können, musste aber eine hübsche Eisenbrosche in Form eines Hasen hergeben, weil der Verkäufer auf einem Tauschhandel bestand.
Danach rannte sie, vor Energie berstend, zum Stadthaus zurück. Alle wussten von Amators Heimkehr, und Carausias strahlte, weil sein Sohn von seiner langen Reise zurück war. Regina rief nach Cartumandua. An einem solchen Tag konnte nur Carta, die in der Villa von Julia persönlich ausgebildet worden war, Regina bei den Vorbereitungen für ihr Fest helfen.
Regina lief in das Zimmer, das sie nach wie vor mit Marina teilte, und warf ihre Einkäufe aufs Bett. Sie durchstöberte ihre Schminke und ihren Schmuck. Da der Platz auf den kleinen Holzborden, auf denen sie ihre Sachen lagerte, knapp wurde, schob sie die drei kleinen matres beiseite, breitete ihre neuesten Broschen aus und versuchte zu entscheiden, welche am schönsten glänzte. Neben dem Schmuck sahen die matres wie das aus, was sie waren, nichts weiter als stumpfe, primitiv behauene Steinklumpen.
Gleich nachdem Carta ihre Pflichten in der Küche erfüllt hatte, kam sie, um Regina bei ihrer Toilette zu helfen. Sie brachte warmes Wasser, Handtücher und einen Schaber für die Hautreinigung. Mithilfe von Pinzette, Nagelreiniger und Ohrlöffel sorgte sie dafür, dass nicht der kleinste Makel zurückblieb, und flocht und schmückte ihr geduldig das Haar. Und sie träufelte Parfüm auf ihre Haut, schöpfte es mit einem Bronzelöffel aus kleinen Fläschchen. In der Zwischenzeit durchwühlte Regina ihre wachsende Sammlung von Haarnadeln und emaillierten Broschen, Glas- und Gagatperlen, Fingerringen und Ohrringen und suchte sich diejenigen aus, die sie anlegen wollte.
Während Carta Holzkohle zubereitete – sie zermahlte sie mit einem so kleinen Stößel, dass sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger halten konnte, in einem ihrer kostbarsten Besitztümer, einem winzigen Mörser –, ließ sie Regina jedoch wissen, wie sehr sie all dies missbilligte. »Gutes Geld für Broschen, Haarnadeln und Halstücher auszugeben! Du weißt doch, worauf Carausias spart…«
In Britannien hatte sich die Lage immer weiter verschlechtert. Es war genau so, wie Aetius ihr vor langer Zeit zu erklären versucht hatte. Es hatte ein großes Rad aus Steuereinkünften und Ausgaben des Staates gegeben, wobei die Städte die Nabe waren; nun war dieses Rad jedoch zerbrochen. Die Städte hatten ihre Schlüsselfunktionen als Finanz-, Verwaltungs-, Verteilungs- und Handelszentren eingebüßt. Und jetzt, wo auch noch das Geld verschwand, konnte niemand kunstvolle Töpferwaren, Eisenwaren oder Kleidung kaufen, und die Handwerksbetriebe der Städte waren ebenfalls dem Zusammenbruch nahe. Carausias und die anderen Grundbesitzer befürchteten in zunehmendem Maße, dass die Städte für das Leben der Menschen auf dem Land, von denen letztendlich alles abhing, schlicht und einfach bedeutungslos wurden.
Mittlerweile hatten sich auch die stehenden Heere im Norden und an den Küsten aufgelöst, weil die Soldaten keinen Sold mehr bekamen, wie Regina nur allzu gut wusste. Es hieß, dass einige ihrer Führer sich als selbst ernannte Könige mit winzigen Herrschaftsbereichen etablierten. In seinem Streben nach Sicherheit hatte der Stadtrat von Verulamium sogar versucht, Kontakt zu den civitates aufzunehmen, den Stämmen im Norden und Westen, die immer ein gewisses Maß an Unabhängigkeit vom Imperium gewahrt und sich damit begnügt hatten, die kaiserlichen Steuern zu entrichten. Doch auch dort war nicht viel an Führung zu finden, und es gab zahlreiche blutige Konflikte zwischen kleinen Grüppchen und rivalisierenden Banden. Es war, als verfaulte Britannien, vom Imperium amputiert, wie eine abgetrennte Gliedmaße. Solange der Kaiser nicht zurückkehrte, um alles in Ordnung zu bringen, war auch keine nahe liegende Lösung in Sicht.
Verulamium war zwar ein bisschen heruntergekommen, aber im Augenblick war dort noch alles friedlich, wenngleich vom Land wilde Gerüchte über herumstreifende bacaudae und bösartige Barbarenhorden in die Stadt drangen. Regina bemühte sich zwar, nicht über all das nachzudenken, aber es erschien ihr manchmal wie die Ruhe vor dem Sturm.
Unterdessen hortete Carausias alles Münzgeld, das er in die Finger bekam.
Er hoffte, für die Familie eine Überfahrt von Britannien nach Armorica ergattern zu können, eine britannische Kolonie in Westgallien, wo ein Vetter von Carausias eine Villa besaß. In Armorica war das kaiserliche Mandat noch vollständig in Kraft, und es galt als Zuflucht für viele Angehörige der vermögenden Oberschicht Britanniens. Dort konnte die Familie, wie Carausias zu sagen pflegte, »so lange durchhalten, bis sich alles wieder normalisierte«.
Aber Carausias brauchte Münzgeld. Während die Wirtschaft der Städte derzeit hauptsächlich auf Tauschhandel beruhte, würden die Kapitäne der wenigen seetüchtigen Schiffe, die Londinium oder die anderen großen Häfen noch anliefen, Bezahlung nur in der Währung des Kaisers akzeptieren – und, wie es hieß, obendrein zu exorbitanten Tarifen.
Deshalb tadelte Carta Regina. »Es würde dem Onkel das Herz brechen, wenn er es wüsste.«
»Ach, Carta, nun lass mich doch in Ruhe«, erwiderte Regina und zog vor ihrem Handspiegel einen Flunsch, um zu sehen, ob ihre schwarze Lippenbemalung dick genug war. »Solche Sachen bekommt man nun mal nicht für eine Hand voll Bohnen. Man muss dafür bezahlen. Und es ist mein Geld; ich kann damit machen, was ich will.«
Carta stand vor ihr und mischte die Holzkohle auf einer kleinen Palette mit Öl. »Dein Taschengeld ist ein Geschenk von Carausias, Regina. Er möchte, dass du mit Geld umgehen lernst. Aber es ist nicht deins. Vergiss das nicht. Als du vom Wall hierher kamst, hattest du nichts als die Kleider, die du am Leib trugst…«
Das stimmte, wie sie im Lauf der Jahre erfahren hatte. Der arme Aetius hatte nur über seinen Soldatensold und ein paar magere Ersparnisse verfügt. Selbst sein Haus am Fuß des Walls gehörte dem Heer, wie sich herausstellte. Niemand wusste, wo das Geld ihrer Familie geblieben war. Es war nicht angenehm, an dieses Thema erinnert zu werden. Manchmal bedauerte es Regina, dass sie die Drachenbrosche ihrer Mutter weggeworfen hatte. Sie hätte sie zwar niemals tragen, aber doch zumindest verkaufen können, dann hätte sie wenigstens etwas vom Reichtum ihrer Mutter gehabt.
Aber die ganze Angelegenheit war ein Ärgernis. »Ich weiß das alles«, sagte Regina mürrisch. »Ich will mich nur ein bisschen amüsieren, nur diesen einen Abend. Ist das zu viel verlangt?«
Carta seufzte, legte ihre Schminkpalette weg und setzte sich zu Regina. »Aber Kind, gestern war es auch ›nur dieser eine Abend‹. Und morgen wird es genauso sein. Und dann am nächsten Abend und dem folgenden… Wie soll das weitergehen? Du bist doch jetzt schon mit deinen häuslichen Pflichten im Rückstand – in der Küche, beim Putzen, in den Ställen.«
Regina schnitt eine Grimasse. Es fiel ihr schwer, sich ihre Zukunft vorzustellen, aber sie war davon überzeugt, dass das Säubern von Ställen nicht dazugehören würde.
Carta fuhr fort: »Und was ist mit deinem Studium? Aetius wäre enttäuscht, wenn er wüsste, dass du es praktisch aufgegeben hast.«
»Aetius ist tot«, sagte Regina. Aber es klang fröhlich, als wäre es ein Scherz. »Tot, tot, tot. Er ist gestorben und hat mich mit dir allein gelassen. Weshalb sollten mich seine Ansichten interessieren?« Sie stand auf und hüpfte leichtfüßig herum. »Ach, Carta, du bist so eine alte Frau geworden! Mit der Zukunft befasse ich mich, wenn es so weit ist. Was soll ich denn sonst tun?«
Carta starrte sie zornig an. Aber sie sagte nur: »Ach, komm her und sei still. Wir sind noch nicht fertig.« Sie bat Regina, sich herunterzubeugen, und malte ihr sorgfältig die Holzkohle um die Augen. »So«, sagte sie schließlich und hielt einen Handspiegel hoch.
Selbst Regina war verblüfft von dem Effekt. Die dunkle Holzkohlenpaste ließ ihre Augen erstrahlen, und das Rosa der leichten Wolltunika hob ihr Rauchgrau genau auf die richtige Weise hervor. Als sie ihre neuen bronzenen Ringe an die Finger steckte, wuchs ihre gespannte Erwartung. Sie dachte einen Moment lang an Aetius und an das Verantwortungsbewusstsein, das er ihr beizubringen versucht hatte. Du bist jetzt die Familie, Regina… Aber sie war jung, und ihr Blut war wie Wein; umgeben von ihrem Schmuck, ihren Kleidern und der Schminke fühlte sie sich leicht und luftig, wie ein Blatt im Wind, weit über den erdschweren, steinernen Sorgen, die von den matres verkörpert wurden.
»Carta«, sagte sie, »ich habe dir zugehört.« Sie hüpfte weiter durchs Zimmer. »Ich tanze nur.«
Carta rang sich ein Lächeln ab. »Und ich tanze vielleicht nicht genug. Also tanze. Tanze, so viel du kannst! Aber…«
»Ach, Carta, immer ein Aber!«
»Sieh dich vor, mit wem du tanzt.«
»Du meinst Amator?« Ihre lichtvolle Stimmung schlug in Ärger um. »Du hast ihn noch nie gemocht, nicht wahr?«
»Er war zu alt, und du warst zu jung, um so zu tändeln, wie ihr es getan habt.«
»Aber das ist Jahre her. Er ist jetzt anders, Carta.« Und ich bin es auch, dachte sie in einem dunklen, warmen, geheimen Kern ihres Ichs, der Möglichkeiten erwog, die sie sich nicht einmal selbst einzugestehen wagte. »Amator ist dein Vetter, Carta. Du solltest ihm vertrauen.«
»Ja, ich weiß.« Carta musterte sie. »Sei bloß vorsichtig, Regina.«
»Carta…«
»Versprich es mir.«
»Ja. In Ordnung. Versprochen.«
Zu Reginas Überraschung schloss Carta sie kurz in die Arme. Ein wenig verlegen traten sie voneinander zurück.
»Wofür war das?«
»Entschuldige, meine Kleine. Es ist nur… in dieser Aufmachung bist du einfach wunderschön. Dieses Feuer in deinen Augen, wenn du mit mir streitest – du hast eine innere Kraft, und das kann ich dir nicht verdenken. Und – nun, manchmal hast du so große Ähnlichkeit mit deiner Mutter.«
Sie hätte nichts sagen können, was Regina mehr bewegt hätte.
Regina strich ihr über die Wange. »Liebe Carta. Du musst dir keine solchen Sorgen machen. Jetzt hilf mir, die Haare zu richten; diese Knochennadel will einfach nicht dort bleiben, wohin ich sie stecke…«
Aber Cartas Gesicht – bereits faltig, obwohl sie erst Mitte zwanzig war – blieb von Sorge gefurcht.
Nicht lange nach Sonnenuntergang traf Regina sich bei dem alten Badehaus mit Amator und Athaulf. Amator hatte einen Krug Wein dabei.
Wie die Basilika hatte auch das Badehaus schon längst sein Dach verloren. Kuppeln, die an Eierschalen erinnerten, ragten in der Dunkelheit auf. Jemand hatte ein Loch in den prächtigen Mosaikboden des Hauptraums gegraben, das Mosaik zerstört und die tesserae überall verstreut: Vielleicht war es ein christlicher Fanatiker gewesen, der etwas gegen ein heidnisches Bildnis gehabt hatte. Niemand wusste es, niemanden interessierte es.
Amator und Athaulf hatten ein Mädchen namens Curatia mitgebracht. Regina kannte sie nicht, wusste jedoch über sie Bescheid. Curatia war ungefähr in Reginas Alter und zeigte sich für gewöhnlich über und über behängt mit einer so prächtigen Sammlung von Haarnadeln, Schmuck und Schminke, wie man sie in Verulamium nur finden konnte. Aber, so ging der Klatsch, sie lebte allein und hatte keine ersichtlichen Mittel, um all diese Dinge zu bezahlen – keine außer ihrer Beliebtheit bei einer Vielzahl von Männern, von denen manche alt genug waren, um ihr Vater zu sein. Regina war ein wenig verwirrt, ein solches Mädchen hier anzutreffen; auf einmal erschien ihr der Abend beschmutzt.
Curatia hatte jedoch eine Leier dabei. Als sie spielte, wobei ihre schwarzen Haare wie ein Wasserfall über die Saiten fielen, musste Regina zugeben, dass ihre Musik sehr schön war. Und sobald sie angefangen hatte, von Amators Wein zu trinken, nahm Regina die Anwesenheit des Mädchens viel gelassener hin. Es war ein milder Herbstabend, die Mosaikfragmente und die Wandgemälde, die das Wetter überstanden hatten, waren schön und berührten sie, und selbst die hüfthoch wachsenden Unkräuter und Schösslinge sahen frisch und hübsch aus. Und als Amator und Athaulf die mitgebrachten Kerzen auf den Boden, die Wände und in die klaffenden Fenster gestellt hatten, wurden die Schatten tief, flackernd und vielgestaltig.
Amator und Regina saßen zusammen auf einem Mauerrest. Amator siebte den Schutt mit der Hand und förderte einen Haufen Austernschalen zutage. »Hier hat jemand einmal gut gespeist«, sagte er und ließ die Schalen mit einem Achselzucken fallen.
»Ich habe noch nie Austern gegessen«, sagte Regina sehnsüchtig.
»Oh, ich schon.«
Athaulf kroch in dem halb in Trümmern liegenden Gebäude umher, stocherte in Rissen und Spalten und tastete unter dem Boden herum. »Haben sie dort unten wirklich Feuer gemacht?«
»Das nennt man ›Hypokaustum‹, du Schweinejäger!«, rief Amator auf Lateinisch und schwenkte seinen Weinbecher. Zu Regina sagte er: »Du musst Athaulf vergeben. Im tiefsten Innern ist er noch immer ein armseliger Barbar.«
Regina lehnte sich an Amators Beine. »So einen Namen habe ich noch nie gehört. Athaulf.«
»Er ist Visigote. Und wie bei allen seinesgleichen klingt sein Name, als hustete man Schleim aus…«
Auch wenn er Visigote war, seine Familie hatte Macht in Gallien. Nach der katastrophalen Nacht, in der Barbaren aus Germanien den zugefrorenen Rhein überquert hatten, war es den römischen Militärbefehlshabern gelungen, die Provinz zu festigen, indem sie den Barbaren Land diesseits der alten Grenze überlassen hatten. Auf diese Weise war im Südwesten Galliens eine visigotische Föderation entstanden, deren Zentrum Burdigala war. Athaulf war ein reicher Mann und ein zuverlässiger Geschäftspartner für Amator.
Amator trank einen großen Schluck Wein. »Folglich stehen die Visigoten, die Barbaren sind, im Sold des Kaisers, um die lästigen bacaudae niederzuhalten, von denen viele römische Bürger sind. Das gibt einem doch zu denken.«
»Aber ich will nicht denken«, entgegnete Regina und hielt ihren Becher hoch, damit er ihr nachschenkte.
»Recht so.«
Athaulf stand im Schutt des Hypokaustums. »Schaut! Ich habe einen Eisenhaken gefunden!«
»Das ist ein strigil, du Wilder. Damit hält man seine Haut sauber. Ach, wirf ihn weg. Cura! Schluss mit dieser Trauermusik. Wir wollen tanzen!«
Mit einem Jauchzen beendete Curatia ihr sanftes Klagelied und stürzte sich in eine lebhafte, rhythmische Melodie, eine alte britannische Weise.
Amator stieß einen Jubelruf aus, zerrte Regina auf die Beine und nahm sie in die Arme. Sie begannen mit förmlichen Schritten, aber bald, als Athaulf sich zu ihnen gesellte, kletterten sie in dem alten Hypokaustum herum und liefen lachend an den Mauerresten entlang.
Als Regina in den Ruinen tanzte und die kühle Herbstluft sich mit dem berauschenden Wein und dem Duft der Kerzen mischte – und als Amators Beine die ihren streiften und sein Arm sich um ihre Taille legte –, spürte sie, wie ihre Trunkenheit zunahm, als brennte ihr Blut. Dieser Ort mit seinen zahlreichen Ebenen, dem vielfältigen Licht und Curatias flirrender, seltsam wehmütiger Musik kam ihr mit einem Mal so unwirklich und verzaubert vor, als wären sie in eine Wolke versetzt worden.
Später lag sie auf einer dicken Wolldecke, die über die Steine der eingestürzten Mauer gebreitet war. Sie atmete schwer; das Blut in ihrem Kopf sang von dem wirbelnden Tanz. Amator lag neben ihr, auf den Ellbogen gestützt, und schaute auf sie herab. In der Art, wie er sie ansah, spürte sie seine alte Intensität. Aber der Kitzel der Furcht, den sie einmal verspürt hatte, war fort; nur Wärme war geblieben.
»Ich wünschte, diese Nacht würde ewig dauern«, sagte sie erhitzt und atemlos. »Dieser Augenblick.«
»Ja«, sagte er leise. »Ich auch.« Er legte sich neben sie, sein Arm über ihrem Bauch, und sie spürte, wie seine Zunge an ihr Ohr schnellte.
Sie schaute zu den schweigenden Sternen hinauf. »Sie hat solche Feste gefeiert«, flüsterte sie.
»Wer?«
»Meine Mutter… Was meinst du, warum alles vor die Hunde geht? Die Stadt. Die alte Lebensweise der Menschen. Hier gibt es doch keine Barbaren.«
»Keine außer herumtollenden Dummköpfen wie Athaulf.«
»Also keine. Das Meer ist nicht zugefroren wie der Rhein, sodass die Barbaren zu Fuß hätten herüberkommen können. Und es gab keine Seuche, kein großes Feuer, bei dem alles verbrannt wäre. Alles hat einfach nur – aufgehört. Und jetzt kann Cartumandua keine neue Vase kaufen, weil niemand mehr Vasen macht, und Geld ist ohnehin nutzlos.«
»Es war alles ein Traum«, sagte er leise. »Ein Traum, der tausend Jahre gedauert hat. Das Geld, die Städte, alles. Und als die Menschen aufgehört haben, an den Traum zu glauben, hat er sich in Luft aufgelöst. Einfach so.«
»Aber sie werden wieder an ihn glauben.«
Er schnaubte, und sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Hals. »Hier nicht. Hier folgen sie einem anderen Traum, dem Traum von einem Mann an einem Kreuz und einem Märtyrergrab auf der Hügelkuppe.«
»Nein, du irrst dich. Wenn wieder Normalität einkehrt…«
Er beugte sich über sie; seine Augen waren schwarze Löcher, unergründlich, tief und freundlich. »Woanders geht der Traum weiter.«
»Wo?«
»Im Süden und im Osten. An den Küsten des Mittelmeers, in Barcino, Ravenna und Konstantinopel, ja sogar in Rom selbst… Dort gibt es noch Städte und Villen. Dort gibt es noch Feste, Wein, Parfüm und tanzende Menschen. Dorthin werde ich gehen.« Er beugte sich näher zu ihr. »Komm mit mir, Regina.« Seine Hand glitt unter ihre Tunika und streichelte ihren Schenkel.
Ihr Blut geriet in Wallung; jede seiner Berührungen war wie Feuer. »Ich dachte, du magst mich nicht«, flüsterte sie. »Ich weiß, wie du mich bei meiner Ankunft angesehen hast. Aber du hast mich nie berührt. Und dann bist du fortgegangen.«
»Ach, Regina – soll ich einen Apfel pflücken, bevor er reif ist? Aber…«
»Was ist?«
»Hat es einen anderen gegeben?«
»Nein«, sagte sie und wandte das Gesicht ab. »Niemanden, lieber Amator.«
Er fasste sie am Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. »Dann komm mit mir, kleine Regina, kleines Huhn. Komm mit nach Rom. Dort werden wir weitere tausend Jahre tanzen…« Sein Gesicht senkte sich auf ihres herab, und sie spürte, wie seine Zunge ihre Lippen erkundete. Sie öffnete den Mund, und er floss in sie hinein wie heißes Metall.
Zuerst kam ein Schmerz, scharf und tief, aber er verwandelte sich bald in sinnlichen Genuss.
Amator rollte von ihr herunter und wandte den Kopf ab. Ihr war merkwürdig kalt, und sie streckte die Hand nach ihm aus. Er kam zurück und füllte ihren Kelch mit Wein.
Danach wurden ihre Gedanken fragmentarisch.
Es gab nur vereinzelte klare Momente, verstreut wie die tesserae des zerstörten Mosaiks. Der scharfe Schmerz der Trümmer, die sich in ihren Rücken bohrten, wenn er auf ihr lag. Das Gefühl, blaue Flecken an den Beinen und am Bauch zu bekommen, als er zustieß. Athaulf, der mit geraffter Tunika auf der zerbrochenen Mauer stand und geräuschvoll auf den Boden draußen pisste, während Curatia ihm die Beine und den nackten Hintern massierte.
Und dann, beim letzten Mal, ein anderes Gesicht, ein anderer Geruch, ein anderes Gefühl zwischen ihren glitschigen Schenkeln. Als er sich diesmal zurückzog, rülpsend und ohne sie anzusehen, war es nicht Amator, sondern Athaulf. Aber sie fühlte sich zu zerbrochen, zu losgelöst, um diesen Gedanken festzuhalten.
Die allerletzte Erinnerung war ein schmerzerfülltes Getaumel durch die Straßen von Verulamium, wo sie bei jedem Schritt über ein Trümmerstück zu stolpern schien, den Arm über Curatia drapiert, denn Amator und Athaulf waren verschwunden.
Und dann, nahezu übergangslos, wie es schien, wachte sie in ihrem Bett auf – und wurde sofort vom Gestank von Erbrochenem attackiert. Aber Marina war da und wischte ihr die Stirn ab, während Cartumanduas Gesicht wie ein besorgter, missbilligender Mond hinter ihr hing. Regina hatte schreckliche Kopfschmerzen, ihr Hals war wund vom Erbrechen, ihr Bauch von einem leeren Schmerz erfüllt, und zwischen ihren Beinen schien ein einziger großer blauer Fleck zu sein, der sich von einem Schenkel zum anderen erstreckte.
Am ersten Tag blieb sie im Dunkeln, schlürfte die Suppe und das Wasser, die Marina ihr brachte. Amator kam nicht zu ihr, um sie nach Rom mitzunehmen.
Am zweiten Tag stand sie auf und zog sich an. Sie fühlte sich erheblich besser, bis auf eine anhaltende Übelkeit tief unten im Magen – und einen scharfen Schmerz zwischen ihren Beinen, einen Schmerz, an dem sie sich festklammerte, um ihre Erinnerungen an Amator aufrechtzuerhalten, trotz dieses verwirrenden letzten Bildes von Athaulf.
Sie trat in helles Tageslicht hinaus und suchte einigermaßen schuldbewusst Cartumandua auf. Zu ihrer Erleichterung schimpfte Carta nicht mit ihr und rief ihr auch weder ihre vorherigen Warnungen noch Reginas Versprechungen ins Gedächtnis. Carta trug ihr drei Hausarbeiten auf, Reinigungstätigkeiten in der Küche und in den Schlafräumen. Aber sie mied Reginas Blick.
Regina betrieb einigen Aufwand für Marina. Sie gab sich besondere Mühe, ihr gemeinsames Zimmer zu putzen, nachdem sie es dermaßen beschmutzt hatte. Seltsamerweise fühlte sie sich jedoch in jenen ersten paar Tagen unwohl in dem Zimmer und fand einfach nicht heraus, weshalb – bis sie sah, dass die matres noch immer in der Ecke des Bordes standen, wohin sie sie so achtlos geschoben hatte, um Platz für ihren Schmuck zu schaffen. Sie stellte die Göttinnen wieder an ihren alten Platz zurück. Aber sie waren kalt und schwer in ihren Händen, und ihre kleinen Gesichter schienen sie zu beobachten.
Sie war nicht mehr dieselbe wie zu dem Zeitpunkt, als sie die matres das letzte Mal berührt hatte, und sie würde es nie wieder sein. Das wussten die matres irgendwie. Und hinter ihren ausdruckslosen Steingesichtern sahen Julia, Aetius, Marcus und alle anderen, die sie gekannt hatte, sie bestürzt an.
Sie wahrte das Geheimnis von Amators Versprechen, sie in die Städte des Südens mitzunehmen, ein geheimes Versprechen, das alles, was sie durchgemacht hatte, die Leiden wert erscheinen ließ. Aber Amator kam nicht. Und der Schmerz in ihrem Bauch wollte nicht weichen.
Die Tage gingen ins Land, und dann blieb ihre Blutung aus. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Ihre Nervosität und ihre Angst wuchsen.
In der Nacht des Brandes spitzte sich dann alles dramatisch zu.
Es war von Anfang an eine schwierige Nacht gewesen.
Nach dem Abendessen hatte Carausias eine schreckliche Entdeckung gemacht. Er jammerte und weinte. Dann wurde er wütend. Er stürmte durchs Haus, zerschlug Möbelstücke, Geschirr und sogar ein paar von Cartas unersetzlichen Tonwaren, obwohl Carta und Severus ihn daran zu hindern versuchten.
Regina wusste nicht, was in ihn gefahren war. Er hatte immer so stark, so unerschütterlich gewirkt. Erschrocken hatte sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen und sich dort aufs Bett gelegt.
Sie hatte ihre eigenen dunklen Sorgen. Ihre Blutung war weiterhin ausgeblieben. Sie sehnte sich danach, mit Carta zu reden, sich in ihre Arme zu werfen und sie um Vergebung und um Hilfe zu bitten. Aber das konnte sie nicht. Und dann war da noch ein anderes Geheimnis, ein Geheimnis, das so tief in ihrem Kopf nistete wie das wachsende Kind in ihrem Bauch, eine geheime Wahrheit, die sie sogar vor sich selbst zu verbergen versucht hatte: dass Amator nicht wiederkommen würde, um sie zu holen, dass er überhaupt nicht mehr wiederkommen würde, dass er bereits alles von ihr bekommen hatte, was er wollte.
Während sie brütend dalag, hielt sie den Rauchgestank und das Geschrei zunächst für ein Produkt ihrer eigenen, fiebrigen Fantasie. Doch als draußen vor ihrem Fenster rotes Licht zu flackern begann, wurde ihr klar, dass etwas Schlimmes geschah. Sie stand vom Bett auf, schlüpfte rasch in ihre Tunika und lief zur Tür.
Carta, Carausias und die anderen standen im Hof. Ihre Gesichter leuchteten rot, als schauten sie in den Sonnenuntergang. Aber die Sonne war schon längst verschwunden, und das Licht kam von einer Flammenwand, die über den Umrissen der Dächer zu sehen war. Ein Krachen ertönte, dann weiteres Geschrei, und Funken stoben wie ein Schwarm winziger, leuchtender Vögel empor.
Regina lief zu Carta und fasste sie an der Hand. »Was ist das?«
»Ich glaube, das war die Basilika«, sagte Carta.
»Mag sein, dass es dort angefangen hat«, knurrte Carausias. »Aber es breitet sich rasch aus. All die Stände auf dem Forum. Die Strohdächer…«
»Es kommt auf uns zu«, sagte Carta.
Carausias’ Stimme klang bitter. »Früher hat es Freiwillige gegeben, die solche Brände gelöscht haben. Wir wären mit unseren Wasserschüsseln und unseren durchnässten Decken hingelaufen, und alles wäre gerettet worden – und wenn nicht gerettet, dann wieder aufgebaut, bis es besser gewesen wäre als zuvor…«
»Onkel«, fuhr ihn Carta an.
Er drehte sich um und sah sie mit großen Augen an. »Ja. Ja. Die Vergangenheit spielt keine Rolle mehr. Wir müssen fort. Selbst wenn das Feuer unser Haus verschont, ist die Stadt hinterher zerstört. Rasch jetzt, ihr alle…« Er drehte sich um und lief ins Haus, gefolgt von Severus und Marina.
Carta packte Regina an den Schultern. »Hol deine Sachen. Nicht mehr als du tragen kannst – nur, was du brauchst.«
»Carta…«
»Hast du gehört, was ich sage, Regina?«
»Wohin gehen wir? Nach Londinium? Und fahren wir von dort aus mit dem Schiff nach Armorica? Vielleicht treffen wir dort Amator…«
Carta schüttelte sie heftig. »Du musst mir zuhören! Amator ist fort. Ich weiß nicht, wo er ist. Und er hat Carausias’ Geld genommen.«
Es fiel Regina schwer, das zu verdauen. »Das ganze Geld?«
»Ja. All seine Ersparnisse.«
»Das Schiff…«
»Es gibt kein Schiff. Hörst du nicht zu, Kind? Wenn das Haus zerstört wird, haben wir gar nichts mehr.«
Es ist aus mit dem Tanzen, dachte Regina benommen, es ist endgültig aus. Und als sie an die wachsende Masse in ihrem Bauch dachte, spürte sie, wie in ihrem Innern die Panik emporstieg. »Wovon wollen wir denn dann leben, Carta?«
»Ich weiß es nicht!«, schrie Carta, und Regina erkannte ihre eigene Angst.
Ein neuerliches Krachen ertönte, als ein weiteres Gebäudeteil einstürzte. Von den Straßen draußen drangen Gebrüll, Geschrei und ein seltsames, krankhaftes Gelächter zu ihnen.
»Die Zeit wird knapp. Los, meine Kleine!«
Regina lief zu ihrem Zimmer. Sie zerrte die größte Tasche hervor, die sie tragen zu können glaubte, und schaufelte Kleider, Parfümfläschchen, Haarnadeln und Schmuck hinein, alles, was sie in diesen wenigen hektischen Sekunden zu fassen bekam.
Erst im allerletzten Augenblick dachte sie an die matres. Sie breitete eine Tunika aus, wickelte die kleinen Steingöttinnen sorgfältig hinein und stopfte sie in die Tasche. So klein sie waren, machten sie die Tasche dennoch auf unerklärliche Weise um vieles schwerer. Sie hievte die Tasche auf ihre Schulter und lief in den Hof hinaus.
Bald waren sie alle versammelt, Carausias, Carta, Marina und Severus, alle mit Taschen und Deckenbündeln beladen. Mittlerweile war der Feuerschein taghell, und der wogende Rauch erschwerte das Atmen.
Regina glaubte, Tränen in Carausias’ wässrigen Augen zu sehen. Aber er kehrte seinem Haus den Rücken zu. »Genug. Gehen wir.«
Halb laufend, über die Trümmer auf der Straße stolpernd, schlossen sich die vier einer unregelmäßigen Kolonne von Flüchtlingen an, die durchs Nordtor aus der brennenden Stadt ins kalte Land draußen strömten. Außerhalb der Stadt gab es keine Lichter, und die Nacht war bewölkt. Bald flohen sie in eine pechschwarze Dunkelheit.