18

 

 

Artorius ließ sie auf den alten Straßen tagelang nach Westen marschieren. Nachts schliefen sie im Freien, vielleicht geschützt von einem eilig errichteten Schuppen, und ihr einziges Bettzeug war die überschüssige Kleidung, die sie bei sich trugen. Nach dem Aufwachen nahm Regina Tag für Tag ein primitives Frühstück aus gesalzenem Fleisch zu sich. Ihre Knochen waren immer steif, und sie fror trotz der milden Sommernächte.

Irgendwann erkannte sie die Landschaft jedoch wieder. Es war ein Land voller grüner, runder Hügel – eine dem menschlichen Auge schmeichelnde Landschaft, ganz anders als die Einöden des Grenzlands in der Umgebung des Walls.

Ihre geografischen Kenntnisse waren nach wie vor skizzenhaft und gingen kaum über Aetius’ in den Schmutz gezeichnete Landkarte hinaus. Aber dies, so stellte sie allmählich fest, war ihre Heimat. Von den Winden des Schicksals getragen, war sie in einem großen Kreis gesegelt und zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Aber sie hatte keine Ahnung, wo genau die Villa ihrer Familie lag: Schließlich war sie mit sieben Jahren von dort weggegangen, und es lebte niemand mehr, der es wissen mochte, weder Carta noch Aetius. Vielleicht war es auch besser so; sie hätte es nicht ertragen, die Villa in Trümmern zu sehen.

Und es gab Veränderungen. Selbst hier wirkte das Land alles andere als freundlich: Auf jeder Hügelkuppe ragten Mauern empor, und der Rauch von Feuern kräuselte sich in der Luft. Das Land starrte inzwischen von Verteidigungsanlagen wie ein Igel von Stacheln.

Artorius’ geplante neue Hauptstadt war eine Festung, die auf einem Hügel errichtet worden war – ein »Dunon«, wie er sie in der alten Sprache nannte. Er hatte bereits eine Gemeinschaft von mehreren hundert Menschen aus dem ganzen Land um sich gesammelt, und es herrschte rege Betriebsamkeit. Regina wusste nicht, wie der Hügel zur Zeit der Römer geheißen haben mochte; er schien keinen lateinischen Namen zu besitzen. Einige der Einheimischen nannten ihn jedoch nach einem nahe gelegenen Strom. Es war der Caml-Hügel oder das Caml-Fort.

 

An ihrem ersten ganzen Tag im Dunon wurden Reginas Leute dazu eingeteilt, Steine aus einem so genannten »Steinbruch« zu holen. Artorius erklärte Regina, dass er ihr diese Plackerei gern ersparen wolle. Sie habe mit ihrem Trotz einen guten Eindruck auf ihn gemacht, und sie könne hier bei ihm in seiner Hauptstadt bleiben; vielleicht fände er eine andere Aufgabe für sie.

Brica riet ihr, das Angebot anzunehmen. »Er scheint dich zu mögen, Mutter, Jove weiß, warum. Du musst das nach Kräften ausnutzen.«

»Oh, das werde ich«, sagte Regina. Und das würde sie auch. Seit Bricas Geburt war sie stets entschlossen gewesen, alles Erforderliche zu tun, um das Überleben ihrer Familie zu gewährleisten. Dennoch lehnte sie Artorius’ Angebot ab; sie war noch nicht bereit, sich von den Menschen trennen zu lassen, mit denen sie zwei Jahrzehnte auf dem Hügelhof verbracht hatte.

Also marschierten sie in einer Gruppe von ungefähr dreißig Personen unter dem Befehl eines Leutnants von Artorius’ Truppe hinaus. Es waren zwei Tagesmärsche nach Süden, und sie mussten eine weitere Nacht im Freien verbringen.

Gegen Mittag des zweiten Tages näherten sie sich einer Stadtmauer, die bei Regina weitere Erinnerungen aus ihrer Kindheit wachrief: Dies musste Durnovaria sein, das Zentrum der örtlichen Bürgergesellschaft. Ihren Kinderaugen war es als ein magischer Ort erschienen, sauber und hell, umgeben von mächtigen Mauern und voller gewaltiger, für Riesen gemachter Gebäude. Doch jetzt war die Stadt seit über zwanzig Jahren verlassen. Die Mauer war ihrer Ziegel beraubt, sodass der Kern aus gemörteltem Schutt und roten Bindesteinen freilag. Wo die Straße durch die Mauer führte, war einst ein mehrfacher, überwölbter Torweg gewesen, doch nun waren die Bogen eingestürzt.

Hinter der Mauer war alles mit einer grünen Decke überzogen. Von den meisten Gebäuden waren nur Schutthaufen übrig, die in der Vegetation verschwanden. Es gab viele Anzeichen für Brände – vielleicht das zufällige Ergebnis von Blitzschlägen in längst leer stehende, mit welkem Laub gefüllte Gebäude. Ihre Fundamente waren von einer Schicht dunkler, unkrautüberwucherter Erde bedeckt, den Überresten eingestürzter Mauern aus Flechtwerk und Lehm, die nun völlig überwachsen waren. Ein paar der monumentalen Steinbauten hatten überdauert; sie wirkten immer noch ungeheuer mächtig, waren aber zerstörte, ausgebrannte, von Kletterpflanzen überrankte Riesen ohne Dach, in deren rissigen Mauern Büsche und Efeu wuchsen. Selbst der harte Straßenbelag war von einem Mulch aus verrottetem Unkraut und welkem Laub überzogen, und die Wurzeln junger Eschen und Erlen sprengten das Kopfsteinpflaster und setzten die Erde erneut der Sonne aus. Regina erhaschte einen Blick auf Waldgeschöpfe – Wühl- und Feldmäuse – und sogar auf Tiere, die von diesen kleinen Kolonisten lebten, wie Füchse und Turmfalken. Es schien, als zögen nach Jahren des Leerstands die ursprünglichen Besitzer des Landes wieder ein. Aber es herrschte eine unheimliche Stille an diesem Ort – nicht einmal Vogelgezwitscher war zu hören.

Auf ihrem Weg durch die Stadt wandten einige der Jüngeren in der Gruppe den Blick von den monumentalen Ruinen ab und sprachen leise Gebete an die Götter der Christen und andere Gottheiten. Aber Regina trauerte stumm. Diese mit Efeu bedeckten Steine erzählten ihr beredter vom Ausmaß der generationenlangen Katastrophe, die Britannien ereilte, als jeder Historiker, selbst Tacitus, es vermocht hätte. Und wie seltsam, dachte sie, dass nichts davon das Werk der Pikten oder der Sachsen war – keine dieser Räuber waren bisher so weit nach Westen vorgedrungen, schon gar nicht in ausreichender Zahl, um derartige Verwüstungen anzurichten. Die Stadt war ganz von allein zugrunde gegangen. Es war so, wie Aetius und Carausias es vorausgesehen hatten: Sobald die Menschen aufhörten, ihre Steuern zu bezahlen, verloren die Städte ihre Daseinsberechtigung und verfielen. Vielleicht hatte aber auch Amator Recht gehabt, dass die Stadt einfach ein Relikt eines tausend Jahre alten Traums war, aus dem die Menschheit jetzt abrupt erwachte.

Wie sich herausstellte, war ihr Ziel nicht die Stadt selbst, sondern ein Friedhof, der sich über einen nahe gelegenen Hang ausbreitete.

Er war riesig, und die Gräber standen dicht an dicht, sodass er wie mit Fliesen, Sandstein und Marmor gepflastert wirkte; hier mussten tausende begraben sein. Andere Gruppen waren bereits an der Arbeit: Sie stemmten Grabsteine, Sandstein- oder Marmorplatten, mit Holz- und Eisenhacken hoch. Die Arbeit wurde von einigen Soldaten aus Artorius’ Truppe beaufsichtigt. Sie ließen nicht nur die anderen schuften, sondern packten selbst mit an, in der Sommerhitze nackt bis zur Taille.

»Das ist also unser ›Steinbruch‹«, sagte Regina. »Ein Friedhof, den wir für ein paar Steine entweihen.«

Brica zuckte die Achseln. »Was spielt das für eine Rolle? Die Toten sind tot. Wir brauchen die Steine.«

Regina verspürte eine Art Schock. Wenn sie sich mit sieben oder sogar siebzehn Jahren jetzt hätte sehen können und erfahren hätte, was sie tun musste, um am Leben zu bleiben, wäre sie entsetzt gewesen. Und sie registrierte mit einer Anwandlung von Traurigkeit, dass Brica, die noch so jung war, nichts weiter dabei fand. Wie tief wir gesunken sind, dachte sie.

Seltsamerweise war mitten auf dem Friedhof ein kleines Gehöft mit einer Scheune und ein paar Getreidegruben errichtet worden. Eine Frau verkaufte Nahrung an die Arbeiter im Tausch gegen Nägel und andere Eisenteile. Vielleicht hatten die Knochen der Toten den Boden fruchtbar für Gemüse gemacht, dachte Regina morbide.

Da weder sie noch Brica kräftig genug waren, um Grabsteine auszugraben, wurden sie dazu eingeteilt, mit Eimern an einem Fluss Wasser zu holen, damit die Arbeiter trinken und sich den Staub abwaschen konnten. Sie gingen zwischen den geöffneten Gräbern hindurch und stiegen über zertrümmerte Steine.

Regina blieb an einem Grab stehen, dessen Stein noch heil genug war, dass man die lateinische Inschrift lesen konnte.

»Dis Manibus Lucius Matellus Romulus… ›Mögen die Geister der Unterwelt Lucius bei sich aufnehmen, geboren in Spanien, gedient im Reiterregiment der Vettonen, zum römischen Bürger geworden und an diesem Ort im Alter von 46 Jahren gestorben.‹ Und hier ist das Grab seiner Tochter – Simplicia –, gestorben im Alter von zehn Monaten, ›eine ganz und gar unschuldige Seele‹. Was der arme Lucius wohl denken würde, wenn er sehen könnte, was wir heute tun?«

Brica zuckte die Achseln, schwitzend, schmutzig, ohne sonderliches Interesse. »Wer sind all diese Leute? Hatten sie etwas mit der Stadt zu tun?«

»Natürlich. Das waren die Bürger – kann sein, dass hier die Toten von Jahrhunderten liegen.«

»Warum sind sie nicht in der Stadt beerdigt worden?«

»Weil das verboten war. Außer bei Säuglingen, die ohnehin nicht als Personen galten… So lautete das Gesetz.«

»Das Gesetz des Kaisers. Jetzt machen wir unsere eigenen Gesetze«, sagte Brica.

»Oder irgendein Schläger wie Artorius macht sie für uns.«

»Er ist nicht so übel«, erwiderte Brica.

Regina las die Inschrift auf einem weiteren Grabstein. »›Unserem liebsten Kind, nicht weniger jählings aus dem Leben gerissen als die Gemahlin von Dis.‹«

»Was bedeutet das?«

Regina legte die Stirn in Falten und versuchte, sich an ihren Unterricht bei Aetius zu erinnern. »Ich glaube, das ist nach einem Zitat von Vergil.« Aber der Name des Dichters sagte Brica nichts, und Regina ließ es dabei bewenden.

Einige der Gräber hatten offenkundig einmal Holzsärge enthalten, die inzwischen längst verrottet waren, sodass nur noch verstreute Knochen darin lagen. Aber in einigen der imposanteren Grabmale hatte man mit Blei ausgekleidete Steinsärge verwendet. Diese wurden aus dem Boden gewuchtet und ohne viel Federlesens geöffnet, um das Blei zu bergen; den grausigen Inhalt warf man wieder in das gähnende Loch. Hin und wieder fanden sich Grabbeigaben: Schmuckstücke, Parfümflaschen, sogar Werkzeug – und, in einem kleinen und Mitleid erregenden Grab, eine Holzpuppe. Die Arbeiter holten die Sachen heraus, begutachteten sie kurz und steckten sie ein, wenn es den Anschein hatte, als wären sie etwas wert. Der Gestank hielt sich in Grenzen; man roch hauptsächlich die feuchte, offene Erde. Die Leichen waren mindestens schon seit Jahrzehnten tot, und die Würmer hatten ihr Werk bereits getan – außer bei jenen Leichen, die aus den robusteren Bleisärgen gekippt worden waren. Am Ende des Tages luden sie die zerbrochenen Grabsteine in Karren oder packten sie sich auf den Rücken, um sie zu Artorius’ Hauptstadt zu transportieren.

 

Nach ihrer Rückkehr zum Dunon kam Artorius erneut zu Regina. Er bestand darauf, dass sie keinen weiteren Tag in dem grausigen Friedhofs-Steinbruch verbrachte, sondern mit ihm kam, um seine im Entstehen begriffene Hauptstadt zu besichtigen.

»Ich weiß deine Meinung zu schätzen«, sagte er mit einem selbstbewussten, entwaffnenden Grinsen. »Verstand und Geist sind allzu selten in diesen traurigen Zeiten. Du bist zu schade dafür, Knochen auszugraben.«

»Ich bin kein Soldat.«

»Ich habe jede Menge Soldaten, die alle darauf trainiert sind, mir zu sagen, was ich hören will. Aber du hast keine Angst vor mir, wie ich sehr wohl weiß. Vor allem aber weiß ich, dass du eine Überlebenskünstlerin bist. Und ums Überleben geht es mir: Es ist mein oberstes Ziel.«

Also stimmte sie zu. Schließlich hatte sie kaum eine andere Wahl.

Sie machten einen Rundgang durch das Dunon. Der Hügel hatte eine flache Kuppe; er war ein Stück Landschaft. Im Osten lag ein hoher Kamm, aber von den oberen Hängen des Hügels aus hatte man einen weiten Blick über die Ebene im Westen.

Das Plateau selbst stieg zu einem Gipfel an, auf dem ein Signalfeuer errichtet worden war. Ein Teil des ebeneren Geländes wurde landwirtschaftlich genutzt, aber hier oben gab es nur wenig Ackerland. Artorius’ Hauptstadt würde von Gehöften auf der Ebene außerhalb der Festung ernährt werden müssen; dafür dürften die Bauern in Zeiten der Gefahr hinter den Mauern Schutz suchen. Auf einem tiefer gelegenen Teil des Plateaus wurde eine hölzerne Halle erbaut, in der Artorius selbst wohnen würde. Die ausgebrannten Überreste eines viel älteren Bauwerks – vielleicht das Heim eines Stammesoberhaupts aus vorrömischer Zeit – waren weggeräumt worden.

Sie gingen um das Plateau herum. Am Rand wurde eine Mauer errichtet – oder vielmehr auf den Fundamenten einer alten Vorgängerin wieder errichtet, wie Regina sah. Sie würde fünf Schritte dick sein, ein Gerüst aus Holzbalken, gefüllt mit Steinen, die zumeist aus dem Friedhof von Durnovaria stammten. Das Holzgerüst umgab bereits den größten Teil des Plateaus, und die Arbeit an einem mächtigen Tor in der südwestlichen Ecke hatte begonnen. Die Ausmaße des Projekts und die Effizienz von Artorius’ Befehlsgewalt beeindruckten Regina.

»Du gebietest über die Arbeit hunderter Menschen.«

Artorius zuckte die Achseln. »Es heißt, die Kaiser hätten früher einmal über hundert Millionen geboten. Aber man muss ja irgendwo anfangen.«

Es hatte geregnet, und die grasbewachsenen Flanken des Hügels waren leuchtend grün. Mehrere Reihen von Erdwällen und Gräben zogen sich über sie hin. Männer arbeiteten sich auf den bewaldeten Erdwällen voran, fällten die Bäume mit ihren eisernen Äxten und Sägen und schleiften die Stämme zur Hügelkuppe herauf.

Sie verwandelten die Ringgräben in eine Verteidigungsanlage. Artorius zeigte hinunter. »Es sind vier Reihen. Siehst du, wie wir auf die Erdwälle hinabschauen? Die Sachsen werden diesen Hang herauflaufen müssen, erschöpft ankommen, und dann müssen sie diese Wand vor uns überwinden, wo sie ein leichtes Ziel für unsere Pfeile und Speere abgeben. Die Bäume auf den Erdwällen sind drei- oder vierhundert Jahre alt, schätze ich, also ausgewachsen, und die Hänge müssen gerodet werden, damit sie etwaigen Angreifern keine Deckung bieten, aber das schaffen wir schon.«

»Welch eine glückliche Anordnung nützlicher Gräben und Wälle.«

Er sah sie seltsam an. »Das hat nichts mit Glück zu tun. Ich dachte, das wüsstest du – an diesen Gräben ist nichts Natürliches, Regina. Alles, was du siehst, wurde von Hand angelegt – und zwar von unseren Vorfahren, in den Zeiten vor den Caesaren.«

Sie konnte es kaum glauben. »Dieser Ort ist von Menschenhand geschaffen?«

»Ganz ohne Zweifel. Er sieht primitiv aus, ist aber sorgfältig geplant. Die Festung ist eine Maschine, eine Tötungsmaschine aus Erde und Stein.« Er kratzte sich am Kinn. »Es kostet schon ungeheuer viel Arbeit, auch nur unsere armselige neue Mauer zu errichten. Die Modellierung des Hügels – die Anlage dieser Erdwälle und Gräben – übersteigt das Vorstellungsvermögen. Aber nachdem er nun einmal so angelegt ist, bleibt er für ewige Zeiten bestehen.«

»Und doch haben die Caesaren die Menschen von hier vertrieben wie Mäuse aus einem Nest.«

Er musterte sie. »Ich hatte wenig Gelegenheit, mich eingehender mit der Geschichte zu befassen.«

Sie erzählte ihm die Geschichten ihres Großvaters, soweit sie sich daran erinnerte: Wie die Durotriger der römischen Besetzung noch lange Widerstand geleistet hatten, nachdem wohlhabendere Königreiche bereits gefallen waren oder kapituliert hatten, und wie General Vespasian, dem es bestimmt war, selbst Kaiser zu werden, sich Dunon für Dunon nach Westen hatte vorkämpfen müssen.

»Dunon für Dunon«, wiederholte er sinnierend. »Das gefällt mir. Obwohl man die Leistungen Vespasians bewundern muss – er hat das Meer überquert und dann fern der Heimat einen großen Sieg errungen.«

»Aber jetzt sind die Kaiser fort«, sagte sie.

»Ja. Aber wir bleiben.«

In der Römerzeit war nur ein einziges neues Bauwerk auf dem Hügel errichtet worden, ein kleiner Tempel. Es war ein ordentliches, rechtwinkliges Gebäude mit Ziegeldach gewesen, umgeben von einem Säulengang. Artorius und Regina blieben stehen und betrachteten seine Überreste.

»Jetzt ist der Tempel zerstört, die Säulen sind nur noch Stümpfe, die Ziegel hat man gestohlen, sogar die Statue des Gottes wurde geraubt«, sagte Artorius. »Aber zumindest war dieser Gott hier. Also war dies erst eine Verteidigungsanlage und später dann eine Kultstätte. Vielleicht habe ich einen vom Glück begünstigten Ort für meine Hauptstadt gewählt.«

Sie ließ sich ihre spöttische Geringschätzung anmerken.

Er schürzte die Lippen. »Du machst dich schon wieder über mich lustig. Nun, das ist dein gutes Recht. Gegenwärtig habe ich wenig vorzuweisen. Aber die Vergangenheit und die Zukunft sind auf meiner Seite.«

»Die Vergangenheit?«

»Ich entstamme einer Königsfamilie aus Eboracum. Als die Römer kamen, ja, da wurden sie Vasallen des Imperiums. Sie waren equites.« Aus diesem Stand war in der Anfangszeit der römischen Besatzung der Stadtrat gewählt worden. »Meine Vorfahren haben ihr Land gut regiert und dazu beigetragen, dass die Provinz reich wurde und dass dort geregelte Zustände herrschten. Ich selbst wäre Soldat geworden – Offizier in der Kavallerie, das war mir bestimmt – aber…«

»Aber als du erwachsen warst, gab es keine Kavallerie mehr.«

Er lächelte wehmütig. »Es gab nur noch die limitanei, das Grenzheer, und mancherorts hatten sie schon so lange keinen Sold mehr bekommen, dass sie all ihre Pferde verspeist hatten!«

Sie lächelte. »Und die Zukunft?«

»Ich habe drei Ziele, Regina. Erstens soll das hier ein sicherer Ort werden.« Er machte eine ausgreifende Handbewegung. »Nicht nur das Dunon, sondern das ganze von ihm beherrschte Gebiet. Sicher vor den Sachsen, Pikten, bacaudae und allen anderen, die den Wunsch haben könnten, uns Schaden zuzufügen. Ich glaube fest daran, dass mir das gelingt. Als Nächstes muss ich die Ordnung wieder herstellen – nicht nur für diese Generation, sondern für die nächste und übernächste. Wir brauchen eine Verwaltungsstruktur – unsichtbar, aber so stark wie diese Mauern aus Holz und Stein. So werde ich die Gehöfte beispielsweise an die Zentralgewalt binden, indem ich ihnen Vieh leihe. Vielleicht können andere Steuern erhoben werden.«

»›Die Zentralgewalt‹. Du meinst dich.«

Er schüttelte den Kopf. »Sobald es möglich ist, werde ich mich als Magistrat zur Wahl stellen.« Er gebrauchte das lateinische Wort, duumvirs. Sie brach in schallendes Gelächter aus, aber er blieb dabei: »Ich meine es ernst. Ich sage dir, ich bin kein Kriegsherr, Regina – und wenn doch, dann nicht für immer.

Mit der Ordnung wird der Wohlstand kommen. Wir müssen Tonwaren herstellen – ein oder zwei anständige Brennöfen. Und Münzen. Ich werde eine Münzanstalt einrichten. Ich habe auch schon die ersten Schritte zur Gründung einer Eisenhütte unternommen. Sie wird von meinem guten Freund Myrddin geleitet – du musst ihn unbedingt kennen lernen –, einem bärbeißigen alten Possenreißer, der jedoch über das alte Wissen verfügt, das westlich von hier, außerhalb des Einflussbereichs der Römer, erhalten geblieben ist. Ein fabelhafter Mann, so kenntnisreich, dass manche ihn einen Zauberer nennen. Ich möchte, dass er sein Wissen weitergibt, bevor er stirbt.«

»Und dein drittes Ziel?«

»Die Diözese Britannien, oder so viel davon, wie ich beherrsche, dem Kaiser zurückzugeben. Nur auf diese Weise kann die fernste Zukunft gesichert werden. Und wenn ich dazu nach Gallien gehen muss – ich werde es tun.«

»Wie löblich«, sagte sie trocken. »Aber du hast dich dafür entschieden, hierher zu kommen und diese jahrhundertealte Festung wieder in Beschlag zu nehmen, statt beispielsweise nach Durnovaria zu gehen.«

»Die Stadt ist tot. Ihre Mauern – selbst wenn man sie wieder aufbauen würde – sind schwach, ihre Abzugsrinnen und Wasserleitungen verstopft, und das System, auf dem sie gegründet war, ist verschwunden. Ich meine das Geld, den Warenstrom. Wir können keine Eisenwaren aus Germanien oder Tonwaren aus Spanien mehr kaufen, Regina. Wir müssen so leben wie unsere Vorfahren.«

»Und deshalb geben wir die römischen Städte und Villen auf und kehren zur alten Lebensweise, zu den Erdwällen unserer Vorfahren zurück. Wie seltsam. Wie… wehmütig. Weißt du, schon seit meiner Kindheit falle ich Stück für Stück aus dem Licht in die Dunkelheit dieser neuen, trostlosen Zeit, in der ich nichts mehr wiedererkenne.«

Er musterte sie. Seine dunklen Augen waren ernst. »Ich verstehe dich, weißt du«, sagte er sanft. »Ich bin kein ungebildeter Wilder. Ich will dasselbe wie du. Ordnung, Wohlstand, Frieden. Aber ich finde mich damit ab, dass die Zeiten so sind, wie sie sind; ich finde mich mit den Dingen ab, die ich tun muss, um meine Ziele zu erreichen. So, nun habe ich dir von meinen Träumen und Bestrebungen erzählt. Jetzt sag mir, was du denkst, Regina – sag mir, wie du über mich denkst.«

Sie überlegte sorgfältig. Wenn jemand die Ordnung in diesem chaotischen, vom Zusammenbruch gezeichneten Land wieder herstellen konnte, dann war es gewiss Artorius – ein Mann voller Träume, aber offenbar auch ein Mann mit der Macht und dem Realitätssinn, diese Träume wahr zu machen. Für einen Augenblick kam es ihr dort auf dem betriebsamen Plateau so vor, als hätte sie in diesem Mann, diesem Artorius, einen Felsen gefunden, auf dem sie endlich eine sichere Zukunft für sich und ihre Familie errichten konnte – als käme vielleicht eine Zeit, in der sie sich ausruhen konnte.

»Ich verspüre – Hoffnung.« Und das tat sie, wenn auch nur zaghaft.

Er schien bewegt zu sein; anscheinend war ihm ihre gute Meinung wirklich wichtig. Er ergriff ihre Hand; die seine war trocken und warm. »Arbeite mit mir zusammen, Regina. Ich brauche deine Kraft.«

Doch in diesem Moment ertönte ein Ruf vom Fuß des Hügels, wo die Männer die verstopften Verteidigungsgräben aushoben. »Riothamus! Das musst du dir anschauen, Herr…«

Artorius stieg rasch den Zickzackpfad zum Boden des Grabens hinunter.

Die Männer waren auf eine Ansammlung von Knochen gestoßen. Viele waren zerbrochen, einige verkohlt. Die Männer sichteten diesen unwillkommenen Schatz sorgfältig. Es waren eine Menge Schädel darunter – bestimmt mehr als hundert.

Als Artorius herauskletterte, lag eine bisher unbekannte Härte in seinem Gesicht. In einer Hand hielt er den Schädel eines Kindes, in der anderen eine Hand voll Münzen, nichts weiter als Metallscheibchen, die nach der langen Zeit, die sie in der Erde gelegen hatten, aneinander klebten. »Siehst du, Regina – die Knochen von Männern und Frauen, Jungen und Alten sind schwer zu unterscheiden. Aber man kann immer erkennen, ob es ein Kind ist. Und dieses hier hat zumindest nicht im Feuer gelitten. Siehst du den Krater im Hinterkopf? Den hat ihm vielleicht ein Legionär mit dem Heft seines Schwerts zugefügt.«

»Im Feuer?«

»Da unten war ein Gebäude.« Er zeigte hin. »Wir haben die Stümpfe von Pfosten gefunden. Die Menschen sind zusammengetrieben und hineingestopft worden, und dann hat man es in Brand gesteckt.«

»Wer würde denn so etwas tun?«

»Was glaubst du wohl?« Er hielt ihr seine Hand voll Münzen hin. Eine davon trug den Namen von Kaiser Nero. »Hat Boudicca ihre Rebellion gegen die römische Herrschaft nicht während Neros Regierungszeit angeführt? Wie es scheint, waren die Vergeltungsmaßnahmen drakonisch.« Er hob den Kinderschädel in die Höhe. »Dieser kleine Krieger muss das mächtige römische Heer wirklich in Angst und Schrecken versetzt haben.«

»Artorius…«

»Genug.« Mit dem Schädel in der Hand ging er wieder den Hang hinunter und erteilte Befehle.

Für den Rest dieses Tages und fast den ganzen nächsten Tag verwendete Artorius einen erheblichen Teil seiner spärlichen Kräfte auf die Aushebung eines neuen Massengrabs und die Umbettung der gebrochenen und verbrannten Knochen. Die Bestattung wurde im Stil der Celtae vorgenommen. Drei Schweine wurden geschlachtet und ihre Kadaver als Nahrung für die Reise in die Anderswelt auf die Gebeine geworfen. Für jeden Schädel wurde ein Becher oder ein Kelch ins Grab gelegt, damit die Toten aus den großen Kesseln in den Bankettsälen der Anderswelt trinken konnten.

Während das Grab zugeschüttet wurde, fungierte Artorius’ Eisenherstellungsgenie Myrddin als Vorbeter. Er war ein kleiner Mann mit wildem Blick, dickem, grauschwarzem Bart und von runzligen Brandnarben übersäten Armen. Seine Stimme war dünn, sein westlicher Akzent stark: »Zu guter Letzt kommt der Tod und packt mich mit kalten Händen…«

 

Das restliche Jahr hindurch wurden die Felder um das Dunon herum für die Aussaat des nächsten Frühlings vorbereitet, und sie legten Vorräte für den Winter an, wie zum Beispiel getrocknetes und gesalzenes Fleisch.

Das Leben war weiterhin schwer. Alle bis auf die ganz kleinen Kinder mussten hart arbeiten. Artorius hatte jedoch darauf bestanden, dass sie sich zuallererst die Zeit für Maßnahmen wie das Ausheben anständiger Latrinen nahmen – und darum blieben sie von der Fieberseuche verschont, die im Spätsommer über das Land hinwegfegte. Und lange vor dem Wechsel der Jahreszeit war allen klar, dass sie genug Nahrung angehäuft hatten, um den Winter zu überstehen, selbst wenn Artorius’ Soldaten einen Teil davon mit Gewalt erbeutet hatten. Regina konnte nicht leugnen, dass Artorius mit enormer Energie an seine Aufgabe heranging, dass er die anderen – auch sie selbst, wie sie zugeben musste – dazu brachte, zu ihm zu stehen und fleißig zu arbeiten, und dass die neue Gemeinschaft bis zum Herbst ein großes Stück vorangekommen war.

Aber Artorius veränderte sich.

Er verkündete, dass sie sich von nun an nicht mehr am römischen Kalender, sondern am alten Kalender der Celtae orientieren würden. Dieser war von vier großen Festen gekennzeichnet: Imbolc zum Ende des Winters, wenn die Mutterschafe Milch für ihre Lämmer gaben; Beltane im Frühsommer, wenn das Vieh zwischen reinigenden Feuern aufs offene Weideland getrieben wurde; Lughnasa zu Erntebeginn; und Samhain im frühen Herbst, dem Beginn des neuen Jahres bei den Celtae, eine Zeit, in der das Alte dem Neuen wich und die Welt von den Kräften der Magie überflutet werden konnte. Im kommenden Jahr, das mit diesem Samhain begann, würde Artorius’ neues Königreich Wurzeln schlagen, und Artorius gab bekannt, dass Samhain mit einem großen Fest begangen werden sollte.

Regina vernahm all dies mit einer gewissen Besorgnis. Aber sie behielt ihre Meinung für sich.

Sie schwieg auch, als Artorius seine alte, häufig ausgebesserte römische Rüstung ablegte und sich für ein traditionelleres Gewand entschied. Er trug bunte braccae und Umhänge und, als es kälter wurde, einen birrus, den Umhang mit Kapuze, der immer mit Britannien in Zusammenhang gebracht worden war. Um die Wirkung zu vervollständigen, legte er sich auch noch einen hübschen goldenen Halsring zu, den einer seiner Offiziere von einem sächsischen Räubertrupp erbeutet hatte. Obwohl Regina viel Zeit mit ihm verbrachte, in der sie praktische Fragen erörterten, hörte sie ihn nie wieder vom Aufbau einer Münzanstalt oder seiner Kandidatur als Magistrat sprechen.

Wenn Regina später zurückdachte, schien es ihr, als wäre der Vorfall mit dem Massengrab ein Wendepunkt für Artorius gewesen: Danach kam etwas Hartes, Kaltes und Altes in ihm zum Vorschein, das allmählich vorherrschend wurde. Vielleicht lag es aber auch nur an der Atmosphäre der uralten Festung, die sie nun wieder bewohnten, an ihrer Rückkehr zu diesem alten Ort der Erde und des Blutes, als wäre das Zeitalter des römischen Friedens nichts als ein glitzernder Traum gewesen.

Nach jenem Tag hatte er jedenfalls nie wieder davon gesprochen, sein Land den Kaisern zu übergeben.

Doch all das spielte keine Rolle, sagte sie sich, solange sie und Brica in Sicherheit waren. Die Familie: Das war das Einzige, was für sie zählte. Jede Nacht, wenn sie sich in einem Winkel des Rundhauses auf dem Hügel schlafen legte, das sie zusammen mit Brica und mehreren anderen älteren Frauen bewohnte, sah sie ihre matres an, die sie all diese Jahre hindurch sorgfältig aufbewahrt hatte, die drei abgenutzten kleinen Statuen, die vielleicht sogar noch älter waren als diese übereinander geschichtete Festung, und sprach eine Art Gebet zu ihnen; nicht damit sie ihr Leben schützten – dafür war sie selbst verantwortlich, das wusste sie –, sondern damit sie ihr den Weg wiesen.

 

Am Abend des Samhain war es zum ersten Mal herbstlich, dachte Regina. Ein Hauch von Frost lag in der Luft, und alles war erfüllt vom rauchigen Geruch welkender Blätter. Während sie sich bereit machte, Artorius’ Halle zu betreten, verweilte sie noch ein wenig im Freien und verspürte ein seltsames Bedauern, den letzten Rest des Tageslichts hinter sich zu lassen – den letzten Rest eines weiteren Sommers, ihres einundvierzigsten. Aber es war Artorius’ Fest, und sie hatte keine Zeit für solche Grübeleien. Mit einem Seufzen betrat sie die riesige Halle.

Die Halle war bereits voll, die Fackeln aus Heu und Schafsfett an den Wänden brannten hell, und Regina wurde von Wärme und Licht, Rauch und Lärm bombardiert.

Obwohl es auch jetzt noch viel daran zu tun gab, musste sie gestehen, dass es eine prachtvolle Halle war. Das zentrale Element war eine Feuerstelle, eine kreisrunde Fläche aus irgendwoher beschafften römischen Steinen, auf der ein riesiges Feuer brannte. Das Feuer füllte den einzigen, gewaltigen Raum der Halle mit Licht und Wärme und legte einen Rauchschleier über die geräuschvolle Versammlung. An einem doppelt mannshohen eisernen Dreibein hing ein Kessel, und die kräftigen Gerüche eines Eintopfs stiegen ihr in die Nase -Schweinefleisch und Lamm, gewürzt mit Bärlauch, dem Duft nach zu urteilen.

Artorius’ Männer standen bereits Schlange, um sich ihre Portion Fleisch zu holen. Artorius bediente sie persönlich; mit Eisenhaken zog er Fleischstücke aus der simmernden Brühe. Seine Untergebenen rangelten in einem fort um die günstigsten Plätze, und Artorius fischte auf alles andere als subtile Art die besten Fleischstücke heraus, um seine Lieblinge zu belohnen. Ungeschickt holte er eine Portion heraus, ließ das Fleisch auf den Boden fallen, und zwei seiner Soldaten gerieten sich darüber in die Haare, für wen es gedacht gewesen war. Die anderen versuchten nicht, sie zu trennen, sondern versammelten sich um sie und feuerten sie mit lautem Geschrei an.

Der alte Carausias saß neben Regina.

»Was für ein Schauspiel«, sagte sie. »Erwachsene Männer, die sich um Fleischstücke balgen.«

Er schüttelte den Kopf. »Mit solchen Kämpfen erobern sich seine Leutnants ihren Status – wer näher an der Sonne ist.«

»Wie unzivilisiert.«

Carausias zuckte die Achseln. »Schade, dass dein Großvater nicht hier ist. Die Legionäre in ihren Kasernen haben sich bestimmt ganz ähnlich benommen. Jedenfalls ist es ihr Abend, nicht unserer.«

Als die Soldaten versorgt waren, durften sich die anderen Männer und die Frauen dem Kessel nähern. Regina selbst nahm nur ein bisschen Suppe und nippte an ihrem Becher mit Weizenbier.

Als Artorius seinen Platz auf dem Boden mitten im Kreis seiner Männer eingenommen hatte, begann das Geschichtenerzählen. Ein Soldat nach dem anderen erhob sich – meist schwankend – und prahlte damit, wie er oder vielleicht ein toter Kamerad zwei, drei oder fünf wilde Sachsen besiegt hatte, die allesamt größer als normale Sterbliche und mit jeweils drei Schwertern ausgerüstet gewesen waren. Alle tranken ununterbrochen, anfangs aus einem gemeinsamen Pokal, der von einem Diener gereicht wurde, der rechts um den Kreis herumging, und dann, als der Abend immer lauter und lärmender wurde, aus ihren eigenen Trinkgefäßen. Es war eine heldenhafte Arbeit für die kleine Gemeinschaft gewesen, die riesigen Bottiche mit Weizenbier zu brauen, die in dieser Nacht leer getrunken werden würden.

Dann stand der Eisenmacher Myrddin auf und hob mit einer langen und komplizierten Geschichte über Riesen an, die auf Zauberinseln jenseits des Meeres lebten, weit westlich von Britannien:

 

»Dreimal fünfzig ferne Inseln
liegen westlich von uns im Meer
jede von ihnen doppelt oder gar
dreimal so groß wie Irland…«

 

»Ganz recht, ganz recht«, murmelte Carausias. Er rülpste, und Regina merkte, dass er fast ebenso betrunken war wie Artorius’ Soldaten.

Während das Bier weiterhin in Strömen floss, wurden die Gespräche und Balgereien rauer, und einige der Soldaten und der jüngeren Männer fingen an, halb im Spaß miteinander zu kämpfen und zu ringen. Regina blieb stoisch in ihrer Ecke neben dem dösenden Carausias sitzen und fragte sich, wie lange sie das noch ertragen konnte.

Sie spürte eine Berührung an der Schulter. Überrascht blickte sie auf.

Artorius stand neben ihr. Sie roch das Bier in seinem Atem, aber im Gegensatz zu seinen Männern war er nicht betrunken. »Du bist so still«, sagte er.

»Du solltest wieder zu deinen Männern gehen.«

Lächelnd schaute er sich zu ihnen um. »Ich glaube nicht, dass sie mich heute Nacht noch brauchen. Aber du… ich weiß, was dir durch den Kopf geht.«

»So?«

»Du denkst an deine Mutter. An die Feste, die sie in der Villa gefeiert hat. Das glanzvolle Volk, das dorthin kam, die kostspieligen Vorbereitungen, die sie traf. So viel hast du mir erzählt. Und jetzt musst du dich mit dem hier abfinden.«

»Ich habe nicht die Absicht, ein Urteil zu fällen.«

Er schüttelte den Kopf. »Wir sind alle Gefangene unserer Vergangenheit. Aber die Gegenwart ist das Einzige, was wir haben. Die Männer, die dort um ihr Bier ringen, sind so rau wie Sand – aber sie werden ihr Leben für mich geben, und auch für dich. Wir müssen das Beste aus den Zeiten machen, in denen wir leben, aus dem, was wir haben, aus den Menschen um uns herum.«

»Du bist sehr klug.«

Er lachte. »Nein. Nur ein Überlebenskünstler, so wie du.« Mit merkwürdiger Sanftheit nahm er ihre Hand. »Hör zu«, sagte er eindringlich. »Dieser alte Narr Myrddin ist voller Legenden… Er meint, ich muss der Dagda für diese Leute werden.«

»Der Dagda?«

»Der gute Gott – aber der niedrigste der Götter. ›Was ihr versprecht, kann ich auch alles allein…‹ Aber der Dagda braucht eine Morrigan, seine Großkönigin. Und am Samhain«, flüsterte er, »der Zeit der Versöhnung, kommen der Gott des Stammes und die Göttin der Erde zusammen, damit die widerstreitenden Kräfte von Leben und Tod, Dunkelheit und Licht, Gut und Böse wieder im Gleichgewicht sind.«

»Worauf willst du hinaus, Artorius?… Wir streiten uns, du und ich. Wir leben in beständigem Konflikt.«

»Aber das Leben selbst resultiert aus dem Wechselspiel widerstreitender Kräfte. Darum geht es ja gerade.«

»Du törichter Mann. Ich bin alt und alles andere als eine Göttin. Such dir eine jüngere Frau.«

»Aber keine von ihnen hat deine Kraft – nicht einmal deine Tochter, so schön sie ist. Du, du bist meine Morrigan, meine Regina, meine Königin.« Er legte ihr die Hand um die Wange und beugte sich nah zu ihr. Sein Atem roch nach Fleisch und Bier, seine Augen leuchteten.

Sie schaute in ihr Herz. Dort war keine Zuneigung, nicht einmal Lust. Dort war nur Berechnung: Wenn ich das mache, wird es meine Chancen verbessern, Brica einen weiteren Tag am Leben zu erhalten? Nur Berechnung – aber das reichte.

Sie stand auf und ließ sich von ihm aus der Halle führen. Als sie noch einmal zurückblickte, stellte sie fest, dass Carausias ihr nachsah. Seine Augen waren wässrig, spiegelten aber ihre eigene Kälte.