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Karten mit dem aktuellen Spurenbild von Bobbie Faye sind jetzt erhältlich. Das Rote Kreuz empfiehlt, alle Kinder und kleinen Tiere in Sicherheit zu bringen. Sie erhalten regelmäßig Updates der Koordinaten.
News-Ticker, der während der Nachrichten von Kanal 2 über den Bildschirm läuft
Cam seilte sich aus dem Helikopter in das unter ihm wartende Propellerboot ab. Die feuchte Hitze an diesem schwülen Frühlingstag in Verbindung mit der vollkommenen Windstille auf dem Bayou raubte ihm den Atem. Es war, als würde er direkt in einen glühenden Ofen hinabgleiten. Den letzten Meter überwand er mit einem Sprung. Mit seinen Stiefeln schlug er dumpf auf dem Deck des Bootes auf und brachte es mitsamt dem Mann, der mit trübem Blick hinter dem Steuer saß, ins Schwanken. Der Heli flog davon, durch den Abwind raschelten die Blätter in den Baumkronen und die hohen Gräser am Ufer des Bayous wogten hin und her.
Cam betrachtete den Mann einen Moment lang genauer. Er hatte ihn seit Jahren nicht gesehen, aber der Kerl sah noch fast genauso aus wie früher. Der dürre alte Hund schien eigentlich nur aus Knochen zu bestehen, über die sich eine sonnengegerbte Haut spannte. Er hatte so viele Falten im Gesicht, dass er praktisch als wandelnde Werbung für Sonnenschutzhersteller auf der ganzen Welt hätte durchgehen können. Was aber wirklich die Aufmerksamkeit eines jeden Beobachters erregte, waren die milchig-trüben Augen des Mannes. Obwohl fast blind, konnte er sein Boot ohne Probleme steuern und alles finden, was er suchte.
»Haben Sie das FBI schon entdeckt?«, rief Cam ihm über den höllischen Lärm des Motors zu. Der alte Landry brachte den mächtigen Propeller des Boots auf Hochtouren, und schon glitten sie durch die Sumpflandschaft. »Du suchst doch gar nicht das FBI, mein Junge«, knurrte der alte Mann. »Du suchst dieses verrückte Mädchen.«
»Und Sie wissen, wo sie ist?«
Der alte Mann zuckte mit den Schultern.
»Wieso glauben Sie, dass Sie sie finden können?«
»Ich finde alles, mein Junge. Das weißt du. Hast du dir kürzlich den Schädel angeschlagen? Oder hat dir vielleicht Bobbie Faye eine übergezogen?«
»Was zum Teufel meinen Sie damit?«
»Gar nichts, du Idiot. Aber falls du irgendwann mal den Ring finden möchtest, den du in der Nähe von deinem Haus im See versenkt hast, ruf mich an.«
Hundesohn! Cam ließ sich nichts anmerken und biss die Zähne zusammen, bis sein Kiefer schmerzte. Der Einzige, der wusste, wo sich der Ring befand, war Benoit, und der tratschte nicht. Der alte Mann hatte gern so viele Trümpfe in der Hand, wie er nur konnte, also musste er einen Spion haben oder … Cam wollte gar nicht weiter darüber nachdenken.
»Haben Sie sie gesehen?«, wollte er wissen und war ziemlich sauer, weil sich Landry alles aus der Nase ziehen ließ. Der Kerl behielt in jeder Lage gern die Kontrolle. Jetzt tippte er sich wie zur Bestätigung kurz an den Kopf, woraufhin Cam fluchte.
Er durfte nicht bloß ihre Leiche finden. Er musste sich darauf vorbereiten, was, verdammt, er dem Captain erzählen sollte. Es ging nicht nur darum, wieder Gefühl in den Händen zu bekommen, den Schmerz hinter den Augen loszuwerden, tief Luft holen zu können, weil die Lunge wie Feuer brannte.
»Sie haben mir nie erzählt, warum Bobbie Faye damals auf Sie geschossen hat«, sagte Cam.
»Das geht dich auch absolut nichts an, mein Junge«, knurrte der alte Mann.
»Wie Sie wissen, tut es das sehr wohl.«
»Da bist du bei mir an der falschen Adresse, mein Junge, und das solltest du inzwischen wissen.«
»Sie sind ein Mistkerl, wissen Sie das eigentlich?«, rief Cam. Langsam verlor er die Geduld.
»Ja. Das hab ich schon ein paarmal gehört, aber normalerweise von Leuten, die besser aussahen als du.« Der alte Mann sah Cam aus seinen milchig-weißen Augen an. »Stell die Frage, die du eigentlich stellen möchtest, oder lass mich einfach in Ruhe.«
»Ist sie am Leben?«
»Ja, und stinksauer, aber das ist ja nichts Neues.«
»Woher wissen Sie das?«
Der alte Mann tippte sich nur erneut an den Kopf.
»Allmählich begreife ich, warum Bobbie Faye auf Sie geschossen hat.«
Auf diese Bemerkung hin brach Landry in schallendes Gelächter aus, bis er sich die Tränen aus dem Gesicht wischen musste. »Mein Junge, du hast ja keine Ahnung.«
Dann verstummte er wieder, und Cam fragte sich, ob er jemals erfahren würde, was sich tatsächlich zwischen dem Mann und Bobbie Faye abgespielt hatte.
So glitten sie eine Weile in dem Propellerboot dahin und drangen in südöstlicher Richtung immer weiter in die Sümpfe vor. Schließlich nahm der Alte das Gas zurück, und das Lärmen des Motors sank auf eine annehmbare Lautstärke ab. Langsam fuhr Landry durch einen schmalen Bayou, wobei Cam stark mit sich ringen musste, nicht selbst das Steuer zu übernehmen, um die Suche zu beschleunigen.
»Als sie noch ein kleines Mädchen war«, sagte der Mann plötzlich, und Cam zuckte überrascht zusammen, »hat sie mal im Park ihren Bruder verloren.«
»Sie haben Bobbie Faye schon als Kind gekannt?«
»Halt den Mund, mein Junge, und hör einfach zu.«
Cam kochte innerlich, schwieg aber.
Der Alte fuhr fort: »Wie gesagt, sie hat mal ihren Bruder im Park verloren. Ihre Mutter war unterwegs – hat sich vermutlich irgendwo volllaufen lassen –, und Bobbie Faye sollte auf Roy aufpassen. Ich schätze, da war sie vielleicht zehn.
Nachdem sie den ganzen Park abgesucht hatte, entdeckte sie ein paar Jungs in einem Baumhaus im angrenzenden Wald. Sie waren als Cowboys verkleidet und schrien und johlten, als hätten sie irgendetwas gewonnen. Bobbie Faye bekam mit, wie einer von ihnen damit prahlte, dass sie einen Indianer gefangen genommen hätten und ihn in ihrem Fort festhalten würden. Also ging sie nachsehen, um wen es sich handelte.«
»Roy«, sagte Cam, und der alte Mann nickte.
»Diese Jungs waren allesamt größer als Bobbie Faye und haben sie ausgelacht, als sie verlangte, dass sie ihren kleinen Bruder freilassen. Der Größte von ihnen, der mindestens doppelt so schwer wie sie war, schubste sie weg und meinte, sie solle verschwinden und sich irgendwo anders ausheulen.«
Cam zuckte innerlich zusammen. Irgendwie tat ihm der Junge jetzt schon leid.
»Da hat sie ihn grün und blau geprügelt. Und sie ließ ihn Dreck fressen, richtige Erde.« Landry lachte. »Dem Nächsten, der es mit ihr aufnehmen wollte, erging es genauso. Daraufhin ist der Rest der Bande abgehauen, und sie konnte Roy befreien.«
»Sie wollen also damit sagen, dass ihr nichts passieren wird.«
»Nein, mein Junge. Du musst lernen, mal die Klappe zu halten. Was ich damit sagen will, ist, dass Bobbie Faye glaubt, sie müsse alles in ihrem Leben allein durchstehen und es würde ihr mit purer Willenskraft auch immer gelingen.«
Wieder sah er Cam an. »Diesmal wird es ihr aber nicht gelingen, mein Junge. Nur weiß sie das noch nicht.«
Cam hätte ihn gern gefragt, woher er das wusste, war sich aber sicher, dass der alte Mann es ihm nicht verraten würde. In all den Jahren, seit er Landry kannte, hatte er diesen noch nie so viel reden hören wie heute.
»Warum zum Teufel kümmert Sie das überhaupt? Bobbie Faye hat mal auf Sie geschossen, vergessen Sie das nicht.«
»Ja, das hat sie. War ein guter Schuss. Sie hätte mich töten können, wenn sie gewollt hätte.«
»Und warum helfen Sie ihr dann? Oder tun Sie das gar nicht?«
Der alte Mann hielt einen Moment lang inne, und Cam beobachtete, dass sich kurz Bedauern auf Landrys Gesicht widerspiegelte. Doch im nächsten Moment war die Gefühlsregung auch schon wieder wie weggewischt.
»Sagen wir einfach, ich habe noch eine Schuld zu begleichen, von der du nichts weißt, mein Junge. Ich möchte gern, dass sie so lange am Leben bleibt, bis ich ihr irgendwann einmal nichts mehr schuldig bin.«
Der alte Mann fuhr inzwischen noch langsamer. Sie durchquerten eine unwegsame Gegend, in der alte Baumstümpfe bis direkt unter die Wasseroberfläche reichten. Die Entengrütze bedeckte alles wie ein grüner Teppich.
Cam wollte Landry gerade fragen, ob sie jetzt bald am Ziel seien, aber der alte Mann bedeutete ihm, still zu sein, indem er einen Finger auf die Lippen legte.
Während sie dem Verlauf des Bayous folgten, warf Cam einen Blick auf sein tragbares GPS-Gerät, das er aus dem Helikopter mitgenommen hatte. Es funktionierte immer noch und sendete ein Signal. Sobald sie in der Nähe ihres Ziels wären, würde er einen Code eintippen, damit das SWAT-Team einfliegen konnte.
Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass der alte Landry glaubte, diesmal könne Bobbie Faye nicht gewinnen. Wäre das von jemand anderem geäußert worden, hätte Cam auch nichts darauf gegeben. Er streckte seine Arme, um wieder Gefühl hineinzubekommen, und versuchte durchzuatmen.
Aber es war einfach kein guter Tag zum Durchatmen.
Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte Bobbie Faye etwas Schöneres gesehen. Ungefähr einhundert Meter vor ihnen, an der Stelle, wo der Bayou in einen größeren Kanal mündete, stand auf einer kleinen Halbinsel eine Hütte. In dieser Umgebung wirkte sie mit ihrer Verkleidung aus armeegrauem Metall, dem rostigen Dach, von dem bereits die Farbe abblätterte, und den genormten, vergitterten Fenstern völlig fehl am Platz. Aber sie entsprach dem X auf Marcels Karte, und das machte sie so schön.
Dort drin sollten sich die Strebertypen befinden.
Endlich. An diesem Tag musste ja auch mal etwas klappen. Nicht einmal sie konnte so viel Pech haben.
Trevor lenkte das Flussboot zum Ufer des schmalen Kanals.
»Was zum Teufel machen Sie da?«, fragte Bobbie Faye, als er ausstieg, um es an einem Baum zu vertäuen.
»Wir sollten uns anschleichen, okay? Es kann nicht schaden, auf Nummer sicher zu gehen.«
»Hier? Mitten im Nirgendwo? Was sollen die denn machen? Mir eine Luftgitarre über den Schädel ziehen?«
Sie hatte einfach keine Lust, den ganzen verdammten Weg bis zu der Hütte durch das schlammige Wasser am Ufer des Bayous zu waten. Und sie kannte Trevor inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie nicht über Land gehen würden, damit sie keine Fußspuren hinterließen. Nein, das wäre ja viel zu einfach.
Doch sie hätte genauso gut mit den Fischen reden können. Trevor hatte sich längst die Tasche mit den Sachen der Waffenschmuggler über eine Schulter gehängt, seine Pistole gezogen und war auf dem Weg in Richtung Hütte.
»Das nächste Mal«, murmelte sie vor sich hin, »werde ich eine Geisel nehmen, die nicht so dominant ist.«
Trevor bahnte ihnen einen Weg und betrat die Halbinsel an einer Stelle, wo Gras wuchs, es also keine Fußabdrücke geben würde. Da schwarze Jalousien vor den Fenstern der Hütte heruntergelassen waren, blieb ihnen jeder Blick ins Innere verwehrt. Deswegen war Trevor ganz besonders wachsam.
Langsam näherte er sich der Hütte und suchte den Boden nach Fußspuren ab, wobei er sich vorsichtig von Baum zu Baum vorarbeitete. Er tat dies so was von umsichtig und behutsam, dass er sich wahrscheinlich auch an einen Hirsch hätte heranschleichen und ihm Glocken ans Geweih hängen können.
Und er machte sie damit schier wahnsinnig.
Sie konnte sich (gerade noch) beherrschen, ihm nicht ihre Waffe in die Rippen zu rammen, um ihn ein bisschen anzutreiben.
»Würden Sie jetzt bitte aufhören, hier 007 zu spielen und da endlich mal reingehen?«, flüsterte sie ihm zu, ohne den ärgerlichen Unterton in ihrer Stimme ganz unterdrücken zu können.
»Wir müssen vorsichtig sein«, gab Trevor ebenso leise zurück.
»Wieso? Weil sie uns irgendwelche Algorithmen an den Kopf werfen könnten? Ich denke, wir werden mit ihnen fertig.«
Sie hörten das Piepsen, das Surren und die scheppernde Musik irgendeines PC-Spiels.
»Sehen Sie?«, meinte Bobbie Faye. »Die ahnen nicht mal, dass wir hier draußen sind. Also los.«
Sie wollte sich aufrichten, aber er packte sie am Bund ihrer Jeans und zog sie wieder hinter den Baum in die Hocke.
»Wir müssen es langsam angehen«, befahl er. »Wir haben doch keine Ahnung, was wir da drin vorfinden werden. Bei so was muss man Geduld haben.«
»Meine Geduld ist aber schon vor ein paar Stunden in den nächstbesten Bus gesprungen und sitzt inzwischen mit ein paar Matrosen in einer Bar an der Westküste, um sich Margaritas hinter die Binde zu kippen.«
Noch bevor Trevor die Möglichkeit hatte, sie erneut aufzuhalten, marschierte Bobbie Faye hinüber zu der Hütte. Sofort eilte er ihr nach, um ihr Rückendeckung zu geben, doch sie trat bereits die Tür ein. Er murmelte irgendetwas davon, dass man Frauen eigentlich fesseln müsste, damit sie bewegungsunfähig wären und keinen Blödsinn machten. Doch sie ignorierte ihn einfach und betrat mit gezogener Waffe die Hütte, was Trevor dazu zwang, sich aufzurichten, um über sie hinwegsehen zu können.
Als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah sie einen Mann in einem Stuhl sitzen, der mit einem Diadem spielte. Die Gestalt des Kerls kam ihr ein wenig zu vertraut vor, und als ihre Augen vollständig auf die düsteren Lichtverhältnisse eingestellt waren, hätte sie ihn fast augenblicklich erschossen.
»Alex! Was zum Teufel tust du hier?«, rief sie, woraufhin dieser zu lachen anfing.
»Nun ja, chère, nachdem wir uns vorhin getrennt hatten, ist mir eins klar geworden. Du besitzt etwas, das ich gern wiederhaben möchte, und du bist sehr gut darin, dich aus der Affäre zu ziehen, wenn es darum geht, etwas zurückzugeben. Ich wusste, wo du hinwolltest, und ich wusste, dass du etwas gesucht hast, das einmal deiner Mama gehörte. Ich nehme an, es ging hierum. Schätze, jetzt verhandeln wir auf Augenhöhe.«
»Du Mistkerl!«, zischte sie und richtete ihre Waffe auf ihn.
Er kniff die Augen zusammen und deutete mit dem Kopf in die gegenüberliegende Ecke des Raumes.
Dort standen zwei seiner Leibwächter, die mit ihren Waffen auf Bobbie Faye und Trevor zielten. Neben ihnen auf dem Boden hockten, gefesselt und geknebelt, die Nerds – beide sahen so aus, als hätten sie sich in die Hosen gemacht.
»Weißt du, es ist so, Bobbie Faye. Die beiden Männer da haben nicht die geringste Verbindung zu Louisiana, und du weißt, was das bedeutet.« Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Es bedeutet, chère, dass es ihnen schnurz ist, ob du die Piratenkönigin bist oder nicht.«
Bobbie Faye warf Trevor einen Blick zu, sodass dieser sich zwischen sie und Alex’ Leibwächter stellte, als sie wieder zu Alex herumfuhr und auf ihn zustürmte. Einen halben Meter außerhalb von Alex’ Reichweite blieb sie stehen.
»Gib mir das Diadem, Alex.«
»Erst wenn ich meine Sachen zurückhabe.«
»Verflucht, Alex«, schnauzte sie. »Für diesen Scheiß hab ich verdammt noch mal keine Zeit.«
Sie atmete heftig, und es juckte sie in den Fingern, einfach abzudrücken, nur um ihm sein selbstzufriedenes Grinsen aus dem Gesicht zu radieren.
»Sie ist eine ziemlich gute Schützin«, meldete sich hinter ihr Trevor zu Wort. »Selbst wenn Ihre Leute mich zuerst erwischen würden, könnte sie Sie immer noch umnieten.«
»Du bist doch der Idiot, der ihr die Waffe gegeben hat. Auf dich werde ich ganz bestimmt nicht hören. Wer zum Teufel glaubst du denn, hat ihr das Schießen beigebracht?«
»Ich schwöre bei Gott, Alex. Nicht heute!«
»Warum geben Sie Alex nicht einfach seine Sachen zurück?!«, schlug Trevor vor. Sie hasste seinen verflucht sachlichen Tonfall von ganzem Herzen und hätte ihn beinahe erschossen, weil er ja so verdammt hilfreich war.
»Ich weiß nicht, wo sein Zeug ist.«
»Au revoir, chère. Du bekommst das Diadem, sobald ich meine Sachen wiederhabe.«
»Alex«, sagte sie und merkte, wie sie vor Wut und Aufregung rot anlief, »ich weiß nicht, wo das Zeug ist! Heute Morgen ist mein Trailer überflutet worden, das Wasser hörte überhaupt nicht auf hineinzuströmen. Ich habe Stacey gepackt und bin mit ihr raus, während der Wohnwagen weiter volllief und mir der Strom abgestellt wurde. Das war genau zu dem Zeitpunkt, als Roy anrief und sagte, dass er entführt worden sei. Kurz darauf ist der Trailer zusammengekracht, und ich weiß im Moment wirklich nicht, wo deine verfluchten Liebesgedichte sind! Also gibt mir jetzt auf der Stelle Mamas gottverdammtes Diadem, oder ich sorge dafür, dass jeder einzelne Vers veröffentlicht wird.«
Alex erstarrte, rang nach Luft und errötete. Bobbie Faye wusste nicht, ob ihn die Sache peinlich berührte oder ihn einfach nur die Wut packte, aber offen gesagt war ihr das in diesem Moment auch egal.
Die beiden Leibwächter in der gegenüberliegenden Ecke der Hütte begannen sich langsam in Richtung Tür zu begeben. Sie sahen aus, als würden sie sich für ihren Boss schämen, in vollem Bewusstsein darüber, dass sie das alles eigentlich gar nichts anging. Plötzlich betrat Marcel den Raum durch einen Zugang im hinteren Teil der Hütte, der wie eine Schranktür wirkte. Er kicherte leise, bis Alex ihm einen wütenden Blick zuwarf.
»Tut mir leid, Boss«, meinte Marcel und versuchte sich das Lachen zu verkneifen. »Es ist nur … du weißt schon. Liiiiieeeebesgedichte.«
»Noch ein Wort und du bist tot«, fuhr Alex ihn an.
»Gedichte?«, fragte Trevor ungläubig. Er schaute von Bobbie Faye zu Alex und dann wieder zu ihr. »Ihr macht Witze! Es geht wirklich um Liebesgedichte?«
Doch die beiden scherzten keineswegs. Bobbie Faye und Alex warfen einander so stechende Blicke zu, als versuchten sie, den jeweils anderen damit zu durchbohren.
»Und außerdem gehören sie sowieso mir«, verkündete Bobbie Faye, ohne Alex aus den Augen zu lassen. »Du hast sie für mich geschrieben. Also kannst du sie nicht einfach so zurückverlangen.«
Trevor senkte seine Waffe, hob eine Augenbraue und musterte Bobbie Faye mit einer Intensität, die sie nicht wirklich einordnen konnte. »Sie lieben den Kerl ja immer noch«, sagte er, als wäre es ihm plötzlich klar geworden.
»Zum Teufel nein!«, riefen sie und Alex wie aus einem Mund und funkelten sich dann wieder zornig an.
»Nein«, bekräftigte Bobbie Faye noch einmal, aber diesmal klang es ruhig. »Ich habe schon vor langer Zeit Verstand genug gehabt, von diesem Zug, der direkt in die Hölle fährt, abzuspringen.« Sie blickte zu Trevor. »Aber es sind sehr schöne Gedichte. Man könnte sie sogar auf Postkarten drucken.«
Alex zuckte so heftig zusammen, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde glaubte, tatsächlich auf ihn geschossen zu haben.
»Bobbie Faye«, presste er hervor, »hast du überhaupt eine Ahnung, was sich mit Gedichten verdienen lässt? Ich bin jetzt Waffenschmuggler. Ich habe einen Ruf zu verlieren!«
»Äh … Boss?«, meldete sich einer der Leibwächter, und Alex fuhr zu ihm herum.
»Ein Wort«, erklärte Alex, »und ihr seid beide tot.«
»Äh … nein, Boss. Nicht deswegen. Es geht darum«, erklärte er und deutete auf irgendetwas draußen vor dem Fenster.