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Wissen Sie, wie manche Leute zu Höherem berufen werden? Also, Bobbie Faye Sumrall wachte eines Morgens auf, trat diesem Höheren die Zähne ein, rammte ihm das Knie zwischen die Beine und nahm es als Geisel. Seitdem winselt es um Gnade.

Ein ehemaliger Bürgermeister in Louisiana, in dessen Büro Bobbie Faye aus Versehen mit ihrem Wagen gefahren war, wobei Papiere auf die Straße geschleudert wurden, die seine Beteiligung an betrügerischen Machenschaften bewiesen und ihn hinter Gitter brachten

Irgendetwas Nasses, Schwammiges traf Bobbie Faye mitten ins Gesicht, sodass sie schlagartig hellwach war und begann, wie wild mit den Armen um sich zu schlagen. »Verdammt, Roy, du hast mich wieder mit einem der Fische getroffen, und ich werde …« Moment mal! In ihrem engen Trailer herrschte Dunkelheit. Es war weder ein Fisch in der Nähe noch stand ihr kleiner Bruder Roy hier irgendwo mit Unschuldsmiene herum. Natürlich hatte sie geträumt, denn Roy war inzwischen sechsundzwanzig und nicht mehr der zehnjährige Junge, allerdings immer noch eine absolute Nervensäge.

Sie versuchte sich das kalte Wasser aus dem Gesicht zu wischen. »Was war das?«, murmelte sie. »Und wieso zum Teufel bin ich so nass?«

»Du hast ein S’wimmbecken hier drin.«

Bobbie Faye kniff die Augen zusammen und starrte im Halbdunkel ihre fünfjährige Nichte Stacey an, deren blonde Zöpfe durch das Licht der Fliegenfalle direkt vor dem Fenster des Trailers von einem blauen Lichtkreis umgeben waren. Dann warf sie einen Blick auf den nassen Schläger aus Schaumgummi, den Stacey fallen gelassen hatte – er schwamm gut fünf Zentimeter über dem lindgrünen Zottelteppich.

»Mist!« Bobbie Faye sprang aus dem Bett und zuckte zusammen, als das eiskalte Wasser ihre Knöchel umspülte. »Verdammt! So ein verdammter, verfluchter Mist!«

»Mama sagt, du sollst nicht so viel fluchen.«

»Ach ja? Deine Mama sollte mal mit dem Trinken aufhören, Kleine, aber dazu wird es wohl auch nicht kommen.«

Ach Scheiße. Da hatte sie etwas echt Fieses gesagt. Sie beobachtete, wie Stacey darauf reagierte, doch ihre Nichte war voll und ganz mit dem durchgeweichten Schaumstoffschläger beschäftigt und schien sie gar nicht gehört zu haben. Gott sei Dank. Bobbie Faye hatte nicht vorgehabt, der kleinen Teppichratte wehzutun. Abgesehen davon konnte man morgens um vier wohl kaum von ihr verlangen, in ihrer Wortwahl besonders vorsichtig zu sein. Wer zum Teufel würde das überhaupt von ihr erwarten? Lori Ann natürlich. Ihre üppige, Pillen schluckende, gern dem Wein zusprechende kleine Schwester, der ein Grace-Kelly-Lächeln ins Gesicht gemeißelt zu sein schien, das sie immer erfolgreich und gelassen wirken ließ, selbst wenn sie gerade gegen eine Wand taumelte und auf ihrem Hintern landete.

Bobbie Faye würde niemals gelassen wirken.

Und ausgerechnet heute wollte die Frau vom Sozialamt vorbeikommen. Nachmittags um halb fünf. Sie sollte dann beurteilen, ob Bobbie Faye Stacey ein sicheres und beständiges Zuhause bieten konnte. Bobbie Faye fröstelte, als das eisige Wasser um ihre Knöchel schwappte. Irgendwie musste sie den Schaden rechtzeitig beheben – wo immer dieser Mist auch herkam –, dann bei der Eröffnungsveranstaltung des Piraten-Festivals den Vorsitz führen und vor halb fünf wieder zurück sein, um zu beweisen, dass sie während der vier Monate, in denen Lori Ann ihre vom Gericht angeordnete Entziehungskur im Troy House hinter sich brachte, eine gute Pflegemutter sein würde.

Oh, wie geil.

Wasser spritzte gegen ihre Knie, und sie beobachtete, wie Lori Anns kleiner Wadenbeißer begeistert durch den Flur stapfte.

»Deine Nil’ferde s’wimmen.« Stacey lachte und zeigte auf die Tiere, die über Bobbie Fayes dünnen weißen Baumwollpyjama zu tanzen schienen und im Dunkeln leuchteten. Dann hüpfte das Monsterkind mit Schwung im Wasser auf und ab, sodass es bis an Bobbie Fayes Ellbogen spritzte.

»Um Himmels willen, Stacey, wenn du noch ein einziges Mal hochspringst, werde ich dich in einen Frosch verwandeln.«

Stacey kicherte, aber zumindest hörte sie auf herumzuhopsen.

Bobbie Faye stand vor dem schmalen Hauswirtschaftsschrank des winzigen, dunklen Trailers und starrte wütend auf die Schuldige: ihre Waschmaschine. Sie war nun offenbar total durchgeknallt. Wasser schoss von irgendwo hinter der vibrierenden Katastrophenmühle wie aus einem Geysir hervor. Wenn sie in Besitz einer Waffe gewesen wäre, hätte sie auf das Ding geschossen. Und zwar mehrfach. Und das mit Vergnügen. Sie drehte an Schaltern, drückte auf Knöpfe, die schon lange kaputt waren und von denen niemand mehr wusste, wozu sie ursprünglich einmal gedient hatten.

Am liebsten hätte sie vor Wut darüber, dass ihr das ausgerechnet jetzt passierte, aufgestampft, aber sie war inzwischen wach genug, um sich vor Stacey wie eine Erwachsene zu benehmen. Denn das vermochte Bobbie Faye durchaus. Sie war achtundzwanzig, die älteste der drei Geschwister und diejenige, an die sich die anderen beiden immer wandten, wenn sie wieder irgendwas verbockt hatten. Sie konnte also auch die Erwachsene sein und Probleme lösen. Sie war sozusagen der Inbegriff einer Problemlöserin, und deswegen schlug sie mit der Faust auf die Maschine, in der Hoffnung, durch einen heftigen Stoß vielleicht wieder etwas in Ordnung bringen zu können, das gerade fürchterlich aus dem Ruder lief. Das Gerät wackelte, das Wasser spritzte noch höher, und in diesem Moment verabschiedete sich Bobbie Faye komplett von dem Anspruch, sich erwachsen zu verhalten. Sie holte aus und trat mit voller Wucht gegen die Maschine, dann quiekte sie auf und verzog vor Schmerz das Gesicht, denn steif gefrorenen Zehen bekam es in der Regel nicht besonders gut, auf derart heftige Weise mit Metall in Kontakt gebracht zu werden. Sie kniff die Augen zusammen, hüpfte auf dem anderen Bein herum und biss sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass sie einen weiteren Schwall von Kraftausdrücken von sich gab. Tolle Methode, deine Gehirnzellen zu benutzen, du Genie!

Stacey sah einen Moment lang dabei zu, wie ihre Tante herumsprang, und begann dann selbst wieder mit der Begeisterung einer am Morgen nach Ostern noch voll überzuckerten Fünfjährigen durch den Trailer zu hüpfen und Wellen zu erzeugen, die alles überschwemmten, was auf ihrem Weg lag.

Und dasselbe Kind bekommt schon einen Wutanfall, wenn ich nur daran denke, dass es Zeit ist, mal zu baden.

Zwei Dinge wusste Bobbie Faye ganz genau: Erstens, ein Tag ohne irgendeine Katastrophe kam nur im Leben anderer Menschen vor. Und zweitens würde sie ihren Bruder Roy dafür umbringen, dass er nicht wie versprochen vorbeigekommen war, um die Waschmaschine zu reparieren.

Sie platschte durch die Küche zur Hintertür und öffnete sie, in der Hoffnung, das Wasser würde einfach ablaufen. Doch lediglich ein kleines Rinnsal ergoss sich nach draußen. Der Boden des Trailers hatte sich bereits gesenkt und lag schon tiefer als die Türschwelle. Ihr alter Wohnwagen verwandelte sich langsam, aber sicher in eine Schüssel.

Na wunderbar. Die Waschmaschine leckt, der Trailer dafür aber nicht.

Einen Moment lang ließ Bobbie Faye die Schultern hängen und konnte kaum dem Drang widerstehen, ihre Stirn gegen den Türrahmen zu donnern. Heute war ihr einziger freier Tag. Sie hatte die ganze Woche lang Überstunden gemacht, um sich an diesem Morgen ein bisschen erholen zu können und sich in Ruhe auf die Eröffnungsfeier des Piraten-Festivals vorzubereiten. Eigentlich war sie davon überzeugt gewesen, dass nichts das Unwetter am Eröffnungstag im letzten Jahr übertreffen könnte, denn es hatte einen Baum entwurzelt, der auf ihr erstes wirklich schönes Auto gefallen war, einen leicht verbeulten roten Nissan 300ZX. Sicher, der Gebrauchtwagen hatte schon einige Kilometer runter gehabt. Außerdem zog er deutlich nach links, aber er hatte schön geglänzt und nur zwei rostige Stellen aufgewiesen. Wäre der Baum in irgendeine beliebige andere Richtung gekippt, hätte es keinerlei Schäden gegeben. Aber so wäre es wieder nur im Leben von jemand anderem abgelaufen. Und da hatte es dann auch nicht sonderlich geholfen, dass ausgerechnet an jenem Tag das Kündigungsschreiben ihrer Autoversicherung eingetroffen war. (Kein Mensch wollte ihr glauben, nicht einmal ihre Freunde nahmen ihr ab, dass sie den Feuerwehrtruck nicht wahrgenommen hatte, der im Begriff gewesen war, mit flackernden blauen und roten Lichtern sowie heulender Sirene die Kreuzung zu überqueren. Bobbie Fayes Meinung nach trug der Feuerwehrmann, der am Steuer gesessen hatte, eindeutig die Verantwortung für alles, was daraufhin geschehen war. Obwohl sie es ziemlich unangenehm gefunden hatte, dass er, als er ihr auswich, gegen eine Straßenlaterne geprallt war, die daraufhin auf dem Dach des kleinen Lebensmittelladens an der Ecke aufschlug.) Ihre Versicherung hatte alle Schäden beglichen. Und ihr gekündigt.

Diese Mistkerle!

Und in diesem Jahr? Da sollte es anders sein. Sie würde einen schönen, entspannten Tag erleben, selbst wenn sie dafür jemanden umbringen musste. Es waren keine Unwetter angekündigt. Die Versicherung für ihre klapperige Brotdose auf vier Rädern – einen Honda Civic, den sie sich als Ersatz für ihren coolen kleinen Sportwagen gekauft hatte – war bezahlt. Sie hatte genug Zeit eingeplant, um sich in Ruhe fertig zu machen und nicht in den Berufsverkehr zu geraten, am Abend zuvor noch ihre Sachen gewaschen und brauchte sie jetzt nur noch in den Trockner zu tun …

Und genau deswegen stand sie jetzt mitten in ihrem Trailer im fünf Zentimeter tiefen Wasser.

Nie im Leben würde sie jetzt noch alles allein schaffen. Roy musste seinen armseligen Arsch zu ihr herüberbewegen und ihr helfen. Sie ging zum Telefon, um ihn anzurufen, schaltete das Licht im Wohnzimmer ein und – schnappte nach Luft. Kleine Wellen kräuselten sich auf dem Boden. Wasser plätscherte gegen die Unterseite der eher abgewohnten als schicken Sitzgruppe und stand bereits in dem Regalfach direkt unter dem Fernseher, in dem ihr uralter Videorekorder verstaut war. Auf dem Teppich neben dem Sofa, wo sie es zurückgelassen hatte, lag das Erinnerungsalbum ihrer Mutter vom Piraten-Festival. Völlig durchweicht.

Bobbie Faye bemühte sich so sehr, die Tränen zurückzuhalten, dass ihre Gesichtsmuskeln vor Anspannung schmerzten. Ihre Mutter hatte dieses Album mehr als zwanzig Jahre lang sorgsam aufbewahrt. Als Bobbie Faye sieben gewesen war, hatte sie eine schwarze Augenklappe auf den Umschlag kleben dürfen, welche symbolisch für die Geschichte des Festivals stehen sollte. Gut, ihre Mom war betrunken gewesen und hatte die Augenklappe und die Pailletten erst ein paar Tage später bemerkt. Aber dann erlaubte sie Bobbie Faye, sie draufzulassen, und zeigte das Album sogar stolz ihren Freundinnen. Und das war fast genauso gut, besonders weil ihre Mom ihr dann eine Augenklappe gebastelt hatte, die sie zum jährlichen Piratenkostüm-Wettbewerb tragen konnte.

Piraten, das war Bobbie Faye so eingetrichtert worden wie anderen Kindern der Katechismus, hatten an der Vielzahl von sumpfigen Flussarmen, in Louisiana auch Bayous genannt, und in den Mooren im Süden des heutigen Bundesstaats gelebt, weil diese perfekt für den Transport von Diebesgut und Schmuggelware in dem schnell wachsenden Territorium geeignet gewesen waren. Die Freibeuter hatten sich aus dem gleichen Grund dorthin zurückgezogen wie die Cajuns, die Nachfahren der französischen Siedler, die im 18. Jahrhundert aus Nova Scotia in Kanada vertrieben worden waren: Sie brauchten einen Zufluchtsort. Im Sumpfland konnte jeder sein, was er wollte. Man knüpfte enge Beziehungen, und es war selbstverständlich, auf seinen Nachbarn aufzupassen, selbst wenn völlige Einigkeit darüber bestand, dass es sich bei ihm um einen ausgemachten Spinner handelte – und auch das war absolut in Ordnung.

Die späteren Bewohner durchpflügten erfolglos die halbe Gemeinde Calcasieu, um die angeblich noch immer dort verborgenen Schätze der Piraten zu finden, ehe sie schließlich aufgaben. Nun ja, nicht ganz. Bobbie Faye konnte sich daran erinnern, als Kind einmal gehört zu haben, dass es einen Ort namens Contraband Bayou gebe, an dem ein paar Piraten Edelsteine und Gold am Ende des Flussarms versteckt hätten. Deshalb war sie mitgegangen, als Roys und Lori Anns Vater angeboten hatte, sie mit zum Fischen zu nehmen. Ihr war klar gewesen, dass sie direkt an dem berühmten Bayou vorbeikommen würden, und sie hatte fest daran geglaubt, den Schatz zu finden, wenn er sie dort hinausließe. Doch alles, was dabei herumkam, war der Kontakt mit giftigem Efeu, der ihr üble Schmerzen einbrachte, sowie der Anblick von jeder Menge Löcher, die schon andere vor ihr vergeblich gegraben hatten. So viel zum Thema Geschichte.

Wie das Leben nun einmal so spielte, entwickelten sich die Erzählungen allmählich zu Mythen, um die herum dann Feierlichkeiten entstanden. So wie das Piraten-Festival, ein verrücktes, quirliges Fest im Mai, bei dem sich alle Einwohner zwölf Tage lang als Piraten verkleideten, um zu feiern, Musik zu hören, zu tanzen und alle möglichen witzigen Sachen zu veranstalten: Kräftemessen mit Traktoren, Rennen, Paraden, Seeräuberspiele … Jedes Jahr fand ein »offizieller« Schönheitswettbewerb statt, aber Bobbie Fayes Mom (und schon deren Mom und deren Mom zuvor) waren die inoffiziellen »Königinnen« gewesen – ein Titel, den es bereits seit so langer Zeit gab, dass sich niemand mehr so richtig daran erinnerte, wie er von Generation zu Generation weitergereicht worden war. Bobbie Fayes Mom hatte über all ihre Erinnerungen an die verschiedenen Piraten-Festivals ein Album angelegt … und es kurz vor ihrem Tod ihrer Ältesten geschenkt, nachdem sie ihr bereits ihre Pflichten als Königin übertragen hatte.

Bobbie Faye zog nun das Album aus dem Wasser. Ihr wurde ganz schwer ums Herz, als sie langsam die erste durchgeweichte Seite umblätterte. Spinnwebenartig verliefen tintenblaue Rinnsale über das Papier und nahmen fast allen Worten ihre Bedeutung. Durch das Wasser waren die alten Fotos zu trüben Schatten verblasst, und sämtliche Erinnerungen bildeten nur noch einen klatschnassen Klumpen. Die getrockneten Blätter einer Rose, die ihre Mutter bei ihrer letzten Parade getragen hatte, lösten sich unter Bobbie Fayes Berührung auf.

Dann kochte die Wut in ihr hoch und Bobbie Fayes Adrenalinspiegel stieg noch ein Stück weiter an – sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde jeden Moment explodieren. Noch dazu plätscherte das kalte Wasser immer höher um die Hosenbeine ihres Pyjamas.

Das Album war ihr immer ein Trost gewesen, wenn sie mal wehmütig an früher gedacht hatte. An die Zeit, bevor ihre Mutter damit anfing, diese großen Schlapphüte zu tragen, und ehe ihr Haar auf unerklärliche Weise immer dünner und dünner geworden war. Bevor es ihr zur Gewohnheit wurde, die seltsamsten Klamottenkombinationen zu tragen, und ihre Frühstückseier mit Speck immer öfter einen Hauch stärker nach Rum zu riechen begannen, als sie sollten. Bevor Bobbie Faye bemerkte, dass ihre Mom an den meisten Tagen eigentlich ein bisschen zu überdreht war und dass sie Jitterbug auf dem Kaffeetisch getanzt hatte (bis er zusammenbrach). Und bevor Bobbie Faye erfuhr, was das Wort Krebs bedeutete.

Sie blickte auf das zerstörte Album in ihren Händen. Wenn Roy wie versprochen vorbeigeschaut und diese verdammte Waschmaschine repariert hätte, wäre das alles nicht passiert.

Bobbie Faye starrte durch das vordere Fenster des Trailers hinaus auf die Schotterstraße und stellte sich vor, sie würde ihrem Bruder mit einem Laserstrahl zielsicher ein Brandzeichen auf den Hintern setzen. Leider hatte sie jedoch nicht die geringste Ahnung, wo er sich gerade befand. Und ihn ans Handy zu bekommen glich einem Wunder. Er konnte überall sein: an seinem Angelplatz südlich des Trailerparks, wo es Hunderte kleiner Flussarme und Gewässer gab (oder Fluchtrouten, wie Roy sie nennen würde); oder auch nördlich des Trailerparks, wo er sich vielleicht in irgendeinem der Rattenlöcher in Lake Charles, die sich Bars schimpften, versteckte. Die triste Industriestadt gehörte für Bobbie Faye zu der Sorte verschrobener, unabhängiger Orte in den Südstaaten, um deren Image sich nie jemand geschert hatte. Würde jemand der Stadt den Namen »Heimat der Hardcore-Säufer, gegen die alle Zecher während des Mardi Gras wie lasche Feiglinge wirken« verpassen und die Stadt eine Frau sein, stünde sie wahrscheinlich schwankend auf und salutierte.

So, wie sie Roy kannte, hielt er sich nicht in der Nähe seiner Wohnung in der Innenstadt auf. Es war wahrscheinlicher, dass er in irgendeiner dämlichen Pokerrunde saß oder – Gott möge ihm helfen – einer seiner vielen Freundinnen einen Besuch abstattete. Soll er doch weglaufen, dachte sie, verstecken kann er sich ohnehin nicht.

Sich zu verstecken war allerdings das Einzige, was Roy in diesem Moment im Kopf hatte. Er schlüpfte in seine Jeans und versuchte dann, seine eins achtzig in einen großen, staubigen Zwischenraum zu quetschen, der sich unter der breiten, in die Fensternische eingebauten Sitzbank im Haus seiner verheirateten Freundin Dora befand, von der aus man diesen wunderschönen Ausblick auf die Bucht hatte. Er schlängelte sich geräuschlos hinein, darauf bedacht, sich nichts dabei zu zerren, bekam jedoch bereits jetzt einen Krampf in den Zehen. Die Lagen von Staub im Innern der Kammer kitzelten ihm in der Nase, und er hielt sie sich zu, um nicht niesen zu müssen. Gleichzeitig spähte er durch das hübsch verzierte Blechgitter, das die Fensterbank verkleidete, und sah, wie sich zwei Muskelpakete, die eindeutig der Interessengemeinschaft zur Legalisierung von Steroiden angehören mussten, in den Raum schoben. Dora, seine nahtlos gebräunte, gut gebaute (gesegnet sei Jimmy und dessen Bereitschaft, seine Frau jede Art von Schönheitsoperation machen zu lassen, die sie wollte) und sehr blonde Freundin, hockte über ihm auf der Sitzbank. Sie ließ ihre Beine vor dem Gitter baumeln, damit er dahinter besser versteckt war.

»Wo ist Roy?«, wollte der kleinere der beiden Kraftprotze von Dora wissen.

»Ich hab ihn nicht mehr gesehen, seit er die Bar verlassen hat. Außerdem bin ich verheiratet. Was sollte Roy hier zu suchen haben?«

»Das Gleiche, was er immer hier sucht, seit dein Mann auf der Ölplattform arbeitet«, erklärte der Typ. Er sah sich kurz im Zimmer um und schüttelte sich demonstrativ. »Gab’s Spitze billig im Ausverkauf? Das hier ist ja ein verdammter Albtraum. Kein Wunder, dass Jimmy immer draußen auf dem Meer ist.«

Roy konnte es zwar nicht sehen, doch er wusste, dass Dora ihre mit Collagen aufgespritzten Lippen gerade zu einem Schmollmund verzog.

»Trotzdem, sehr hübscher Balkon«, meinte der größere der beiden Männer. Roy kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. In einer Bar und in betrunkenem Zustand hätte er es glatt mit einem Kerl dieser Größe aufgenommen, wenn er es wagen würde, eine Anspielung auf Doras Brüste zu machen. Selbst wenn man die Frau eines anderen Mannes vögelte, musste trotzdem ein gewisser Anstand gewahrt werden.

»Ich hab keine Ahnung, wo Roy ist«, beharrte Dora.

»Du weißt es genau«, behauptete der kleinere Muskelprotz. »Roy besitzt etwas, das wir gern hätten, und wir wissen, dass er hierhergekommen ist.«

»Ja«, stimmte der andere ihm zu. »Er kommt hier immer … äh … her. Ist es nicht so, Eddie?« Er prustete los. Er war fast doppelt so groß wie der Kleinere, doch Roy schätzte ihn als etwas jünger und simpler gestrickt ein.

Roy verlor zwar grundsätzlich jeden zweiten Freitag beim Pokern, war aber dennoch der festen Überzeugung, eine hervorragende Menschenkenntnis zu besitzen. Wer immer die beiden auch waren, es ging ihnen nicht um seine Spielschulden. Er hatte schließlich fast alles beglichen, und die drei Typen, bei denen er normalerweise in der Kreide stand, schickten solche Schläger erst, wenn man ein paar Monate im Rückstand war (und somit hatte er noch acht Tage). Und auch der Mann, der ihm das Boot abgekauft hatte, wusste mit großer Sicherheit noch nichts davon, dass Roy gar nicht der Besitzer gewesen war. Nein, diese beiden Typen mussten wegen irgendeiner anderen Sache da sein. Nicht, dass er sich nicht irgendwie hätte herausreden können. Der Herr war sein Zeuge, das hatte er schon Hunderte von Malen zuvor getan.

Roy bemerkte, wie Dora die linke Wade anspannte und scharf die Luft einsog. An ihrer schlanken Fessel vorbei konnte er sehen, dass der kleinere Muskelberg, der offensichtlich Eddie hieß, eine Waffe auf sie gerichtet hielt.

Das Holz der Sitzbank knackte, als Dora ihr Gewicht verlagerte. Staub stieg Roy in seine ohnehin schon juckende Nase, und sein Handy, das er auf volle Lautstärke gestellt hatte, damit er es auch in der Bar hören konnte, klingelte und vibrierte in seiner Hosentasche los, dudelte das Kampflied der Louisiana State University. Roys Herzschlag beschleunigte sich innerhalb von Millisekunden um gefühlte drei Milliarden Schläge pro Minute, während er fieberhaft versuchte, das Telefon auszumachen …

… wobei er den Anruf jedoch leider annahm, sodass jeder im Raum hören konnte, wie Bobbie Faye ihn anschnauzte. Zwar wurde ihre Stimme durch den Stoff seiner Jeans hindurch gedämpft, doch das genügte nicht im Entferntesten. »Roy! Du Hurensohn! Du hattest mir versprochen, die Waschmaschine zu reparieren, und ich hab dich sogar schon dafür bezahlt! Jetzt schieb deinen Arsch …« Es gelang ihm, das Telefon auszuschalten. Er saß nun wie erstarrt da, während er versuchte, sich selbst einzureden, das eben wäre gar nicht passiert und es hätte auch niemand etwas gehört.

Plötzlich erleuchtete die Deckenlampe das Schlafzimmer, der Deckel der Sitzbank wurde hochgeklappt und über Roy erschien ein Gesicht, eine fürchterliche, entstellte Grimasse, nur Zentimeter von ihm entfernt. Die Nase war offenbar schon oft gebrochen gewesen, denn sie verlief in einer Art Zickzack, und auch die rechte Gesichtshälfte schien etwas eingedrückt zu sein und wirkte, als hinge sie etwas tiefer als die linke.

»Hallo Roy. Ich kenne jemanden, der gern mit dir sprechen möchte.«

»Äh … tja … also, danke. Aber weißt du, das am Telefon war meine große Schwester, ich muss sofort zu ihr rüber und die Waschmaschine reparieren, sonst reißt sie mir echt den Arsch auf.« Roy erhob sich vorsichtig und strengte sich an, möglichst gelassen zu wirken, als Eddie die Waffe auf seine Brust richtete.

»Ehrlich, Leute. Sie wird mich umbringen.«

»Falls noch irgendetwas von dir übrig sein sollte, sobald wir mit dir fertig sind«, erklärte Eddie, »würden wir sogar einen ausgeben, um dabei zusehen zu dürfen.« Er rammte Roy die Waffe in die Seite, und dieser wandte sich mit einem flehenden Blick an Dora.

»Babe? Könntest du bitte Bobbie Faye anrufen und ihr sagen, dass ich mich möglicherweise ein bisschen verspäten werde?«

»Keine Telefonate«, sagte Eddie zu Dora. »Du hältst die Klappe, dann müssen wir auch nicht zurückkommen. Kapiert?«

Dora nickte und zog ihren Bademantel enger um ihren Körper, während die beiden Muskelmänner Roy aus dem Zimmer schleiften.

»Mann, ich muss sie wirklich anrufen!«, versuchte Roy es noch einmal und setzte sein strahlendstes Lächeln auf. »Ihr habt ja keine Ahnung, wie verrückt Bobbie Faye ist.«

»Das ist im Moment dein geringstes Problem«, erwiderte Eddie.

»Hm«, meinte Dora zweifelnd, die ihnen den Flur hinunter gefolgt war. »Offenbar kennt ihr Bobbie Faye noch nicht.«

Um fünf Uhr morgens, als Bobbie Faye mit einem Schraubenschlüssel auf das Ventil der Waschmaschine einschlug, fühlte sie sich, als würde sie vor Wut gleich mitsamt ihrem Trailer in die Luft gehen. Sie hatte das Gerät von der Wand abgerückt und ein Stück in den schmalen Flur gezogen, um an das Wasserrohr heranzukommen. Nicht nur, dass sich das Wasser nicht abstellen ließ. Wie es so in druckvollen Strahlen in alle Richtungen schoss, hätte es auch jeden Feuerwehrmann glücklich gemacht, der einen Großbrand löschen musste. Und mit genauso viel Druck fluchte Bobbie Faye – so leise sie konnte.

Hinter sich hörte sie ein seltsames Quietschen, wie von Gummi, und dann klatschte Wasser gegen die Wände. Bobbie Faye fuhr herum und sah Stacey, die mit wild entschlossener Miene in ihrem Schwimmring Floß fuhr, wobei ihr Po über den Boden rutschte.

»Stace, zum … aller … letzten … Mal! Das hier ist kein Swimmingpool. Nimm dir deinen Sandeimer, wie ich es dir gesagt habe, und schöpf das Wasser zur Vordertür raus.«

»Was is’ s’öpp’en?«, wollte Stacey wissen. »Mama sagt, du s’öppst immer dein Geld aus, um Onkel Roy aus dem Gefängnis zu holen.«

Nun war es offiziell: Bereits mit nur fünf Jahren hatten sie ihre kleine Nichte total verdorben. Das stellte sogar für die Sumralls einen Rekord dar.

»Ungefähr das Gleiche, wie Wasser zur Tür raus zu schaufeln. Es bedeutet, jemandem zu helfen, der in Schwierigkeiten steckt, und dass Tante Bobbie Faye am Ende pleite ist.«

Nachdem Bobbie Faye ihre Nichte an der Eingangstür postiert hatte, um das Wasser aus dem Trailer zu befördern, war ihr plötzlich, als würde sich alles innerhalb des Trailers irgendwie nach innen neigen. Sie ging in die Mitte des Wohnwagens und tatsächlich, dort war das Wasser tiefer – es stand fast zehn Zentimeter hoch, im Gegensatz zu den zwei Zentimetern in der Nähe der Tür. Dieser nette kleine optische Effekt, der eigentlich eher etwas auf einem Rummelplatz zu suchen gehabt hätte, fiel definitiv in die Kategorie: Verdammte Scheiße!

Bobbie Faye beschloss, nicht auszuflippen. Absolut nicht. Im Haus der Sumralls existierte so etwas wie Panik überhaupt nicht. Leider fiel ihr jedoch genau in diesem Moment auf, wie der Trailer knarrte und ächzte. Ihr Vorhaben, die Ruhe zu bewahren, schien also für die Katz gewesen zu sein.

Während aus dem frühen Morgen langsam helllichter Tag wurde, kletterte Bobbie Faye aus dem Wohnwagen, um nachzusehen, ob es einen anderen Weg gab, das Wasser abzustellen. Von draußen fiel ihr sofort auf, dass der Trailer irgendwie geschwollen aussah und der Boden zwischen den armseligen kleinen Stützen, auf denen er ruhte, durchhing – aufgequollen wie eine Frau mit PMS, die gezwungen war, Stilettos zu tragen.

Sie hatte immer noch keine Nachricht von Roy und keine Ahnung, wie man den verdammten Hahn abdrehte, sie sah keinen Ausweg.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Notdienst der Wasserwerke anzurufen. Was wiederum bedeutete, dass sie mit Susannah sprechen musste, die immer noch Bobbie Faye die Schuld daran gab, dass die gesamte Louisiana State University Zeuge geworden war, wie sie ihre Jungfräulichkeit an den Assistenten des Dekans verloren hatte. Bobbie Faye hatte während ihrer kurzen Anstellung als studentische Hilfskraft im Büro des Dekans die Gegensprechanlage eingeschaltet gelassen. (Mal ehrlich … wer konnte denn auch ahnen, dass Zahlenfuzzys so laut waren?)

Dass Susannahs Eltern zum Kollegium gehörten und alles persönlich hatten mithören können, war da auch nicht gerade förderlich gewesen.

Aber es handelte sich hier eindeutig um einen Notfall, und insofern musste Susannah ihr einfach jemanden vorbeischicken.

Der größere der beiden Kraftpakete, dem Roy im Stillen den Spitznamen »der Berg« verpasst hatte, schnürte Roy mit einer Plastikfessel die Hände auf dem Rücken zusammen und stieß ihn dann in den Fond einer schwarzen Limousine. Als sie in Richtung Osten auf die Interstate fuhren, schmerzten Roys Arme, seine Nase juckte, und ihm dämmerte langsam, dass diese Jungs ihm tatsächlich noch größere Probleme bereiten konnten als die wütende Bobbie Faye.

Er beugte sich ein wenig vor und sah von Eddie, der am Steuer saß, zu dem Berg auf dem Beifahrersitz, dessen Magen knurrte.

»Ist es wegen Dora?«

Keiner der beiden Männer antwortete.

Es schien unwahrscheinlich zu sein. Jimmy war zwar ein Raubein, aber auch ziemlich direkt, und wenn er Roy in Verdacht hätte, Dora zu vögeln, würde er kein Geld für irgendwelche Schläger aus dem Fenster werfen, sondern ihm gleich selbst eine Abreibung verpassen.

»Ellen?« Keine Antwort. »Oder … Vickie? … Thelma?«

Immer noch nichts.

Vielleicht hing es mit den tausend Mäusen zusammen, die er Alex schuldete, seit er aus der letzten Pokerrunde ausgestiegen war. Aber … so gern der Kerl ihn vielleicht auch umbringen wollte, Roy wusste genau, dass Alex nicht die geringste Lust darauf hatte, es mit Bobbie Faye zu tun zu bekommen. Nie im Leben. Und wenn er ihren Bruder umlegte, würde er eine Menge mit ihr zu tun bekommen. Die anderen Jungs am Pokertisch hatten Roy sogar das Versprechen abgenommen, seine Schwester nicht einmal mehr zu erwähnen, denn Alex zuckte jedes Mal zusammen, wenn er ihren Namen hörte, und niemand wollte einem nervösen Waffenschieber gegenübersitzen.

Während Eddie und der Berg Roy in Richtung Baton Rouge karrten, grübelte er über seine ständig wachsende Liste von Exfreundinnen und deren Ehemännern nach, die ihn gern verletzt (oder vielleicht auch halb tot) gesehen hätten, wenn sie ihn in die Hände bekämen. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen sich die Mühe machen und so viel Geld springen lassen würde, zumal ein gutes Gewehr und ein Boot ausreichten, um ihn auf dem Grund eines kleinen unbekannten Bayous verschwinden zu lassen.

Bobbie Faye griff nach ihrem schnurlosen Telefon und wählte die Notrufnummer der Wasserwerke.

Als Susannah Bobbie Fayes Stimme erkannte, legte sie auf.

Etwa fünfzehn Minuten später dann konnte Bobbie Faye sie endlich dazu bringen, am Apparat zu bleiben und sich das Problem anzuhören.

Susannah lachte und rief das Lokalradio an.

Als sie schließlich wieder in der Leitung war, konnte der Moderator in der nun geschalteten Dreierkonferenz mitreden und hatte Bobbie Faye mit ihrer neuesten Katastrophe live auf Sendung. Sie wusste, wie sehr Susannah diese Racheaktion genoss. Um die Sache noch etwas lustiger zu gestalten, gab sie Bobbie Faye den äußerst hilfreichen Rat, einfach den Haupthahn abzudrehen.

»Ach?!«, erwiderte diese. »Ich habe alles getan, außer Hühner zu opfern, damit sich das Ding auch nur einen Millimeter bewegt. Und wenn Gott der Allmächtige selbst versuchte, ihn zuzudrehen, er würde bloß einen Minderwertigkeitskomplex kriegen.«

»Gut«, meinte Susannah ein bisschen zu fröhlich, »ich schicke jemanden raus. Er wird zwischen zwölf und drei da sein.«

»Ich kann nicht bis drei Uhr darauf warten, dass jemand kommt. Hast du mal Titanic gesehen? Das war gar nichts im Vergleich zu dem hier, Susannah. Ich kann den Haupthahn nicht abdrehen. Da ist ein Schloss dran, und der Parkmanager ist übers Wochenende …«

Klick.

Bobbie Faye starrte auf das plötzlich tote Telefon und dann auf die Station, die auf der Armlehne des alten, abgenutzten Sofas stand. Da bemerkte sie, dass auch die Lampen ausgegangen waren. Ebenso wie die Lichter im Flur. Schimpfend marschierte sie an Stacey vorbei, die aufgehört hatte, Wasser aus dem Trailer zu schaufeln, und stattdessen nicht nur einen, sondern gleich zwei Frösche durchs Wohnzimmer schwimmen ließ.

Auf einmal klingelte und ratterte etwas an der Außenseite des Trailers.

Bobbie Faye watete durch ihr immer tiefer sackendes Wohnzimmer zur Eingangstür und zog dabei die nun vollständig durchnässte und an ihrer Haut klebende Pyjamahose mit spitzen Fingern hoch. Ihr war klar, dass sie inzwischen widerlicher stank als eine Biberratte, die direkt aus einem Schlammloch kam, aber wenn es sich um denjenigen handelte, den sie hinter dem Lärm vermutete, hatte sie keine Zeit, sich noch etwas anderes anzuziehen. Und natürlich! Auf dem Schotterweg stand mit laufendem Motor und so geparkt, dass eine schnelle Flucht möglich war, ein Pick-up von Gulf South Electric.

Bobbie Faye sprang die Stufen hinunter und rannte um die Ecke zu ihrem Stromzähler. Der Mann von GSE sah sie genau in dem Moment, als er die Metallbox mit dem roten Draht verplombte, damit sie den Zähler nicht einfach wieder anschließen konnte, sobald er verschwunden war. Er zuckte zusammen, als Bobbie Faye auf ihn zustürmte, und hielt sich sein Klemmbrett erst schützend vor sein Gesicht und dann vor seinen Schritt (dann vors Gesicht, dann den Schritt … bis er sich schließlich für seinen Schritt entschied).

»Gute Idee. Aber es wird dir rein gar nichts nützen, den …«, sie deutete zwischen seine Beine, »… Bereich zu schützen, wenn du mir nicht sofort wieder den Strom anstellst.«

Doch noch bevor Bobbie Faye tatsächlich zum Angriff übergehen konnte, musterte er sie und wurde rot bis über seine beiden ziemlich großen Ohren. Dann wandte er den Blick zur Seite ab und drückte ihr einen Brief in die Hand.

»Es tut mir leid, Miss Bobbie Faye, aber Ihr Scheck ist geplatzt.«

Innerlich bereits vor Wut kochend, schnappte sie sich den Brief. »Wie zum Teufel soll ich eine Vorauszahlung in Höhe von zweihundertfünfzig Mäusen leisten, wenn ich nicht mal die einhundertsiebenundachtzig für die Rechnung zusammenkratzen kann?«

Bei jedem ihrer Worte war der Mann ein Stück weiter zurückgewichen und mied immer noch ihren Blick. »Es tut mir wirklich leid. Ich würde Ihnen das um nichts in der Welt freiwillig antun, schließlich sind Sie die Piratenkönigin, aber Sie wissen ja, es ist mein Job. Man würde mich feuern.«

»Das sind doch alles Arschlöcher, für die du da arbeitest, weißt du das? Ich kann das Geld erst später besorgen, aber ich brauche den Strom jetzt, damit ich mir Ninas Nass-Trocken-Sauger ausleihen und den verdammten See hier abpumpen kann.« Sie deutete auf den Trailer und starrte einen Moment lang mit offenem Mund auf das schmale Rinnsal, das an einer der unteren Schweißnähte herauslief. »Siehst du das? Ihr müsst einfach ein bisschen nachsichtig mit mir sein. In ein paar Stunden muss ich zur Eröffnungsfeier des Festivals!«

»Ich … Ich kann es einfach nicht. Es tut mir wirklich leid!« Er drehte sich um und floh. Noch bevor Bobbie Faye ihn einholen konnte, war er in seinen Pick-up geklettert.

»Feigling!«, brüllte sie, als er sich davonmachte. »Komm zurück und kämpf wie ein Mann

Sie warf einen Blick auf die Rechnung, die er ihr gegeben hatte, und erstellte im Geist eine Liste der Dinge, die sie verpfänden könnte, um die Summe zu bezahlen. Doch dann fiel ihr ein, dass sie bereits alles versetzt hatte, um sich an den Kosten für die Entziehungskur ihrer Schwester in einer anständigen Klinik zu beteiligen (Lori Ann war schon immer eine Optimistin gewesen).

Bobbie Faye stand vor ihrem Trailer, und Wasser tröpfelte aus der Eingangstür. Das einzig Gute an der Sache war, dass es nun zumindest nicht mehr schlimmer kommen konnte.

Roy zog sich leicht der Magen zusammen, als die Limousine in das Industriegebiet von Baton Rouge einbog, wo der brackig-trübe Intracoastal Waterway auf den aufgewühlten Mississippi traf. Sie parkten hinter einem schmucklosen, braun verputzten Gebäude, das dort mit dem Glamourfaktor einer Straßenhure stand. Nichtssagend und verwittert, wurde es von den meisten, die an ihm vorbeikamen, überhaupt nicht wahrgenommen. In der Lobby befanden sich zusammengebrochene Schreibtische und Stühle, viele noch aus den Sechzigern, zu planlosen Haufen aufgetürmt, und es sah weniger nach einem Bürogebäude als nach einer Halle aus, in der öffentliche Versteigerungen stattfanden. Ein beißender Geruch von altem Schweiß und Tabak hing in dem klapprigen Fahrstuhl mit der schmutzigen Wandverkleidung.

Im zehnten Stock stiegen sie aus. Dort waren wie in einem Wartezimmer zweckmäßig Sitzreihen aus Metallklappstühlen angebracht. Eddie machte sich nicht die Mühe, auf den Klingelknopf neben einer Tür zu drücken, deren grüne Farbe fleckig und abgeplatzt war, sodass es aussah, als hätte die Tür Lepra. Stattdessen betätigte er einen Hebel unter dem letzten der wackeligen Stühle, und ein geheimer Durchgang neben einem verstaubten Plastik-Ficus ging auf.

Roy glaubte, einen ziemlich großen Blutfleck unter der künstlichen Pflanze zu erkennen, aber er hatte nicht vor, sich genauer danach zu erkundigen. Ihm war, als würden sich seine Eier ein bisschen (nur ein kleines bisschen) zusammenziehen, als er mit den Männern den Raum hinter der fleckigen Tür betrat. Sein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe und er verlor schlagartig das Gleichgewicht, so, als wären sie durch eine Art Portal in eine andere Dimension getreten. Eine Kette kleiner Schweißperlen formte sich direkt über seinem Kragen, und die Luft schien in seiner Lunge zu gefrieren und nicht wieder daraus entweichen zu können.

In diesem Fall wäre es möglich, dass mich nicht mal mein großes Maul mehr rettet.

Im Eingangsbereich lag ein beeindruckender Orientteppich, auf dem die Farben Honig, Gold und Rostbraun dominierten. Skulpturen, die von unten angestrahlt wurden, standen auf Granitpodesten, und an den Wänden hingen teure Gemälde. Roy begann sich zu fragen, wen um alles in der Welt er abgezogen hatte, dessen Dad vielleicht zur Mafia gehörte. Der Laden stank geradezu nach Geld, allerdings nicht nach der Art, von dem das Finanzamt etwas wusste.

Sie durchquerten das Foyer und betraten ein noch üppiger ausgestattetes Büro. Eine dicke blaue Plane bedeckte einen weiteren unglaublich edlen Teppich. Roy blickte von der Plane auf zu Eddie.

»Sag mir bitte, dass die nur hier liegt, weil ihr ein Loch im Dach habt.«

Der Berg versetzte ihm einen Fausthieb gegen den Schädel, und Roy brach zusammen. Er fiel auf seine Schultern, welche die meiste Wucht seines Sturzes abbekamen, und der Schmerz schoss durch seinen Rücken bis hinunter in seine Zehen. Übelkeit stieg in ihm auf, und er drohte sich übergeben zu müssen. Der Berg riss ihn hoch und hieb ihm die Faust noch einmal mitten ins Gesicht. Als Roy diesmal auf der Plane landete – und nachdem die schwarzen Punkte vor seinen Augen langsam wieder verschwunden waren –, sah er Zentimeter vor seinem Gesicht die Schuhspitze eines teuren Budapesters.

»Bindet ihn auf dem Stuhl fest, Jungs«, ertönte ein tiefer Bariton von irgendwo über dem Schuh. »Wir haben ein Telefonat zu führen.« Der Kerl beugte sich herunter, und sein Gesicht tauchte in Roys verschwommenem Blickfeld auf. »Du solltest beten, dass deine Schwester zu Hause ist, mein Junge.«

Roy konnte sich nicht daran erinnern, wann er ohnmächtig geworden war, aber als er wieder zu sich kam, übertrafen die Schmerzen alles, was er je nach einem Saufgelage durchlitten hatte. Die ganze rechte Seite seines Sichtfeldes wirkte irgendwie trübe und verschwommen.

Er war an einen Stuhl gefesselt, der mitten auf der blauen Plane stand. Die Seile schnitten in seine Arme.

Irgendjemand fragte ihn irgendetwas. Langsam konnte er auch wieder hören. Sie waren offenbar hinter etwas her, das Bobbie Faye besaß.

»Ich … äh … warum fragt ihr nicht einfach Bobbie Faye danach?«, lallte Roy und blinzelte mit dem Auge, durch das er noch verschwommen etwas sehen konnte (das andere war zugeschwollen), bis das kantige Gesicht eines gut gekleideten Mannes vor ihm auftauchte. Roy schätzte ihn auf Mitte vierzig. Der Kerl machte einen seltsam glücklichen Eindruck und trug einen makellosen, perfekt geschnittenen Seidenanzug, der ihm beinahe ein seriöses Aussehen verlieh.

Er stellte sich als Vincent vor.

»Verstehst du, mein lieber Junge«, sagte er, »wir möchten keine Piratenkönigin entführen. Das gäbe viel zu viel Aufruhr, besonders angesichts ihrer guten Beziehungen zur Polizei. Und eure Nichte? Wenn eine süße, kleine, blonde Fünfjährige verschwände, würde sofort die höchste Alarmstufe gelten, und zwar im ganzen Land. Und wer käme dann infrage? Ja, genau. Du.« Vincent beugte sich weiter herunter und füllte nun Roys verschwommenes Blickfeld komplett aus. »Du bist entbehrlich. Du tauchst ohnehin ständig unter, versteckst dich vor der einen oder anderen Freundin. Dein Verschwinden wird man erst nach ein paar Tagen bemerken, wenn es uns längst egal sein kann.«

Roy registrierte den scherzenden Tonfall, das warme Lächeln und überlegte fieberhaft, wie er Vincent einwickeln könnte. Alles an dem Mann kam ihm irgendwie kantig vor: ein scharf geschnittenes Kinn, schräg stehende Augen, eine spitz zulaufende Nase, ein Strich von einem Mund und spitze Ellbogen, sodass seine Arme aussahen wie Kleiderbügel, wenn er sie anwinkelte. Der Gedanke, dass Vincent sich wahrscheinlich mit einem Bagger der Marke John Deere nicht besonders gut auskannte, munterte Roy nicht so sehr auf wie gewöhnlich. Der Mann konnte für ihn zu einem echten Problem werden.

Bobbie Faye ging gerade auf die Stufen zu ihrer Eingangstür zu, als Stacey irgendetwas an die Tür des Trailers schleppte, was halb im Wasser hing.

»Deine Tasche hat gek’ingelt.«

»Stacey! Vielen Dank, dass du mich gleich gerufen hast.«

Bobbie Faye sprang die Stufen hinauf, kramte in der feuchten Tasche nach ihrem Handy und versuchte, auf dem von innen mit Kondenswasser beschlagenen Display zu erkennen, welcher Anrufer angezeigt wurde.

Roys Name und Nummer!

Bobbie Faye widerstand dem Drang, ihren gesamten Frust über ihren Bruder an dem Telefon auszulassen, indem sie es einfach mit der bloßen Hand zerquetschte. Sie warf einen Blick auf ihre klitschnasse Nichte, die gleich hinter der Tür fröhlich herumplanschte.

»Stacey, Schätzchen, such dir etwas Trockenes zum Anziehen, womit du in die Schule gehen kannst, und bring es her.«

Während Stacey in ihr Zimmer flitzte, rief Bobbie Faye Roy zurück … und landete auf dessen Mailbox. »Verdammt, Roy, hier sieht es aus, als würde der Mississippi einen kleinen Umweg durch meinen Trailer machen. Ruf mich sofort an, oder ich reiß dir den Kopf ab, verstanden?!«

Sie klappte das Handy zu und kochte schon wieder vor Wut. Eigentlich glaubte sie, kein Mensch könne noch mehr Frust schieben, doch dann sah sie an sich hinab und machte eine ziemlich schockierende Entdeckung: Der witzige Pyjama, der im Dunkeln leuchtete und den sie sich aus Spaß gekauft hatte, wurde im nassen Zustand offenbar komplett durchsichtig. Sie erinnerte sich an das hochrote Gesicht des Kerls vom Elektrizitätswerk und begriff, dass sie ihn so zum Leuchten gebracht hatte. Schwer zu sagen, was schlimmer war. Dass sie sich selbst vollkommen entblößt hatte oder dass auch noch gelbe und pinkfarbene Nilpferde auf ihren Brüsten prangten. Sie wünschte sich, ein Blitz möge sie treffen und aus ihrem Elend erlösen, aber bei ihrem Glück würde sie davon nicht getötet, sondern nur verstümmelt und ihre Frisur für den Rest des Lebens versaut werden.

Ihr Handy klingelte erneut. Sie klappte es auf. »Roy! Du Arschgesicht! Es ist mir völlig egal, bei welcher gefärbten Blondine oder rothaarigen Braut du gerade bist, wenn du nicht in fünf Minuten …«

»Ich sitze hier im Moment fest«, unterbrach Roy sie, seine Stimme klang heiser und gedämpft.

Bobbie Faye nahm das Handy vom Ohr und starrte es eine Sekunde lang an. Dann klappte sie es zu, weil sie sich ernsthaft Sorgen darüber machte, was sie ihm womöglich alles an den Kopf werfen könnte. Wie oft hatte sie ihm aus der Patsche geholfen? Ihn vor Freundinnen versteckt oder vor den bewaffneten und fuchsteufelswilden Ehemännern dieser Frauen … Aber jetzt wollte sie ihn einfach nur noch umbringen. Nein, Moment, sie würde einfach eine Anzeige mit der Liste all seiner Freundinnen in die Zeitung setzen und dann dabei zusehen, wie er um sein Leben rannte. Carmen könnte ihn dann vielleicht wieder mit einem Fleischerbeil verfolgen, aber der Idiot hatte es einfach nicht anders verdient. Vielleicht würde sie für Roy sogar eine Überraschungsparty organisieren und sämtliche seiner Frauen an der Tür eine Waffe wählen lassen. Während Bobbie Faye im Kopf eine Liste all seiner Exfreundinnen zusammenstellte, die sie anrufen könnte, klingelte das Handy abermals.

Als sie ranging, platzte Roy sofort heraus: »Das ist ein Notfall! Leg nicht auf!«

»Du willst mich wohl verarschen«, erwiderte sie und starrte auf ihren Trailer, in dem es inzwischen knirschte und rumpelte.

»Ich mein’s ernst, Bobbie Faye, die bringen mich um.«

»Klar. Als ob ich dir das noch mal abkaufen würde.«

»Ich schwöre dir, es ist wahr.«

»Logisch. Frag ›sie‹ doch mal, ob ›sie‹ vielleicht noch Hilfe brauchen.«

Da sein linkes Auge immer weiter zuschwoll, konnte Roy Eddie und den Berg, die beide entspannt in tiefen Ledersesseln saßen, im Halbdunkel des Büros kaum noch erkennen. Der Berg schnarchte. Eine nervige Stimme in Roys Hinterkopf – die ihn für gewöhnlich rechtzeitig warnte, in seine Hosen zu springen und zuzusehen, dass er wegkam – schlug lauthals Alarm. Zwei Schläger, die sich so lässig gaben, mochten an noch viel mehr Gewalt gewöhnt sein, als Roy es zunächst vermutet hatte. Vielleicht war er da in ganz fiese Gesellschaft geraten. Er hielt es für besser, nicht genauer darüber nachzudenken. Stattdessen versuchte Roy sich auf Vincent zu konzentrieren, der ihm sein eigenes Handy an das blutende Ohr hielt. Der Mann beugte sich so weit vor, dass er Bobbie Fayes Schimpftiraden verstehen konnte.

»Du«, schnauzte Bobbie Faye ihn durchs Telefon an, »bist nichts weiter als mieser menschlicher Abschaum, Roy Ellington Sumrall, also versuch gar nicht erst, mich auszutricksen.«

Vincent betrachtete ihn erstaunt, und Roy zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihr früher schon ein paar Mal gesagt, es ginge um Leben und Tod«, erklärte er.

»Ein paar Mal?«, brüllte Bobbie Faye, weil sie glaubte, er hätte mit ihr gesprochen. »Wohl eher ein paar Dutzend Mal. Komm her und hilf mir. Auf der Stelle!«

Wieder wurde die Verbindung unterbrochen. Vincent nahm das Handy von Roys Ohr weg und sah ihn mit einem tadelnden Blick an, wie man ihn einem Kind schenkt, das seine Hand zu oft in die Dose mit den Süßigkeiten gesteckt hat.

»So viel zur Liebe deiner Schwester, mein Junge«, sagte er, und Roy jagte ein Schauer den Rücken hinunter, da Vincents aufgesetzt mitfühlender Tonfall so endgültig klang. »Vielleicht sollte ich dich lieber beseitigen und mir jemanden suchen, der ihr wirklich wichtig ist.«

»Nein, bestimmt, ich bin ihr wichtig. Ich schwöre es. Sie ist eine gute Schwester, wenn sie nicht gerade völlig austickt. Lassen Sie sie mich noch mal anrufen. Ich werde sie überzeugen. Ganz bestimmt.«

Vincent dachte einen Moment lang über das Angebot nach. Unterdessen setzte Roy das ernsteste Gesicht auf, zu dem er fähig war, und hoffte, die aufgeplatzten Lippen und geschwollenen Augen würden die Wirkung nicht allzu sehr untergraben. Vincent lachte und schüttelte den Kopf, woraufhin Eddie aufstand und die größte Klinge aus der größten Messerscheide zog, die Roy jemals gesehen hatte.

»Mein lieber Junge, ich glaube, du willst mich hinhalten. Ehrlich, ich bewundere deine Chuzpe, Roy. Noch ein paar Jahre mehr und du hättest daraus vielleicht eine wahre Kunst machen können.«

Vincent nickte Eddie zu, der näher an Roy herantrat und die Klinge so drehte, dass sich das Licht in ihr spiegelte und Roy blendete.

»Es ist so«, fuhr Vincent fort, »dass ich mich selbst für einen Künstler halte. Mit Hehlerware und teuren, gestohlenen Kunstgegenständen zu handeln und selbst die Betrüger zu betrügen, erfordert viel Talent. Und obwohl ich deine Bemühungen sehr schätze, lieber Roy – unter anderen Umständen hätte ich dich vielleicht sogar unter meine Fittiche genommen und dich ausgebildet –, habe ich in diese Sache einfach zu viel Geld investiert, um noch mehr Zeit zu verlieren.«

Eddie trat vor, und Roy versuchte mit aller Kraft samt seinem Stuhl vor den Männern davonzuhüpfen, doch der hochflorige Teppich unter der Plane verhinderte, dass ihm dies auch nur ansatzweise gelang.

Eddie lachte. »Hast du einen Leistenbruch oder so was?«

»Ich schwöre es«, sagte Roy zu Vincent. »Sie liebt mich wirklich. Sie wird es Ihnen geben. Bleiben Sie ganz ruhig. Ich habe mich immer auf Bobbie Faye verlassen können, obwohl sie eigentlich unzurechnungsfähig ist.« Er biss die Zähne zusammen und versuchte mit aller Macht, sein charmantes Lächeln beizubehalten.

Vincent betrachtete ihn, dann ließ er seinen Blick über den Schreibtisch wandern, von dort zu dem Gemälde an der Wand, zu der Statue auf einem schwarzen Granitpodest ganz in der Nähe und schließlich wieder zurück zum Schreibtisch, auf dem ein vergilbtes, handgeschriebenes Tagebuch voller Wasserflecken aufgeschlagen unter einem Glaskasten lag. Anschließend drehte er sich langsam wieder zu Roy um.

»Letzte Chance.« Vincent drückte die Wahlwiederholungstaste und hielt Roy das Handy ans Ohr. »Keine Ausreden.«

Als Bobbie Faye sich meldete, fragte Roy: »Hast du irgendwo eine Zeitung liegen?«

»Heiliger Bimbam, Roy, du hattest mir versprochen, vormittags nichts mehr zu trinken.«

»Bobbie Faye, ich schwöre dir bei Moms Grab, ich habe nichts getrunken. Ich brauche deine Hilfe. Bitte … hast du eine Zeitung?«

Bei Moms Grab? Wehe, wenn er lügt und dann auf Moms Grab schwört!

Bobbie Faye, die in der Zwischenzeit in einen Bademantel geschlüpft war, spähte nach draußen und sah, dass bei den Nachbarn eine Zeitung auf den Eingangsstufen lag, sogar noch mit dem Gummiband darum. Sie marschierte hinüber.

»Ja, ich habe eine«, erklärte sie und hob die Zeitung auf.

»Sieh dir das Foto auf Seite fünf an, gleich oben rechts.«

Bobbie Faye klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter und ging zurück zum Trailer, um ihre Nichte im Auge zu behalten. Der Trailer ächzte inzwischen besorgniserregend. Während sie zu Seite fünf blätterte, hielt sie das Telefon von sich weg und rief ihre Nichte. »Stacey? Schätzchen? Komm hier zu mir nach draußen, wo ich dich sehen kann, okay?«

Auf dem besagten Foto war eine blaue Plane zu sehen, die einen Toten bedeckte, und danach zu urteilen, wo die Füße und Hände darunter hervorschauten, musste die Leiche zerlegt worden sein.

Bobbie Faye zuckte zurück und ließ die Zeitung fallen. »Was ist das? Und warum zum Teufel soll ich mir das ansehen? Bist du bescheuert?«

»Nicht was, Bobbie Faye, sondern wer

Sie bemerkte etwas in Roys Stimme, das ihr vorher nicht aufgefallen war: Angst. Echte Angst. Er versuchte offenbar, tapfer zu sein, aber es gelang ihm nicht sonderlich gut.

»Erinnerst du dich an Vetter Alfonse?«, fragte er.

»Meinst du den, der immer als Hähnchen verkleidet für diesen Imbiss geworben hat, oder den, der Gras züchten wollte, um davon zu leben?«

»Nein, nicht die beiden. Ich meine den, der im Gefängnis gesessen hat.«

»Roy, die sitzen alle im Gefängnis.«

»Stimmt. Ich meine Lettas Sohn. Das ist er nämlich.«

»Nie im Leben!«

»Aber klar. Er ist vorzeitig entlassen worden.«

»Ach, so ein Blödsinn, Roy. Das kann doch irgendjemand sein. Ich habe keine Zeit für deine blöden Spielchen …«

»Ich mein’s ernst! Erinnerst du dich noch daran, wie er versucht hat, im Zoo die Alligatoren freizulassen?«

»Ooh! Ihm fehlte der halbe …« Sie warf einen Blick auf das Foto in der Zeitung, auf die Hände und Füße, die unter der Plane hervorschauten. Es war definitiv auch ein Stumpf zu sehen. Bobbie Fayes Beine gaben nach, und sie musste sich auf das Treppengeländer ihres Trailers stützen.

»Roy. Er ist tot! Oh mein Gott!« Ihr Herz schien einen doppelten Salto zu machen und ihr dann bis in die Kniekehlen zu rutschen. »Was hat das mit dir zu tun?«

»Er ist vor einem Monat rausgekommen. Diese … äh … Leute hier … Bobbie Faye, wollten etwas von ihm haben, und er hat gesagt, er könne es nicht bekommen. Und deshalb nun ja … Verstehst du?«

Bobbie Faye stand vor ihrem ächzenden Trailer und zwang sich, ruhig weiterzuatmen, während sie sich bemühte, all das, was offenbar zur Realität gehörte, miteinander zu verbinden: die strahlende Morgensonne, das Wasser, das ihr Wohnzimmer in einen See verwandelt hatte, und nun auch noch ein Mord. Nichts schien zueinander zu passen. Es war, als hätte jemand Hunderte von Puzzleteilchen gemischt, ihr dann fünf zugeworfen und erwartete nun von ihr, daraus irgendwie ein Bild zusammenzusetzen.

»Gott, Roy, ich habe wirklich kein Geld«, sagte sie.

»Es geht nicht um Geld, Bobbie Faye. »Sie wollen …« Bobbie Faye registrierte, dass er eine Pause machte, und dann zog sich ihr der Magen zusammen, als er endlich fortfuhr: »Sie wollen Moms Diadem.«

Sie stand wie erstarrt da. Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider. Die ganz normalen Geräusche eines Morgens – Vogelgezwitscher, das Klingeln der Wecker in anderen Trailern, ein Pick-up, der knirschend die Schotterstraße entlangfuhr – schienen plötzlich auf sie einzustürzen, verwirrten sie und gaben ihr das Gefühl, im völlig falschen Film zu sein. Sie schwankte zwischen Angst und Wut und fragte sich, ob sie gerade wieder übers Ohr gehauen wurde.

»Das«, erklärte sie mit monotoner Stimme, »ist hoffentlich nur ein dummer Scherz. Mom hat es mir geschenkt. Es ist das Einzige, was mir noch von ihr geblieben ist.«

»Bitte, Bobbie Faye, bitte! Ich habe keine Ahnung, warum, aber sie wollen es haben. Unbedingt.«

»Roy, das letzte Mal, als du mir das Diadem abgeluchst hast, wolltest du es auf irgendeiner dämlichen Parade zum Mardi Gras tragen und hättest es beinahe in einer verdammten Bar im French Quarter vergessen!«

»So ist es diesmal aber nicht!« Er sprach mit hoher Stimme, als hätte er Schmerzen, und Bobbie Faye konnte hören, dass er schneller atmete. Sie nahm außerdem wahr, dass der Trailer ein seltsames Stöhnen von sich gab. Während sie weiterredete, lief sie zur Eingangstür, um Stacey zu holen, die auf der Türschwelle saß und versuchte sich die Schuhe zuzubinden.

»Wissen die überhaupt, dass dieses Diadem absolut keinen reellen Wert hat?«

»Ich weiß es nicht. Sie wollen es einfach haben.«

»Aber es ist nur ein albernes altes Ding von Mom. Sie hat es aus Spaß während der Parade zum Piraten-Festival aufgesetzt. Ich setze es zu dieser Parade auf. Jeder könnte es währenddessen ganz leicht klauen. Wozu jetzt dieses ganze Theater? Es ist nicht mal das Geld wert, das ich für das Bankschließfach bezahle, Teufel noch mal«, fluchte sie und entfernte sich mit Stacey, die sie auf dem Arm trug, von dem Trailer. »Wenn Lori Ann nicht wieder mit dem Trinken angefangen und alle unsere Requisiten für das Piraten-Festival bei eBay versteigert hätte, um an Geld zu kommen, würde ich es wahrscheinlich einfach zu Hause aufbewahren.«

Stacey runzelte die Stirn, als sie angestrengt über diesen Vorwurf an ihre Mutter nachdachte.

»Tut mir leid, Kleines.« Bobbie Faye drückte ihre Nichte an sich.

Hinter ihr ertönte ein Geräusch, als würde Metall auf Metall reiben, und sie fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie der Boden ihres Trailer an der vorderen Seite unter dem ungeheuren Gewicht des Wassers durchsackte. Der Wohnwagen platzte auf, und die Stützen, auf denen er stand, durchbohrten ihn von unten, bis der Trailer an einer Seite auf der Erde aufsetzte. Er brach vor ihr zusammen wie ein sterbendes Ungeheuer, und das herausströmende Wasser brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Langsam kippte er von Bobbie Faye weg und stürzte dann geräuschvoll zu Boden. Metall zerbarst und knirschte. Überall floss Wasser aus ihm heraus, während es ihn dahinraffte.

Schockiert ließ Bobbie Faye ihr Handy sinken und vergaß für einen Moment alles andere um sich herum. Alles, was sie in diesem Moment denken konnte, war: Oh mein Gott. Mein Trailer! Mein Trailer! Scheiße! Heilige Scheiße!

»Bobbie Faye?«, rief Roy. Seine Stimme klang nun gedämpft, ziemlich dünn und sehr weit weg.

»Mein Trailer, verdammt! Roy, er ist … er ist …«

»Bobbie Faye? Bitte, du musst dich konzentrieren, Sis.«

»Konzentrieren?« Sie streckte das Handy von sich weg, als handle es sich dabei um irgendein seltsames Teil aus dem Weltall, dann wurde ihr langsam wieder die Gesamtsituation bewusst, und sie hielt es sich wieder ans Ohr.

»Bobbie Faye? Bist du noch da?«

»Ja.«

»Du klingst irgendwie komisch.«

»Ach, kümmere dich nicht weiter um mich. Bei mir ist nur gerade ein Aneurysma geplatzt.«

»Oh. Okay. Gut. Du bringst das Diadem also her?«

Das Diadem! Sie konzentrierte sich wieder auf dieses Problem. »Ja, Roy, ich hole es.«

»Du darfst auf keinen Fall die Polizei einschalten oder es irgendjemandem erzählen.«

»Wer würde mir das auch glauben?«

»Sie sagen, dass sie dich beschatten. Sie kriegen es mit, wenn du irgendjemanden anrufst. Und sie möchten, dass du dich unauffällig verhältst, Bobbie Faye.«

Sie betrachtete mit gerunzelter Stirn ihren in sich zusammengesunkenen Trailer. »Unauffälliger geht es gar nicht mehr, Roy.«

»Sobald du es hast«, fuhr Roy erleichtert und hastig fort, »rufst du auf meinem Handy an, okay? Und dann werde ich dir sagen, wo du es hinbringen musst.«

»Das Diadem holen, mich unauffällig verhalten, dich anrufen. Alles klar.«

Die Verbindung wurde unterbrochen, und Bobbie Faye blickte von ihrem Handy zu dem Trailer hinüber und dann zu Stacey auf ihrem Arm.

»Is’ Onkel Roy okay?«, wollte die Kleine wissen.

Bobbie Faye drückte ihre Nichte an sich. Roy war die einzige Vaterfigur, die das Mädchen jemals gehabt hatte. »Da bin ich mir sicher, Süße.«

»Mama sagt, du kannst alles wieder heil machen.«

Hm. Bobbie Faye konnte sich vorstellen, wie diese Worte vor Sarkasmus nur so getrieft hatten, als sie Lori Ann über die Lippen gekommen waren, aber bei dem hoffnungsvollen Ausdruck in Staceys Gesicht wurde ihr warm ums Herz. Trotzdem fragte sie sich, wie sie diese Erwartung bloß erfüllen sollte. Ihr Bruder wurde von irgendwelchen Leuten als Geisel festgehalten, die drohten, ihn zu töten, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war.

In diesem Moment spürte sie es: das Feuer in ihrem Herzen, den Beschützerinstinkt der großen Schwester in ihrer Brust, der sie bereits häufiger beinahe das Leben gekostet hätte, als sie zählen konnte. Da waren irgendwelche Leute, die drohten, ihren Bruder zu töten.

Das machte Bobbie Faye verdammt sauer.

»Wirst du Onkel Roy wieder heil machen?«

Sie umarmte ihre Nichte. »Ich werde auf jeden Fall mein Bestes tun.«