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Nein, Schätzchen, du kannst Bobbie Faye nicht als lebendiges Ausstellungsstück zur Woche der Nationalen Katastrophenprävention mitbringen. Ich möchte diese Veranstaltung nämlich gern überleben.
Miss Pam Arnold, Lehrerin der dritten Klasse an der Geautraux-Grundschule
Ce Ce tigerte auf und ab. Was gar nicht so einfach war in Anbetracht der Tatsache, dass sie es zwischen der ohnmächtigen, mit Drogen abgefüllten Frau vom Sozialamt und Monique tun musste, die infolge der hohen Anspannung am heutigen Tag zu ihrem ganz persönlichen Hausmittel gegriffen hatte: superstarkem Wodka-Orange.
Monique kippte inzwischen ihren vierten.
Sie war kurz vorm Durchdrehen gewesen, der Sprung in ihrer Schüssel sichtbar größer geworden. Und vier Wodka-Orange später hatte sie schließlich ihr moralisches Gewissen verloren, trudelte direkt auf die Ebene der Skrupellosigkeit zu, mit einem ernsthaften Hang zur Ruchlosigkeit. »Wir könnten sie doch einfach irgendwo hinfahren und abladen.«
Ce Ce ignorierte den Vorschlag ihrer Freundin. Sie musste sich auf den Zauber konzentrieren. »Du weißt schon, angezogen wie eine Nutte. Dann ist ihr Ruf ruiniert, und sie kann Bobbie Faye nicht mehr schaden.«
»Wir werden sie nicht wie eine Prostituierte anziehen. Das würde sowieso niemand glauben.«
»Mmmh … Hast du mal die Huren unten an der Moreland gesehen?« Monique erschauderte sichtlich. »Schätzchen, da würde sie noch als Edelnutte durchgehen.«
Ce Ce warf einen Blick auf den ahnungslos schnarchenden Leuchturm auf dem Fußboden ihres Lagerraums, dessen Lippenstift völlig verschmiert war. Monique hatte vielleicht gar nicht mal so unrecht.
Ce Ce schüttelte sich. Geh. Da. Nicht. Hin.
»Oder … Oh, jetzt hab ich’s. Wir könnten ein paar rassige Stripper bestellen und pikante Fotos machen!«
Ce Ce starrte ihre Freundin an, deren rosa Sommersprossen nun mit dem tiefen Rot ihrer Gesichtsfarbe, die vom Wodka kam, verschmolzen.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass sie dich in den Elternbeirat berufen haben.«
»Das mussten sie. Ich habe vier Kinder. Die wussten, dass sie mich so schnell nicht loswerden, deswegen haben sie mich gleich zur Vorsitzenden gewählt.«
Schwungvoll zog sie ihr Handy aus der Tasche und ging eifrig die Namen in ihrem Adressbuch durch. Kurzerhand nahm Ce Ce ihr das Telefon weg.
»Wir werden auch keine Stripper engagieren.«
»Die treten zu Werbezwecken auch mal gratis auf. Und sie schulden mir noch was.«
»Ich will gar nicht wissen, wieso. Und jetzt sei still. Lass mich nachdenken.«
Eine der Zwillingsschwestern steckte ihren Kopf zur Tür herein. »Ce Ce? Ich glaube, für heute wird eine Gefahrenzulage fällig.«
»Was ist passiert?«
»Du musst irgendetwas wegen dieser Matrix unternehmen. Sie läuft nämlich gerade völlig aus dem Ruder.«
»Schätzchen, so schlimm kann es doch wohl nicht sein.«
»Hast du eine Ahnung. Hier draußen haben gerade zwei Über-Achtzigjährige versucht, ungeachtet ihrer Rollatoren zu vögeln. Ich denke, deine Matrix hat den Energielevel der beiden vielleicht etwas zu sehr angehoben. Wir müssen schnell was unternehmen. Ich musste bereits drei verschiedene Pärchen aus der Toilette scheuchen, und zweimal war Miss Rabalais dabei.«
»Ach, du meine Güte.«
Plötzlich waren Rufe zu hören, und Allison (ach, zum Teufel, oder eben Alicia) verließ eilig den Raum, um sich des Problems anzunehmen.
Ce Ce musste sich unbedingt etwas einfallen lassen. Sie wusste einfach, dass die Matrix Bobbie Faye geholfen hatte. Sie konnte zwar nicht erklären, warum, aber sie war sich sicher, dass die positive Energie ihrem Mädchen bisher den Hals gerettet hatte. Bobbie Faye musste ja völlig erschöpft sein nach der ganzen Rennerei, weg von der Polizei, Gott weiß, wohin.
»Schade, dassu sie nich’ alle mit ’nem gud’n ald’n Verschreutheits-Zauber belegen kanns’. Damit se alles vergessen, was überhaupt passiert is’, verstehse.« Monique lallte mittlerweile.
Ce Ce beäugte ihre Freundin argwöhnisch, der es auf mysteriöse Weise gelungen war, sich einen weiteren Wodka-Orange zu mixen. Sie musste die Flasche irgendwo versteckt haben. In diesem Stadium des Trauerspiels tat man gut daran, auf gar nichts mehr zu hören, was Monique vorschlug.
Trotzdem war an der Idee durchaus etwas dran. Im Laufe der Jahre hatte sie sich an einigen wirklich mächtigen Zaubern versucht. Und hätte sie die Ergebnisse nicht mit eigenen Augen gesehen, wäre sie niemals von deren Wirkung überzeugt gewesen. Doch sie hatte Dinge gesehen und getan, zu denen man eigentlich nicht fähig sein sollte.
Vorsichtig stieg sie über die schnarchende Frau vom Sozialamt und ließ ihren Blick über die Buchrücken der uralten und staubigen Wälzer in ihren Regalen schweifen. Schließlich wählte sie einen verwitterten, abgewetzten Band aus, den sie dicht unter die Lampe halten musste, um die handschriftlichen Eintragungen entziffern zu können.
Sie kannte die Formel. Es handelte sich dabei um einen mächtigen Schutzzauber – geradezu furchterregend mächtig. Die alte Frau, die ihr den beigebracht hatte, war sehr ausführlich auf die exakten Zutaten und den genauen Zeitablauf eingegangen. Mit dieser Magie durfte man nicht leichtfertig umgehen. Das letzte Mal hatte sie große Schwierigkeiten gehabt, alles so unter Kontrolle zu behalten, wie es nötig war. Ihr eigenes Immunsystem war damals an die Grenze seiner Belastbarkeit gekommen, sodass sie danach zwei Tage lang nicht das Bett hatte verlassen können.
Aber es könnte auch klappen.
Sie begann, die Zutaten zusammenzustellen.
Bobbie Faye und Trevor befanden sich inzwischen im elfmilliardsten Tunnel, der wiederum auch nur wieder in weitere Schächte zu führen schien. Immerhin waren sie mittlerweile weit genug vom Fahrstuhl entfernt, sodass sie nicht länger den Schneidbrenner hörten, der sich durch die Wände der Kabine fraß. Lange würde es jedoch nicht mehr dauern, bis Cam auch dieses Hindernis überwunden hätte.
Er würde sie aufhalten. Und wenn er könnte, würde er sie zu seiner eigenen Genugtuung für Jahre ins Gefängnis stecken.
Würde sie auf ihn schießen, wenn sie müsste? Ihn auf direktem Weg ins Krankenhaus befördern, um Roy zu retten? Und Stacey? Würde sie es für Stacey tun?
Sie war eine weitaus bessere Schützin. Er hatte zwar die Männer des SWAT-Teams bei sich, aber sie wusste, dass sie besser schießen konnte als die meisten von ihnen. Allein der Gedanke daran gab ihr ein mulmiges Gefühl und erfüllte sie mit Grauen.
Sie betraten einen höhlenartigen Raum von der Größe mehrerer Footballfelder und mit so hoher Decke, dass das Licht ihrer Taschenlampe nicht bis dorthin vordringen konnte. Tausende und Abertausende von Salzblöcken, die in unendlichen Reihen aufgestapelt waren, machten es zusätzlich schwierig, seine genauen Ausmaße zu bestimmen. Die gewaltige Menge von Salzblöcken war so schwindelerregend hoch aufgetürmt worden, als hätte man versucht, den nicht vorhandenen Himmel zu erreichen. Alles war mit Salzkrümeln bedeckt. Jeder dieser Blöcke hatte ein Volumen von gut einem Kubikmeter, und die meisten Reihen umfassten drei von ihnen. Das Licht der Taschenlampe konnte die Schatten zwischen den einzelnen Reihen nicht durchdringen, sodass es unmöglich war einzuschätzen, was genau vor ihnen lag, ob sich dort ein Ausgang befand und falls ja, in welcher Richtung er lag. Es würde folglich Stunden dauern, alle Reihen abzulaufen und einen Weg nach draußen zu finden.
»Wir müssen nach oben«, erklärte Trevor und fand im Schein der Taschenlampe eine Reihe, in welcher die Blöcke nicht exakt übereinandergestapelt waren und ihm Halt boten.
»Nach oben?«, fragte sie und hoffte, dass er das Zittern in ihrer Stimme nicht hörte.
»Ja, nach oben. Dort werden uns die Hunde nicht aufspüren, und wir können sehen, wo sich der Ausgang befindet. Wenn es nötig ist, laufen wir dann quer über die Reihen, anstatt uns hindurchzuschlängeln.«
»Nach oben«, wiederholte sie und hatte vor Angst einen ganz hohen Tonfall bekommen. »Ich hab’s nicht so mit oben. Ich umschiffe Hindernisse lieber.«
»Dafür haben wir aber keine Zeit.«
Und ohne ihr eine Chance zu lassen, noch etwas zu erwidern, begann er, nach oben zu klettern.
»Na toll. Ich musste natürlich wieder Spiderman entführen.«
Ihr blieb keine andere Wahl, als ihm zu folgen, obwohl sie überzeugt davon war, dass sie abstürzen würde.
Als sie den Gipfel erreicht hatten, der mindestens zwölf verfluchte Meter über dem Boden lag, blieb sie in der Hocke sitzen und hielt sich am obersten Salzblock fest, während Trevor ruhig und aufrecht neben ihr stand und seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Als er schließlich bemerkte, dass ihre Fingerknöchel von der Umklammerung ganz weiß geworden waren, hockte er sich neben sie.
»Du weißt schon, dass du loslassen musst, wenn wir den Raum durchqueren wollen?«
»Mistkerl!«
Er lachte. »Also gibt es doch etwas, wovor das toughe Mädchen Angst hat.«
»Wenn ich es zugebe, können wir dann wieder runterklettern?«
»Noch nicht.« Er deutete nach rechts. »Ich glaube, ich sehe da hinten so etwas wie einen Ausgang. Wir müssen die Reihen überqueren, damit wir hier rauskommen.« Er drehte sich wieder zu ihr um, deutlich amüsiert darüber, dass sie noch immer wie versteinert auf dem Salzblock hing.
»Hör auf, dich auch noch über mich lustig zu machen.«
»Wieso? Du hockst da doch wie ein Affe auf dem Schleifstein. Ich wünschte, ich hätte eine Kamera dabei.«
»Ich hasse dich.«
»Ich dachte, das hätten wir bereits geklärt, oder?«
»Hmpf … Ich bin gerade dabei, meine Einstellung dazu ernsthaft zu überdenken.«
Er richtete sich auf und reichte ihr die Hand. »Komm schon, Bobbie Faye. Uns läuft die Zeit davon.«
Sie ergriff seine Hand und betete. Ihr Herz hämmerte vor Angst in der Brust, und sie bekam einen solchen Adrenalinschub, dass sie das Gefühl hatte, alles würde kopfstehen, als er versuchte, sie gegen ihren Willen von der Stelle zu bewegen. Sie wäre nicht weiter überrascht gewesen, wenn sie an sich hinabgesehen und entdeckt hätte, dass ihre Gliedmaßen die Knochen verloren hatten und der Rest ihres Körpers zu einem Haufen schmierigen Glibbers verkommen war, der die Konsistenz von zu lange gekochten Nudeln hatte.
Sie schaute nach unten und folgte mit ihrem Blick dem Kegel seiner Taschenlampe. Die Salzschicht auf dem Boden des Raums wies deutliche Fußspuren von ihnen auf. Trevor fegte das lose Salz auf den Blöcken zusammen und warf es hinunter, um sie zu verdecken. Bobbie Faye rührte sich nicht. Als er seine Arbeit beendet hatte und wieder hinunterleuchtete, waren die Fußabdrücke dort, wo sie nach oben geklettert waren, vollständig von Salz bedeckt.
»Hey, du bist ziemlich gut.«
»Ich bin verdammt gut.«
»Und dazu unausstehlich und äußerst bescheiden.«
»Jupp. Und nun komm.«
Sie liefen die Reihe entlang und sprangen dann hinüber auf die nächste, die nur einen guten Meter entfernt war. In der großen Höhle hallten metallene Schläge und das gedämpfte Murmeln von arbeitenden Männern, die sich zwischendurch etwas zuriefen, wider.
Viel näher, als ihnen lieb war.
Schweiß rann Cam die Arme hinunter, als einer der Männer des SWAT-Teams mit einem kleinen tragbaren Schneidbrenner den Boden der feststeckenden Fahrstuhlkabine auftrennte. Er wusste, dass sie Bobbie Faye und Cormier dicht auf den Fersen waren. Mit jedem Funken, der sprühte, als das Gerät auf das Metall traf, schien erneut eine Sekunde zu verbrennen.
Aaron tippte ihm auf die Schulter. Er drückte sich den Knopf seines Headsets ins Ohr und beugte sich vor, um mit der Stimme gegen das Geräusch des Brenners ankommen zu können.
»Sie müssen zurück an die Oberfläche. Benoit hat irgendeine dringende Nachricht für Sie.«
Nicht schon wieder, verdammt! Er war so dicht dran, Bobbie Faye Handschellen anzulegen. So dicht, sie davor zu bewahren, in dem Kreuzfeuer, welches er unweigerlich kommen sah, getötet zu werden. Er spürte es mit jeder Zelle seines Körpers.
»Wenn Sie durchgebrochen sind, stoßen Sie mit dem Team weiter vor. Ich folge Ihnen, sobald ich kann.«
An einem behelfsmäßigen Seilzugsystem kletterte er nach oben und rannte durch die Tunnel, bis er im Freien stand, wo er das Satellitentelefon benutzen konnte. Er wurde bereits von einem Mitglied des SWAT-Teams erwartet, das ihm den Apparat entgegenhielt.
»Was?«, brüllte Cam ins Telefon.
»Den Professor hat’s erwischt.«
»Was?!«
»Er ist zwar nicht tot«, fuhr Benoit fort, und sein Frust war nicht zu überhören, »aber es geht ihm gar nicht gut.«
»Wie konnte das passieren? Ich dachte, du hättest ihn in eine Einzelzelle gesteckt?«
»Hab ich ja auch! Ich war sogar so weitsichtig, niemanden in die Nachbarzellen zu lassen. Wir haben den Professor auf dem Boden gefunden, seine Lippen waren blau angelaufen. Laut Sanitäter deuten die Symptome auf eine Vergiftung hin.«
»Wer zum Teufel ist bei ihm gewesen?«
»Nur Dellago, und sie waren im Besuchszimmer nie unbeobachtet. Vicari hat Wache geschoben, allerdings konnte er nicht hören, was sie besprochen haben. Nachdem Dellago gegangen war, ging es dem Professor noch gut. Und er schien auch nichts eingenommen zu haben. Wir können also nicht beweisen, dass Dellago irgendetwas mit der Sache zu tun hat.«
»Oh, darauf kannst einen lassen. Dellago hat unter Garantie seine Finger im Spiel. Unfassbar, dass er so dreist ist, direkt vor unserer Nase zu versuchen, seinen Mandanten auszuschalten. Was ist auf dem Überwachungsband zu sehen?«
»Bisher nichts, was uns helfen könnte. Wir überprüfen es gerade noch. Der Professor ist mit Wasser und etwas zu essen versorgt worden, da er den ganzen Tag noch nichts zu sich genommen hatte. Danach war noch alles in Ordnung. Außerdem hat Robineaux es ihm gebracht, und der ist nun wirklich vertrauenswürdig. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich glauben soll.«
»Hat der Professor irgendetwas gesagt?«
»Nur immer wieder ›nappt, nappt, nappt‹ und jede Menge anderes wirres Zeug, das überhaupt keinen Sinn ergeben hat. Vielleicht will er sagen, dass er geschnappt worden ist.«
»Was genau für wirres Zeug?«
»Zum Teufel, Cam, ich habe es nicht verstanden. Irgendwas über Boote und eben vielleicht das Wort geschnappt, und einmal, glaube ich, hat er was von einem Schatz erzählt. Aber der Sanitäter meinte, ihm fehle wohl nur seine Ex. Wahrscheinlich habe ich mich also vertan. Als wir ihn mit der Trage hinausschoben, hat er sich plötzlich aufgerichtet und zu mir gesagt: ›Nicht kommen. Leid.‹ Er betonte es drei oder vier Mal.«
»Nicht kommen? Was zum Teufel soll das denn heißen? Und Leid?«
»Ich weiß es nicht, aber er wirkte so … verzweifelt. Es war schon komisch.«
»Okay, du musst ihn im Krankenhaus rund um die Uhr bewachen lassen. Und stellt jemanden vor seine Tür, dem wir absolut vertrauen können und der alle Medikamente überprüft, die in das Zimmer gebracht werden, selbst wenn sie ärztlich verordnet sind. Er muss irgendetwas äußerst Wichtiges wissen, wenn sie einen derart professionellen Anschlag auf ihn verüben.«
Cam kochte innerlich vor Wut. Dann fiel ihm ein, was er Benoit ursprünglich aufgetragen hatte. Ihm zog sich der Magen zusammen, da es zu diesem Thema offensichtlich keine Neuigkeiten gab.
»Habt ihr immer noch nichts von Stacey gehört?«, fragte er.
»Verdammt, nein. Ich habe mit Ce Ce geredet, aber da war ich wohl auf dem Holzweg.«
»Du klingst, als wärst du der Meinung, sie würde die Wahrheit sagen.«
»Drücken wir es mal so aus. Sie wirkte hochmotiviert, mit uns zusammenzuarbeiten.«
»Ich will lieber gar nicht wissen, woher diese Motivation kommt, oder?«
»Nein. Aber ich glaube, dass sie wirklich keinen blassen Schimmer hat. Bobbie Faye vertraut sich, laut Ce Ce zumindest, absolut niemandem an, ganz besonders dann nicht, wenn sie ein Problem hat. Was ist eigentlich mit ihrer besten Freundin Nina?«
»Ich denke, die hat uns bereits alles erzählt, was sie weiß. Sollte sie noch mehr Informationen besitzen, dann will sie diese nicht preisgeben. Du würdest nichts aus ihr herausbekommen, selbst dann nicht, wenn du sie mit einer Waffe bedrohtest. Sie ist ein kaltblütiges Biest.«
Cam hörte Rufe aus dem Tunnel.
»Haben wir eine Wache bei der Schwester?«
»Ja, Watts.«
»Gut. Und lass nicht locker, bis du Stacey gefunden hast.«
»Verstanden.«
Cam lief zurück zum Fahrstuhlschacht und seilte sich schneller nach unten ab, als es eigentlich vernünftig gewesen wäre. Wieder in der Kabine angekommen, sah er, wie sich die Männer des SWAT-Teams gerade durch das Loch quetschten, das sie in die Bodenplatte geschnitten hatten. Dann klinkten sie sich in das unter dem Fahrstuhl hängende Drahtseil ein und glitten bis zum Boden des Schachts. Cam borgte sich eine Ausrüstung und folgte ihnen.
Während er in die Tiefe rauschte, wurde ihm bewusst, dass Bobbie Faye aus purer Furcht davonlief. Sie hatte panische Angst vor Höhe und, was sie selten jemandem erzählte, auch vor der Dunkelheit. In diesen Schacht hinunterzugleiten – in diese beklemmende, tiefe Schwärze – musste einem Ritt in die Hölle gleichgekommen sein.
Am Boden des Schachts fanden sie die Fahrstuhltüren geschlossen vor, und die Männer des SWAT-Teams brauchten einige Zeit, um sie aufzustemmen. Sie setzten ihre Nachtsichtgeräte auf und suchten die nähere Umgebung nach Dingen ab, die Hitze ausstrahlten, signalisierten Cam jedoch kurz darauf mit einem Kopfschütteln, dass ihre Bemühungen erfolglos waren.
Sie setzten die Nachtsichtgeräte wieder ab und schalteten ihre Stabtaschenlampen ein. Der Boden war mit weißem Zeug bedeckt, das wie Schnee aussah. Darin waren Fußspuren zu erkennen. Cam hockte sich hin und untersuchte sie. Dann tauchte er die Fingerspitzen in die weiße Substanz und roch daran.
Salz.
Es würde den Hunden ziemliche Schwierigkeiten bereiten.
Er betrachtete die Schuhabdrücke genauer. Sie stammten eindeutig von Bobbie Fayes Stiefeln.
Er spürte eine Erschütterung, als hinter ihm jemand auf dem Boden des Fahrstuhlschachts landete. Cam fuhr herum und wollte der Person ins Gesicht leuchten, wurde jedoch seinerseits vom Licht einer Taschenlampe geblendet.
Zum Teufel …
Zeke, und nur eine Sekunde nach ihm trafen auch seine Kollegen ein. Cam erkannte an den zusammengekniffenen Augen des FBI-Agenten, dass bei diesem in geradezu krankhafter Weise das Jagdfieber ausgebrochen war.
»Bis wohin geht dieser Salzstock?«, wollte dieser nun wissen.
Cam warf Aaron, dem Leiter des SWAT-Teams, einen Blick zu.
»Wir haben keinen blassen Schimmer. Er ist auf keiner Karte zu finden, die uns zur Verfügung steht. Als Sie uns sagten, wo sich die Hütte befindet, haben wir auf dem Weg hierher in alten Aufzeichnungen nachgesehen, um herauszufinden, was uns hier in der Gegend noch so alles erwarten würde, aber die Hütte war nirgends verzeichnet. Zumindest ist die Information niemals im Computer gespeichert worden.«
»Wir müssen diesen Raum sichern«, erklärte Zeke. »Cormier wird uns an einer Stelle auflauern, wo er uns umnieten kann.«
»Nein, das hat er nicht vor.« Cam hockte sich erneut neben die Fußabdrücke. »Sehen Sie …« Er leuchtete mit seiner Taschenlampe die komplette Spur ab, die plötzlich endete. Die Fußabdrücke überlagerten sich, als hätte das Paar dort für einen Moment gestanden. Als Nächstes richtete Cam den Lichtstrahl auf ein altes Telefon an der Wand, das eindeutig von seiner Salzschicht befreit worden war.
Okay, es war nicht das, was er erwartet hatte. Und alles wirkte ziemlich seltsam.
Er wandte sich wieder an Aaron. »Ruf Jason über den Apparat dort an. Er soll den Anschluss mithilfe seines Computers überprüfen und nachsehen, wer von dort aus angerufen worden ist.«
»Das ist doch völlig egal«, meinte Zeke. »Cormier steht mit dem Rücken zur Wand. Er wird sich verschanzen und uns umlegen, einen nach dem anderen. Ich kenne diesen Mann.«
»Ja, und ich kenne diese Frau. Sie wird sich nicht so einfach aufhalten lassen.«
»Dann wird sie ihm einen Strich durch die Rechnung machen, und wir werden schon bald ihre Leiche finden.«
»Sie klingen ja fast so, als würde es Ihnen leidtun.«
»Mir tut jeder Bürger leid, der Cormier in die Quere kommt.«
»Ich denke, Sie machen sich um die falsche Person Sorgen«, knurrte Cam, und die Männer des SWAT-Teams grinsten. »Sie können ja hierbleiben und den Bereich sichern, aber ich folge ihr.«
»Sie werden binnen einer Stunde tot sein«, prophezeite ihm der Agent und zuckte mit den Schultern.