27

 

 

Wieder reiste Lucia mit Rosa ins tiefste Innere der Krypta. Dieses Mal wählten sie einen anderen Weg. Sie nahmen ältere Fahrstühle und Treppen. Von der hellen oberen Ebene mit ihren Klassenzimmern, Bibliotheken, Büros und Computerzentren aus passierten sie die riesige, weitläufige und komfortable Schicht aus Klinikräumen und Schlafsälen, Aufenthaltsräumen, Sporthallen und Verpflegungszentren und gelangten auf die unterste Ebene, in den Komplex enger, miteinander verbundener Korridore und kleiner Räume, die Ebene, wo die matres lebten. Lucia hätte am liebsten die Augen geschlossen, um jenen Gedanken loszuwerden, der sich hartnäckig in ihr Bewusstsein schob: Wenn du es nicht wissen musst, solltest du es nicht wissen.

 

Zwei Wochen, nachdem Lucia wieder in die Gemeinschaft aufgenommen worden war, kam Rosa am Ende ihres Arbeitstages zu ihr.

Rosa lächelte. »Es freut mich, dass du so gut aussiehst.«

Lucia erwiderte das Lächeln. Aber ihr war unbehaglich zumute. Sie wollte nicht über die jüngste Vergangenheit nachdenken.

Rosa schien es zu bemerken. »Ich weiß, wie du dich fühlst.« Sie strich Lucia mit den Fingern über die Wange. »Ich möchte, dass du jemanden kennen lernst.«

»Jemanden…?«

»Er erwartet dich.«

Lucia war ihr gefolgt – aber wieder einmal hatte ihr der Kopf vor unerwünschten Fragen geschwirrt. Er? Es gab nur sehr wenige Jungen oder Männer hier in der Krypta, und sie hatte zu keinem von ihnen eine engere Verbindung. Er… sie musste unwillkürlich an Daniel denken. Sie erinnerte sich an sein Gesicht, seine eigentümlich hohe Stirn, seine hellblauen Augen, die sich so sehr von denen ihrer Schwestern in der Krypta unterschieden. Doch nun war dieses Gesicht eine verblassende Erinnerung, und sie wusste, dass sie ihn vergessen musste.

Auf der dritten Etage führte Rosa sie einen langen, halbdunklen Korridor entlang. Sie gelangten zu einer Kinderkrippe. Dies war ein großer, heller Raum mit sanft gerundeten Wänden und winzigen Möbelstücken aus leuchtend rotem oder gelbem Plastik. Die Wände waren bunt bemalt mit großen, lächelnden Gesichtern, und aus verborgenen Lautsprechern ertönte leise dahinplätschernde Musik.

Und der Boden war von Kleinkindern übersät. »Der aktuelle Schwung Ein- bis Zweijähriger«, sagte Rosa leise.

Es waren ungefähr hundert, nur in diesem einen Raum. Erwachsene in hellgrauen Uniformen liefen zwischen ihnen umher. Die Kinder trugen identische blau-weiße Strampelanzüge; manche hatten allerdings einen Arm oder ein Bein daraus befreit. Sie spielten miteinander und mit den Spielsachen, die überall herumlagen, erforschten sie und steckten sie in den Mund. Sie bildeten einen Teppich zappelnder Gestalten – wie Würmer, dachte Lucia seltsamerweise, oder wie Fische auf dem Trockenen. Sie konnte sie riechen, einen dicken, matten Geruch von Milch, Urin und vollen Windeln, und sie erzeugten ein schrilles Geschrei. Und wenn sie zufällig zu ihr herüberschauten, hatten sie alle das gleiche ovale Gesicht, die gleichen blonden Haare und rauchgrauen Augen.

Die Betreuerinnen wirkten selbst noch jung – manche von ihnen waren bestimmt jünger als Lucia. Ihr kam der Gedanke, dass es in der Krypta ein Altersmuster gab. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. In diesen unteren Geschossen gab es fast nur junge Menschen, Kinder und junge Erwachsene, die in der Kinderkrippe halfen und elementare Instandhaltungsarbeiten erledigten. Ältere Frauen wie Pina arbeiteten meist auf den höheren Ebenen, in den Schulen und Bibliotheken und in den Büros an der Oberfläche. Es war allerdings kein undurchlässiges Muster; ein paar Leute, wie Rosa, schienen sich überall wohl zu fühlen. Trotzdem ähnelte die Krypta einer großen Zwiebel mit nach Alter getrennten Schichten, dachte sie; die älteste war außen, dann kamen immer jüngere, je tiefer man vordrang – bis zum Zentrum, wo die Jüngsten von allen waren, die Babys, und paradoxerweise auch die Ältesten, die matres.

Aber das war eine weitere häretische Analyse, die sie aus ihrem Bewusstsein verdrängen musste.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Rosa leise.

»Wirklich?«

»Du hast dich unter die Außenstehenden gemischt. Denk daran, ich bin als contadina aufgewachsen. Du betrachtest deine Umgebung mit den Augen einer Außenstehenden – und du denkst, wie seltsam ihr all dies vorkommen würde.«

Mag sein, dass ich das getan habe, dachte Lucia.

»Du brauchst es nicht zu leugnen«, sagte Rosa. »Und du hast Recht – es wäre für jeden seltsam, der in einer kleinen Kernfamilie aufgewachsen ist. Mir kam es auch seltsam vor, bis mir klar wurde, wie richtig das alles ist… Du warst auch einmal so ein Kind, Lucia. Du hast in diesem Raum gespielt, so wie diese Kinder jetzt.«

»Ich weiß.«

»Und du hast mit deiner Jahresgruppe die Phasen deines Lebens durchlaufen, die Krippen und Vorschulen und dann die richtige Schule im obersten Stock… und neue Kinder haben deinen Platz hier eingenommen.«

Lucia zuckte die Achseln. »Das ist doch allgemein bekannt. Auf diese Weise erneuert sich der Orden.«

»Ja, natürlich. Komm jetzt.« Sie ging weiter, und Lucia folgte ihr.

Sie durchquerten eine Tür und gingen einen weiteren Korridor entlang. Hier war es kälter und dunkler; der Gang wurde nur von einer Reihe herunterhängender Glühbirnen erhellt.

Während sie nebeneinander hergingen, sagte Rosa: »In der Krypta leben zehntausend Menschen. Jedes Jahr stirbt ungefähr ein Prozent von uns – einige an Unfällen und Krankheiten, aber die meisten an Altersschwäche. Das sind hundert pro Jahr. So viele müssen ersetzt werden. Du hast es selbst gesagt: Der Orden muss sich erneuern. Hast du dich schon einmal gefragt, auf welche Weise das geschieht?«

Lucia runzelte die Stirn. »Also muss es hundert Babys pro Jahr geben. Damit die Gesamtzahl gleich bleibt.«

»Richtig. Wie wir gerade in der Kinderkrippe gesehen haben. Die Zukunft des Ordens: Jedes Jahr werden an einem Ende der gewaltigen Verarbeitungsmaschine der Krypta hundert warme Körper eingespeist, und am anderen Ende kommen hundert kalte heraus. Hm?«

Lucia erschauerte. »Es ist schrecklich, so etwas zu sagen.«

»Aber durchaus zutreffend. Na schön. Aber wo kommen die Babys her, Lucia?«

Lucia sagte unbehaglich: »Von den matres.«

»Richtig. Von den matres, unser aller Mütter. Lucia, du weißt, dass der Orden sehr alt ist. Früher einmal war er klein, und es gab nur drei matres. Aber der Orden wuchs, wir brauchten mehr Babys, und die Zahl der matres musste auf neun steigen, drei mal drei. Und dann wuchs der Orden erneut, und aus neun wurden siebenundzwanzig, drei mal drei mal drei…«

Es kam Lucia überhaupt nicht seltsam vor, dass jede dieser siebenundzwanzig Frauen drei oder vier Kinder pro Jahr zur Welt bringen musste, um einen Ausstoß von hundert Babys aufrechtzuerhalten.

Sie gelangten zu einer kleinen, in die Wand gehauenen Nische. Hinter einer dicken Glasscheibe standen drei winzige Statuen, schmutzig vom Alter, abgenutzt von der Berührung vieler Hände. Sie sahen aus wie Frauen, trugen aber Umhänge mit Kapuzen. Vielleicht waren es Befana-Figuren, dachte Lucia.

Rosa legte die Finger ans Glas. »Es ist kugelsicher… Das sind die ersten matres, das symbolische Herz des Ordens – so wie die siebenundzwanzig matres aus Fleisch und Blut seine Gebärmütter sind.

Bald werden es jedoch nur noch sechsundzwanzig sein. Maria Ludovica ist zwar nicht die älteste der matres, aber die schwächste. Sie liegt im Sterben, Lucia.« Im Dunkeln wirkten Rosas Augen riesig. »Die letzten zehn Jahre, in denen Maria immer schwächer geworden ist, waren eine turbulente Zeit, und es sind noch mehr Mädchen wie du aufgetaucht – Mädchen, die zu Frauen gereift sind, meine ich. Das ist nun mal der Lauf der Dinge. In nicht allzu ferner Zukunft muss jemand Maria ersetzen. Die Siebenundzwanzig muss wiederhergestellt werden.«

»Du sprichst von mir«, flüsterte Lucia.

»Ich habe eine Weile gebraucht, um gewisse andere davon zu überzeugen, dass du die richtige Kandidatin bist.« Rosa schien stolz zu sein, als hätte sie einen Sieg errungen.

Lucia war wie betäubt. Sie konnte sich nicht vorstellen, was aus Rosas Worten folgen würde. Sie sah keinerlei Verbindung zwischen ihrem fünfzehnjährigen Ich und der verhutzelten, schwangeren alten Frau, die sie kennen gelernt hatte. »Aber ich bin nichts«, sagte sie. »Noch vor einem Monat wäre ich beinahe verhungert, weil niemand mit mir sprechen wollte.«

»In gewissem Sinn hat mir dein – äh – Ausbruch geholfen, dich als die richtige Kandidatin durchzusetzen. Du besitzt Willenskraft, Lucia, Charakterstärke. Nur wenige deiner Altersgenossinnen hätten so viel ausgehalten. Und wir brauchen Kraft, um uns der Zukunft zu stellen. Die Welt verändert sich, und der Orden muss sich mit ihr verändern. Wir sind darauf angewiesen, dass unsere Kinder in gewissem Ausmaß eigenständig denken, dass sie den Willen zeigen, das Unbekannte zu akzeptieren – auch wenn es paradox erscheint, denn wenn der Orden weiterexistieren soll, müssen wir alle unseren Platz darin akzeptieren und dürfen nicht zu intensiv nachdenken, wie du aus eigener leidvoller Erfahrung weißt.«

»Es ist unmöglich«, sagte Lucia mit leiser Stimme.

»Nein.« Rosa fasste sie am Arm. »Nur ein bisschen schwer vorstellbar, das ist alles. Und hier ist nun der Mann, mit dem ich dich bekannt machen möchte.«

Lucia drehte sich um. Der Mann war direkt hinter ihnen. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

Er war vielleicht dreißig und größer und massiger als Lucia; sein Körper wirkte ein bisschen weich und schwabbelig, und seine Haut war blass. Er trug legere Kleidung, ein hellblaues Hemd und Jeans; Seine Haare waren dunkel und ordentlich gekämmt, aber seine Züge ähnelten denen der Schwestern, von Lucia und Rosa selbst.

Er lächelte sie an. Und als er einen kurzen Blick auf Lucias Körper warf, flammte in seinen grauen Augen etwas von der Intensität der contadino-Jungen auf.

Rosa berührte Lucias Lippen mit einer Fingerspitze. »Sag nichts. Ihr dürft nicht miteinander reden. Lucia, das ist Giuliano Andreoli. Streng genommen ist er ein contadino. Aber eigentlich ist er ein entfernter Verwandter von dir – das sieht man schon an der Hautfarbe. Du kannst ihn im scrinium nachschlagen, wenn du willst. Er wohnt in Venedig. Er ist Maurer… ich glaube, das reicht. Komm jetzt.«

Sie packte Lucia am Arm und führte sie davon. Lucia schaute sich um, aber Giuliano war bereits hinter der Biegung des Korridors verschwunden.

»Ich verstehe nicht«, flüsterte Lucia.

»Reproduktionsbiologie, Lucia. Um Babys zu produzieren, braucht man nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Natürlich machen die neuen Biotechnologien heutzutage alles möglich, aber die alten Methoden sind die besten, finde ich. Fünfundneunzig Prozent der Babys, die hier zur Welt kommen, sind Mädchen. Die meisten Jungen verlassen uns nach der Schule, und diejenigen, die bleiben, sind fast alle homosexuell oder Neutren.« Neutren: was für ein seltsamer, kalter, klinischer Begriff. »Also, wo kommen die Väter her?«, fuhr Rosa fort. »Von draußen natürlich – obwohl wir nach Möglichkeit dafür sorgen, dass es in der Familie bleibt.«

Lucia blieb stehen. »Rosa, bitte – wer ist Giuliano?«

Rosa lächelte, aber in ihrer Miene lag eine wehmütige Traurigkeit. »Dein Geliebter.«