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Wir wollten eine Realityshow mit dem Titel Wer überlebt Bobbie Faye machen, aber der Sender hatte viel zu viel Angst. Die Verantwortlichen meinten, man werde uns wegen grausamer und ungewöhnlicher Strafmethoden verklagen, und dass wir nicht mal Kandidaten fänden, die tapfer genug wären, überhaupt eine Pilotfolge zu drehen.

Corey Steven New, Produzent

Cams Polizeihubschrauber flog tief über den südlichen Teil des Lake Charles. Verwirrte und wütende Fischer wurden von Polizei und Rangern der Naturschutzbehörde zusammengetrieben, sowohl zu ihrer eigenen Sicherheit als auch, um wirklich jeden in der Gegend zu befragen, ob er vielleicht Bobbie Faye gesehen habe.

Es nervte Cam … dieses »Ding«, von dem das FBI gesprochen hatte. Worum zum Teufel handelte es sich dabei? Und war »es« dasselbe wie »das Teil«, das sie ebenfalls erwähnt hatten?

Benoit meldete sich über Funk.

»Gibt es was Neues, wo ihre Angehörigen sein könnten?«

»Die Schwester ist immer noch im geschlossenen Entzug. Das Kind wurde Zeugen zufolge heute Morgen an der Schule abgesetzt. Wir erreichen dort momentan aber niemanden telefonisch, um uns das bestätigen zu lassen. Ich schicke einen Streifenwagen vorbei. Und den Bruder habe ich noch nicht gefunden.«

»Sieh mal in Brew’s Bar nach. Oder bei Joe’s. Und wenn er da nicht ist, kannst du es auch noch im Podilli’s drüben an der Fünften versuchen. In einer dieser Pinten treibt Roy sich meistens rum, wenn er eine Frau abschleppen will.«

»Verstanden.«

»Und finde heraus, was genau Bobbie Faye heute Morgen in der Bank gewollt hat.«

»Warte mal«, sagte Benoit und blätterte in einem Haufen von Papieren. »Ich habe mit Moskito gesprochen …«

»Mit Melba?«

»Genau. Sie meinte, Bobbie Faye habe einen Scheck eingelöst und einen Blick auf das Diadem ihrer Mama geworfen.«

»Das Diadem? Was hat das denn in der Bank zu suchen?«

»Laut Melba versteckt Bobbie Faye es dort, seit Lori Ann alles verkauft hat, was sie in die Finger bekommen konnte.«

»Normalerweise trägt sie das Diadem erst am letzten Tag des Festivals. Hat sie es mitgenommen?«

»Lass mich mal sehen … Auf dem Video ist zu erkennen, wie sie das Geld in eine Plastiktüte wirft. Der Professor reißt ihr die Tüte weg und stopft sein eigenes dazu. Es sieht aber nicht so aus, als wäre da noch was anderes drin. Jedenfalls nicht aus dem Blickwinkel der Kamera.« Cam hörte, wie Benoit das Band zurückspulte und noch einmal vorlaufen ließ. »Verdammt, ich kann überhaupt nicht erkennen, was in der Tüte sein soll. Auf mich wirkt sie leer.«

»Lass das noch mal überprüfen. Und wie verhält sich der Professor?«

»Er flippt völlig aus. Ich konnte bei der Vernehmung nichts weiter aus ihm herausbekommen. Wir haben ihm die Zelle gegeben, von der aus der Fernseher zu sehen ist, der beim Sergeant auf dem Schreibtisch steht, sodass der Kerl die Nachrichten verfolgen kann. Wegen irgendwas, das da lief, ist er dann ausgerastet und hat sich in einer Ecke seiner Zelle fast vollgepisst, aber reden will er nicht. Dellago hängt immer noch auf dem Revier rum. Ich habe wirklich keine Ahnung, was da läuft.«

Cam beendete das Gespräch. Innerlich kochte er vor Wut. Nichts von alldem ergab einen Sinn. Sicher, Bobbie Faye war in die Sache verwickelt, und hätten sich diese Einzelheiten zu einem stimmigen Bild zusammengefügt, wäre er ernsthaft in Sorge gewesen, dass das Ende der Welt kurz bevorstehen könnte. Aber so hatte er absolut nichts in der Hand. Er wusste nur, dass Bobbie Faye hinter irgendetwas herjagte, das eine Menge Leute haben wollten. Und einige waren auch bereit, dafür zu töten.

Aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie das wiederum in Zusammenhang damit stand, dass sie in der Bank einen Blick auf ihr Diadem geworfen hatte. Wenn es da überhaupt eine Verbindung gab.

»Verdammt!«, murmelte Bobbie Faye, als sie schon wieder das Besetztzeichen hörte. Am liebsten hätte sie das verdammte Handy gegen den nächsten Baum geschleudert. Sie musste all ihre Reife und Vernunft als Erwachsene aufbringen, um es nicht zu tun.

Als Trevor sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, klärte sie ihn auf: »Ich kann Staceys Schule immer noch nicht erreichen. Nina hat ihre Mailbox eingeschaltet, was bedeutet, dass sie gerade nicht rangehen kann, und auf Ce Ces privatem Anschluss ist auch besetzt.«

»Ich bin lediglich schockiert darüber, dass Ihnen nur noch ein einziger Fluch über die Lippen kommt, statt gleich zehn Kraftausdrücke auf einmal. Sie lassen nach.«

»Ich möchte eben keine bösen Briefe von all den Eichhörnchenmüttern bekommen.«

Für eine Sekunde starrte sie auf das Handy, dann wählte sie Roys Nummer und lauschte. Als Vincent sich mit seiner seidenweichen Stimme meldete, richtete sie sich auf: »Ich möchte wissen, ob es meinem Bruder gut geht.«

»Das erfahren Sie erst, wenn Sie das Diadem haben, Bobbie Faye.«

»Ich bin ganz nah dran, ich schwör’s.«

»Nah dran interessiert mich nicht, meine Liebe. Besorgen Sie es, oder ich schicke Ihnen Ihren Bruder in Plastiktüten.«

»Das werden Sie verdammt noch mal nicht wagen. Wenn Sie ihm auch nur ein Haar krümmen, bekommen Sie das Diadem niemals.«

Im Hintergrund schrie Roy auf. Bobbie Faye biss die Zähne zusammen, als sie Vincents leises Lachen hörte.

»Sie enttäuschen mich, Bobbie Faye. Roy hatte so großes Vertrauen in Sie. Und übrigens … drohen Sie mir nie wieder. Vergessen Sie nicht, ich kann Ihre Schwester abholen lassen, wann immer es mir passt. Dazu brauche ich nur mit einem Wodka Martini zu winken. Und Ihre entzückende kleine Nichte Stacey befindet sich auch in meiner Obhut. Sie ahnen ja gar nicht, wie leicht es für mich wäre, sie einfach – Puff! – verschwinden zu lassen. Sie können nicht gewinnen. Bringen Sie mir das Diadem. Sie haben eine Stunde, um es zu besorgen und sich wieder bei mir zu melden.«

Damit beendete er das Gespräch.

»Eine Stunde?!«, quiekte Bobbie Faye, aber die Verbindung war längst unterbrochen. Sie presste das Handy gegen ihre Brust. Ihr Kopf schien plötzlich völlig leer zu sein. Das Ganze war so viel furchtbarer als alles, was sie bisher erlebt hatte. Viel schlimmer, als es mit sämtlichen Idioten zusammen aufzunehmen, denen Roy normalerweise in die Quere kam. Sie spürte nichts mehr, konnte nicht denken, bis sie bemerkte, dass sie auf Trevors Hände gestarrt hatte. Sie nahm seinen Blick wahr. Er wirkte irgendwie mitfühlend, fast schon zärtlich.

»Wenn Sie auch nur so aussehen, als wollten Sie mich gleich umarmen …«

»Mache ich auf Sie den Eindruck, als wär ich lebensmüde?«

Seine Bemerkung entlockte ihr ein kleines Lächeln.

Ich muss jemanden auftreiben, der Stacey abholt. Jemanden, der sie beschützen kann, falls … nun ja, falls die Entführer beschließen sollten, dass Roy ihnen als Druckmittel nicht mehr reicht.«

Noch einmal wählte sie Ce Ces Nummer, hörte aber wieder nur das Besetztzeichen. Verfluchte Scheiße! Wie oft hatte sie ihrer Chefin schon gesagt, dass sie sich unbedingt die Funktion Anklopfen einrichten lassen müsse.

Nun gab es nur noch einen einzigen Menschen, der Bobbie Faye einfiel und der in der Lage sein würde, mit der Situation fertig zu werden. Gott möge ihnen allen helfen.

Als sie Cams Nummer wählte, landete sie auf seiner Mailbox.

Sie hinterließ ihm eine unbeholfene Nachricht, obwohl sie wusste, dass sie eigentlich mehr hätte sagen sollen. Aber das Handy piepte ihr ununterbrochen ins Ohr, da der Akku leer war, und sie würde noch etwas Saft brauchen, um es weiterhin bei Ce Ce versuchen zu können. Sie machte sich keinerlei Illusionen, dass Cam noch in irgendeiner Weise an ihr interessiert sein könnte, aber vielleicht, ganz vielleicht, war ihm ja wenigstens das Kind noch wichtig.

Bereits im selben Augenblick, als die Frau zur Tür hereinkam und abschätzig die Matrix betrachtete, die von den anwesenden Kunden gebildet wurde, wusste Ce Ce, dass sie nichts Gutes im Schilde führte. Es lag nicht nur an dem abgewetzten Polyesterkostüm, ihrem zu roten Teint, der wie gegossen wirkenden Frisur in Form eines Helms oder den Schnürschuhen mit Keilabsätzen, dass bei Ce Ce sofort alle Alarmglocken läuteten. Nein, es war ihr streitlustiger, abfälliger Gesichtsausdruck, diese bürokratische Selbstsicherheit, dass sie hier und gleich jemandem ganz gewaltig den Arsch aufreißen würde. Ce Ce vermutete, die Frau war zu ungefähr zehn Prozent irisch und zu neunzig Prozent skrupellos.

»Gibt es hier eine Miss Ce Ce Ladeaux?«, fragte die Frau und verteilte ihre Verachtung gleichmäßig auf alle Kunden, die sich noch in der Matrix befanden.

»Ich bin Ce Ce Ladeaux«, sagte Ce Ce und trat vor.

Von irgendwoher zauberte die Frau eine Visitenkarte hervor und klatschte sie Ce Ce in die Hand.

»Ich bin Mrs. Banyon vom Sozialamt. Wo ist das Mädchen?«

»Entschuldigen Sie bitte?«

»Sie entschuldigen? Wohl kaum!« Mrs. Banyon schnaubte, richtete sich zu voller Größe auf und nahm die Schultern zurück. »Nicht nach dem, was Sie sich heute geleistet haben.«

Verwirrt blickte Ce Ce sich um. »Schätzchen, wieso sollte es Sie interessieren, dass wir hier eine Energiematrix aufbauen? Es ist ein rein positiver Flow, der das karmische Chi ausgleicht …« Sie hielt inne, als Mrs. Banyon die Hand hob.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie da gerade reden«, fuhr diese sie an. »Ich spreche von Stacey Sumrall. Ich bin in der Schule gewesen, und sie war nicht dort. Stattdessen hat man mir eine verrückte Geschichte aufgetischt. Angeblich soll das FBI sie abgeholt haben, was natürlich völliger Humbug ist. Da Sie bei der Schule als Kontaktperson für Notfälle verzeichnet sind, zusammen mit einer Frau von äußerst zweifelhafter Moral, einer Miss …«, sie warf einen Blick auf ihr Klemmbrett, »… Nina McVey, muss ich davon ausgehen, dass Sie das Kind abgeholt und irgendetwas ausgeheckt haben, um es vor mir zu verstecken, während ihre Angestellte, Bobbie Faye Sumrall, sich auf der Flucht vor der Polizei befindet.«

»Was meinen Sie mit völliger Humbug?«, fragte Ce Ce und rang nach Atem. Ihr Herz hatte bei den Worten ein paar Schläge ausgesetzt, und Ce Ce brauchte einige Zeit, um sich wieder zu fangen, während die Frau vom Sozialamt munter weiterplapperte.

»Jemand von der Schule hat angerufen. Stacey wurde vom FBI abgeholt.«

»Miss Ladeaux, ich muss Sie ernsthaft warnen. Dem Sozialamt ein Kind vorzuenthalten ist illegal.«

»Schätzchen, rufen Sie beim FBI an und fragen Sie nach. Sie werden sehen, dass die Kleine …«

»Das habe ich bereits getan. Das Kind ist nicht dort. Ich bestehe darauf, dass Sie mir die Kleine auf der Stelle übergeben, oder ich rufe die Polizei!«

Als Ce Ce die bebenden Nasenflügel der Frau und die Wut in ihren Augen bemerkte, war sie sich sicher, dass Stacey von irgendjemandem abgeholt worden sein musste, und es war nicht das FBI. Sie hatte ein Gefühl, als würde ihr Körper haltlos in sich zusammensinken. Dann packte sie die nackte Angst. Bobbie Faye würde mit Sicherheit jemanden umbringen, sollte sie das jemals herausfinden.

Mrs. Banyon drehte sich langsam im Kreis und schaute sich um. »Wenn Sie auch nur eine Minute glauben, Miss Ladeaux, dass ich keinen Bericht darüber verfassen werde, wie ungeeignet Sie als Aufsichtsperson für dieses Kind sind, sollten Sie lieber noch einmal scharf nachdenken. Ich habe von Ihrem Ruf als Voodoo-Priesterin gehört. Obgleich ich der Überzeugung war, das sei alles ein wenig übertrieben … zumindest bis ich diesen Laden betreten habe. Nichts davon ist gut für ein Kind.

Und wie schlimm die Situation bereits ist … Auch wenn dies gegenüber der Tatsache, dass Miss Sumrall nicht mal mehr ein Haus besitzt und darüber hinaus von der Polizei gesucht wird, natürlich in den Hintergrund tritt. Ich werde das Kind zu seiner Sicherheit und seinem Wohlergehen in Gewahrsam nehmen, und falls Sie versuchen sollten, mich aufzuhalten, werden Sie sich im Gefängnis wiederfinden.«

Die drückende Hitze im Laden schien noch einmal zuzunehmen, als läge eine schwere Wolldecke über dem Raum, die jeden noch so kleinen Lichtstrahl abhielt. Ce Ces T-Shirt war nun schweißdurchtränkt, und sie hatte das dringende Bedürfnis, sich einfach auf den Boden zu legen.

Am anderen Ende des Raums reichte Monique den Kunden, die immer noch auf ihren Positionen in der Matrix verharrten, Wasser, während diese beobachteten, wie sich das Drama weiterentwickelte. Ce Ce fiel nur eins ein, das sie jetzt noch tun konnte. Sie rieb sich den Nacken und warf Monique einen Blick zu, in der Hoffnung, dass ihre Freundin sich an dieses geheime, vereinbarte Signal erinnerte. Monique nickte nur und verließ den Raum.

»Mrs. Banyon, jeder der hier Anwesenden kann bezeugen, dass ich den ganzen Tag keinen Schritt vor die Tür gesetzt habe. Es ist auch niemand von mir zur Schule geschickt worden, um Stacey abzuholen. Ich bin genauso entsetzt wie Sie, Schätzchen. Setzen Sie sich doch bitte einen Moment, während ich ein paar Telefonate führe, um die Sache zu klären.«

Monique kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem drei geeiste Gläser und ein Krug mit Tee standen. Gott sei Dank! Ce Ce warf einen kurzen Blick darauf, um sicherzugehen, dass es sich dabei auch um das richtige Gebräu handelte und es nicht zu dunkel war, sonst würde es bitter schmecken.

»Möchten Sie vielleicht etwas Kaltes trinken, während Sie warten?«, erkundigte sich Monique, und Mrs. Banyon musterte Ce Ce mit gerunzelter Stirn.

»Ich brauche höchstens zehn Minuten«, erklärte diese, nahm eins der leeren Gläser und goss den Tee ein. Sie reichte es Mrs. Banyon und füllte auch noch die anderen beiden. Monique schlenderte einen der Gänge entlang, während Ce Ce ihren eigenen Tee mit hinüber zum Tresen nahm, wo Alicia das ständig klingelnde Telefon bediente.

»Ich warte genau zehn Minuten«, sagte Mrs. Banyon. »Dann rufe ich die Polizei.«

»Das ist mir nur recht«, erwiderte Ce Ce und wählte die Nummer der Schule. »Ich möchte nämlich gern, dass die Cops verständigt werden, sollte ich Stacey nicht finden können.«

Mrs. Banyon nippte an ihrem Getränk, seufzte genussvoll und drückte sich das kalte Glas gegen die Stirn.

»Der ist ziemlich gut«, meinte sie. »Aber er schmeckt sehr ungewöhnlich.«

»Oh, das ist nur eine kleine Pfefferminzmischung, die ich besonders gern mag. Sie schmeckt süß, ohne dass man Zucker hineintun muss.«

Mrs. Banyon suchte die Gänge ab, bis sie einen niedrigen Stapel Kartons voller Kristalle entdeckte. Er schien stabil genug zu sein, um ihr Gewicht tragen zu können. Sie ließ sich auf ihm nieder und trank weiter ihren Tee. Ce Ce beobachtete sie, während Monique von der anderen Seite den Gang betrat und sich hinter Mrs. Banyon schob. Sämtliche Kunden beobachteten die Geschehnisse mit geradezu morbider Faszination. Ce Ce wusste, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Monique stand genau an der richtigen Stelle, um das Teeglas aufzufangen, als Mrs. Banyon es fallen ließ und rücklings gegen die Regale sackte.

Das war zwar ein wenig hinterhältig, dachte Ce Ce, aber sie würde es niemals zulassen, dass diese Frau ihren Bericht schrieb.