31

IN EXTREMIS

Harry räusperte sich. »Die ganze Sache fing an mit einem von Martins Spitzeln, der O’Rourke um die Fabrik herumlungern sah, wie er Fotos machte und Fragen stellte. Er fiel auf. Er war Amerikaner.«

»Und Ihr Bruder ist damit zu Ihnen gekommen?«

»Ja, Martin hat mir alles erzählt. Er wusste, dass John DeLorean und ich an einer Riesensache dran waren. Er wusste, dass dieser Kerl verdammt nochmal nichts Gutes bedeutete.«

»Und was haben Sie mit dieser Information angefangen?«

»Ich beschloss, dass wir O’Rourke einkassieren sollten, um ihm ein paar Fragen zu stellen.«

»Wie haben Sie das angestellt?«

»Hab mir ein paar Jungs mit Sturmhauben besorgt, die einen Transit geklaut haben und den Ami vor irgendeinem Bed and Breakfast in Dunmurry schnappten.«

»Sie kennen also Willy McFarlane gar nicht?«

»Wen?«

Der Schweiß lief mir den Unterarm entlang auf die .38er. Es kostete mich einige Mühe, mit hämmernden Rippen und nachlassenden Schmerzmitteln so dazustehen. Harry wiederum wirkte mit seiner Remington verflucht entspannt.

»Sie haben O’Rourke hierhergebracht?«

»Nein. Runter in die Salzmine.«

»Und was ist dann passiert?«

»Wir wollten ihn nicht umbringen. Das hatten wir nie vor.«

»Und was war der Plan?«

»Wir wollten nur wissen, für wen er arbeitete, was er wusste, solche Sachen. Wir ketteten ihn an den Generator in der Mine und jagten ihm einen verfluchten Schrecken ein. Besser gesagt Martin. Er war es ja gewohnt, seine Spitzel und Informanten zu befragen.«

»Haben Sie ihn gefoltert?«

»Nein. Wir redeten nur ein bisschen mit ihm. Folter? Davon wollte Martin nichts wissen. Er meinte, das bräuchten wir eh nicht. O’Rourke würde schon früher oder später auspacken.«

Er bewegte seine Flinte ein wenig, und ich streckte den Arm aus und zielte auf sein Gesicht.

»Und was ist dann passiert?«

»Nichts. Wir schnappten uns den Informanten, der uns von O’Rourke erzählt hatte, und drückten ihm Geld in die Hand, um zu verschwinden. Ist nach England rüber. Das war also erledigt, aber O’Rourke war unser Hauptproblem. Wer war er? Was wollte er? Wusste er Bescheid über mich und DeLorean und den Deal? Wir brauchten Antworten.«

»Und was haben Sie gemacht?«

»Martin sagte, das würde er schon hinkriegen. Ich vertraute ihm. Ich meine, O’Rourke steckte unten in der verfluchten Salzmine. Waren Sie schon mal im Stockfinsteren da unten? Die reinste Höllengrube. Martin wusste, das würde ihn mürbemachen, und er meinte zu O’Rourke, wenn er nicht auspacken würde, würde er mit den Qualen der Verdammten Bekanntschaft machen ...«

»Und was hat O’Rourke darauf erwidert?«

»Er versicherte uns, er würde nie reden. Wir könnten tun, was wir wollten, er würde uns nichts sagen. Schließlich glaubte Martin ihm. Er meinte, vielleicht sollten wir ihn laufen lassen.«

»Aber damit waren Sie nicht einverstanden, richtig?«

»Natürlich nicht, verdammte Scheiße. Also hielten wir ihn Tag um Tag fest. Und dann, eines Morgens, gehen wir runter und wollen mit ihm reden, da sind seine Beine noch am Generator angekettet, aber irgendwie hat er eine Hand frei gekriegt und ist tot. Erst dachten wir, Herzinfarkt, aber dann sahen wir, dass er sich selbst erledigt hatte. Er muss wohl gedacht haben, dass wir ihn niemals gehen lassen, also hat er sich umgebracht. Muss irgendwo eine Pille versteckt haben, das blöde Arschloch.«

»Selbstmord?«

»Selbstmord.«

»Das ist gut, Harry. Gut für Sie. Wofür kann ich Sie denn drankriegen? Kidnapping? Klar, aber das sind nur fünf Jahre. In drei Jahren sind Sie wieder draußen. Das ist gar nichts.«

Ich ging zur Tür.

»Sie bleiben, wo Sie sind!«, knurrte er.

»Nein, ich gehe, Harry. Ich werde jetzt hier rausspazieren und den Hügel hinunter zu meinem Wagen gehen, und Sie werden nichts dagegen unternehmen. Es hat doch keinen Sinn, das Ganze noch weiter eskalieren zu lassen. Alles was ich habe, ist ein Beweis, dass O’Rourke irgendwann mal in Ihrer Gefriertruhe gelegen hat. Ich kann nicht beweisen, dass Sie ihn entführt haben. Ich kann gar nichts beweisen. Es hat also gar keinen Zweck, mich mit der Schrotflinte da umzulegen, vor allem nicht, wo jeder halbwegs gute Anwalt den Fall vor Gericht kippen kann. Okay?«

Ich schlich mich näher an die Tür heran und machte dabei einen großen Bogen um ihn. Er richtete weiter seine Waffe auf mich und ich meine auf ihn.

»Das wird mich ruinieren«, sagte er.

»Nein, nicht, wenn Sie freigesprochen werden. Dann ist alles in Butter.«

»Ich werde nicht freigesprochen. Sie werden mich schon drankriegen. Und ich war’s nicht! Ich habe ihn nicht umgebracht.«

Ich war an der Tür angelangt.

»Ich glaube Ihnen, Harry. Und ich gehe jetzt. Machen Sie keine Dummheiten, haben Sie gehört?«

»Sie gehen nirgendwohin, Bulle!«

Er hätte die Remington aus der Hüfte schießen müssen – sicher, das hätte einen üblen Rückschlag gegeben, aber ich wäre erledigt gewesen.

Aber das tat er nicht. Er kannte sich im Umgang mit Feuerwaffen zu gut aus. Sein Vater musste die Lektion früh in sein Gedächtnis gepflanzt haben, und in der Sekunde, die er brauchte, um die Waffe an die Schulter zu heben, sprang ich hinaus in den Regen.

Plötzlich gab es einen heftigen Knall hinter mir, und Feuer spuckte durch die Schuppentür hinaus in die Dunkelheit.

Ich rannte zur Mauer und versteckte mich hinter einem alten Mähdrescher.

Ich überlegte mir noch den nächsten Schritt, als ein lautes Dröhnen mich aus den Gedanken riss. Es hörte sich wie eine dieser Kriegssirenen an. Aber es gab keinen beschissenen Luftangriff, das war Harry, der seine Pächter zu Hilfe rief. Ich musste endlich abhauen, verdammte Scheiße.

Ich stürzte hinter dem Mähdrescher vor und rannte direkt in ein Scheinwerferlicht. Aus der Nähe des Hauses knallte eine Schrotflinte.

Glühend heißer Schrot schoss mir über den Kopf.

Ich hechtete hinter einen Heuschober.

Männerstimmen. Ein Trupp von Harrys Freunden und Pächtern.

Verfluchte alte Bauern, die alles taten, was er verlangte, ohne lange zu fragen. Sogar wenn es darum ging, einen Polizisten umzubringen. Dann vielleicht erst recht.

»Er ist da hinten!«, rief jemand.

»Ich seh ihn!«, gab ein anderer zurück und schoss.

Ich ließ mich in den Schlamm fallen und robbte voran.

»Hab ihn erwischt!«, gellte eine Stimme.

›Nein, hast du nicht, noch nicht, verflucht.‹

Ich kletterte über die Steinmauer, die das Grundstück umgab.

»Da ist er!«

»Er klettert über die Mauer!«

»Hinterher! Billy, hol deine Köter! Und Jack, kapp die Telefonleitung am Anschlusskasten! Er wird nicht davonkommen und kann keine Hilfe holen.«

Ich rannte hinaus in die Hügellandschaft, hinaus in den Sumpf, in dem die Hunde hoffentlich meine Fährte verloren. Ich lief durch einen Bach, stolperte, stürzte übel und lag eine Minute keuchend da, bevor ich wieder auf die Beine kam.

Ich eilte zur Straße und weiter zu Emmas Farmhaus. Meine Rippen schmerzten wie verrückt, und ich war schlammbedeckt. Als ich auf den Hof kam, bellte mich Cora an.

Ich rannte ins Haus.

»Mein Gott! Was ist passiert?«, sagte sie und schlug sich eine Hand vor den Mund.

»Wo ist das Telefon?«

»Was?«

»Das Telefon, verflucht!«

»Im Schlafzimmer.«

Ich humpelte ins Schlafzimmer und wählte den Notruf.

»Welche Stelle wollen Sie?«, fragte die Stimme am anderen Ende.

»Polizei! Schnell, Islandmagee, draußen bei ...«

Dann war die Leitung tot.

Ich versuchte es wieder und wieder, aber es war zu spät.

»Was ist passiert?«, fragte Emma.

»Harry hat versucht, mich umzubringen. Er hat O’Rourke umgebracht und ihn dann in die Gefriertruhe gestopft. Ich kann es beweisen.«

Ihr Gesicht erstarrte und sie schüttelte den Kopf.

»Nein, Sean. Er hat Bill O’Rourke nicht umgebracht«, sagte sie mit gleichförmiger Stimme.

»Das hat er dir gesagt? Und du glaubst ihm?«

»Es ist die Wahrheit.«

Ich packte Emma bei den Schultern und drückte fest zu. »Sag schon, verdammt!«

»O’Rourke spionierte DeLorean aus und machte allen möglichen Ärger. Harry bringt an seinem privaten Ponton am Lough irgendetwas für DeLorean an Land. Drogen, nehme ich an. Im großen Stil. Sie mussten einfach rauskriegen, ob sie aufgeflogen waren. Harry sorgte dafür, dass Martin und ein paar seiner Kumpel O’Rourke auf der Straße aufsammelten. Sie waren maskiert. Sie wollten ihm nur ein paar Fragen stellen und ihn dann wieder laufen lassen. Sie haben ihn in die Salzmine gesteckt. Vielleicht haben sie es ein bisschen übertrieben, oder O’Rourke hat Panik gekriegt, wer weiß. Sie wollten ihn nicht umbringen. Sie haben ihn allein dort unten gelassen, und als sie eines Morgens hingingen, um ihn zu wecken, war er tot. Martin dachte, er hätte einen Herzinfarkt gekriegt. Keiner wusste, was sie machen sollten.«

Emma sah mir direkt in die Augen. Sie hatte Harrys Geschichte bestätigt, und es sah nicht so aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen oder sich der Gnade des Gerichts ergeben wollen.

»Es war kein Herzinfarkt, Emma. Der Mann war vorbereitet. Er wusste, dass so etwas in Nordirland passieren konnte, also bastelte er sich seine eigene Selbstmordpille. Pflanzte das Zeug an, stellte das Gift selbst her. Er wollte nicht gefoltert werden, und er würde auch nichts verraten.«

Sie nickte. »Das haben wir nicht gewusst.«

Wir, sagte sie, wir.

»Martin hat dir gesagt, dass O’Rourke tot ist, richtig? Und du hast ihm gesagt, er soll zur Polizei gehen, und Harry ...«

Sie lachte bitter auf. »Ich? Ich hab ihm gesagt, er soll zur Polizei?«

Dann stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Polizei? Niemand hier in der Gegend würde jemals die Polizei rufen.«

»Was ist dann passiert?«

Emma schüttelte den Kopf. »Sie haben die Leiche in die Kühltruhe gesteckt. Sie wollten ihn zerteilen und beseitigen und Schluss, aber Martin wollte nicht. Der verfluchte Idiot.«

»Was war mit ihm?«

»Martin war einfach ein Idiot. Er hatte Jesus gefunden. Jesus hat’s nichts ausgemacht, dass er seinem Bruder bei einer zwielichtigen Sache mit John DeLorean half, aber offenbar hatte Jesus ihm gesagt, dass er nun eine Grenze überschritten habe, wo doch ein Mann gestorben sei, und nun müsse er seinem Vorgesetzten von der ganzen beschissenen Angelegenheit Meldung machen.«

»Martin wollte euch alle verpfeifen?«

»Ja.«

»Also hast du ihn erschossen?«, fragte ich verblüfft.

Emma schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nicht erschossen.«

»Wer dann?«

»Ich habe Harry angerufen und ihm von Martins Plänen erzählt. Er meinte, er würde sich darum kümmern«, sagte sie einfach so und setzte sich aufs Sofa. »Martin wollte nach den Einjährigen sehen, aber dann tauchte Harry auf. Ich hörte sie reden. Harry gab ihm jede Chance, aber Martin wollte einfach nicht. Jesus wolle von ihm, dass er dem Kommandanten die Wahrheit sage, und das werde er auch tun.«

»Und dann?«

»Und dann hörte ich den Schuss. Harry kam ins Haus und meinte, die Sache sei erledigt. Wir dachten uns die Geschichte mit der IRA aus, und ich rief die Polizei an.«

»Und was war mit O’Rourkes Leiche?«

»Die? An die haben wir gar nicht gedacht. Harry ließ sie einfach in der Truhe liegen. Zur Sicherheit sperrte er sie ab. Keiner würde dort nachsehen, keiner würde dort hingehen.«

»Aber er konnte die Leiche ja nicht ewig dort liegen lassen, richtig?«

»Nein. Vor ein paar Wochen meinte er, wir würden sie wegschaffen müssen. Wenn erst mal die Lieferung für DeLorean reinkäme, wäre die Sache zu heiß.«

»Also kam er zu dir und fragte nach einem von Martins alten Koffern.«

Emma nickte und suchte nach einer Zigarette.

»Ist das alles?«

»Ja.«

»Also gut. Uns bleibt nicht viel Zeit. Ich bin quer über die Felder gelaufen – habe ordentliche Spuren hinterlassen, da werden sie also als Erstes suchen, aber wenn die auch nur einen Rest Verstand haben, werden sie früher oder später hier auftauchen. Mein Plan: Wir machen alle Lichter aus und schleichen uns auf den Hof. Du kommst mit mir zum BMW. Ich fahre ohne Scheinwerfer, bis wir weit genug weg sind. Ich bring dich aufs Revier Carrickfergus. Es wird alles gut. Du stellst dich als Kronzeugin. Alles was du getan hast, ist, der Polizei Beweise vorzuenthalten. Ich kümmere mich darum, dass du nicht einen Tag im Gefängnis sitzt.«

Emma schüttelte den Kopf. »Das mache ich nicht«, sagte sie.

»Es wird alles gut. Ich verarsch dich nicht. Du wirst nicht einen Tag absitzen. Wenn du nervös wirst, verschaffen wir dir in England oder Australien oder sonst wo eine neue Identität.«

Sie dachte einen Augenblick darüber nach und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich gehe nicht mit, Sean.«

»Komm schon, Emma! Wir haben keine Zeit für diesen Scheiß!«

»Geh du.«

»Wir haben keine Zeit! Na los!«

»Nein!«

»Ich frage nicht noch mal, wir müssen wirklich ...«

Die Scheinwerfer mehrerer Fahrzeuge erhellten plötzlich den Hof vor dem Haus.

»Komm raus, Duffy! Du hast keine Chance!«, rief Harry hinter der Steinwand hervor.

»Verflucht! Die waren schnell!«

»Komm raus, Duffy! Mach es dir doch nicht noch schwerer!«, brüllte Harry.

Ich schaute zum BMW. Sechs Meter von der Haustür bis zur Fahrerseite. Die Männer standen dreißig Meter entfernt und hatten nur Schrotflinten. Wenn wir das Licht ausmachten und uns beeilten, würde es vielleicht klappen.

»Wir können es immer noch bis zum Wagen schaffen«, sagte ich zu Emma.

»Du schon. Ich bleibe hier.«

Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Augen halb geschlossen.

In der Küche verbrannten die Steaks.

»Was redest du denn da, Emma? Ich hab’s dir doch erklärt. Du musst nicht ins Gefängnis.«

»Ich sage nicht gegen Harry aus.«

Ich packte sie bei den Schultern und schüttelte sie.

»Er hat deinen Mann umgebracht.«

»Martin ist hier aufgewachsen. Er kannte die Spielregeln. Man geht nicht zur Polizei. Man packt nicht aus.«

»Hast du völlig den Verstand verloren? Er hat deinen Mann kaltblütig umgelegt.«

Emma nickte. »Ich weiß ... Ich weiß. Geh, Sean!«

Tränen streiften ihr über die Wangen.

»Tust du das für Harry? Der Mann ist ein Irrer.«

»Das verstehst du nicht.«

»Der Polizist in Larne. Harry hat ihn genauso umgebracht wie Martin, richtig?«

Sie nickte.

»Nun, nicht ganz. Er hat ihn erschossen, und dann hat er drei Schüsse in die Garagenmauer abgegeben. Warum wohl, was glaubst du?«

»Keine Ahnung.«

»Das kann ich dir sagen. Zur Rückversicherung. Er wollte es aussehen lassen, als habe eine Frau geschossen. Erst hat sie drei Mal verfehlt, dann hat sie drei Mal getroffen. Er wollte dich reinlegen, Emma. Wenn alles aufgeflogen wäre, hätte er Beweise vorgebracht, die dich in den Mord an deinem Mann verwickelt hätten. Ich wette, er hat deine Fingerabdrücke auf wichtigen Beweisstücken.«

»Das würde er nicht tun.«

»Wieso nicht?«

»Weil er weiß, dass ich nicht auspacke. Ich bin von hier. Wir lösen unsere Probleme selbst.«

»Wie Martin?«

»Wie Martin.«

»Er wird dich auch umbringen, Emma. Komm mit! Und zwar jetzt, solange wir noch die Chance haben!«

Sie schüttelte den Kopf. »Geh du, Sean. Geh!«

Ich konnte nicht die ganze Nacht mit ihr rumdiskutieren.

»Dann eben nicht. Bist du dir sicher?«

»Ja.«

»Kommst du zurecht?«, fragte ich.

»Die werden mir nichts tun.«

»Ich werde mit Kollegen wiederkommen, das ist dir klar?«, betonte ich.

»Ja.«

»Okay.«

Ich machte das Wohnzimmerlicht aus, nahm die Wagenschlüssel, öffnete die Tür und rannte los. Ich kam keine zwei Meter.

Ein halbes Dutzend Schrotgewehre schossen auf mich.

Ein glühend heißes Stück Schrot traf mich an der Schulter und warf mich zu Boden. Ich landete flach auf dem Rücken.

Unmöglich zum Wagen zu gelangen.

Er hätte genauso gut auch eine Million Meilen weit weg sein können.

Wieder Schüsse aus Schrotflinten und Gewehren. Ich kroch so schnell es ging ins Haus zurück und schloss die Tür.

Emma kam zu mir geeilt. »Du bist getroffen worden«, rief sie.

Ich zog den Regenmantel aus. Nur ein Streifschuss an der Schulter. Aber meine angebrochenen Rippen brannten wie Feuer.

»Hilf mir auf«, sagte ich.

Sie legte mir eine Hand unter den Arm und half mir auf die Füße.

Draußen ein halbes Dutzend Männer mit Schrotflinten und Gewehren, ich mit einem .38er Revolver und sechs Schuss.

»Und was machst du jetzt? Gibst du auf?«, fragte Emma.

»Aufgeben? Die bringen mich um. Ist dir das denn nicht klar?«

Ihr Gesicht war ausdruckslos, distanziert, doch dann nickte sie.

»Es muss doch hinten einen Weg geben«, sagte ich.

»Ja«, antwortete sie wie in Trance.

Alles an ihr war wie erstarrt.

Eine Kugel durchschlug das Wohnzimmerfenster und drang in die Hinterwand. Neben dem Fernseher brannte noch eine Lampe. Ich kroch über den Fußboden und warf die Lampe um.

Dann robbte ich zum Regenmantel zurück und suchte in der Tasche nach den Pillen. Ich schluckte zwei davon.

»Der Weg?«, fragte ich nochmal.

»Durch die Küche. Draußen siehst du den Hühnerauslauf und dann eine Hecke. Wenn du über die Hecke springst und über die Felder läufst, kommst du zum Ufer des Lough.«

»Und von dort?«

»Ich weiß nicht.«

Darum würde ich mich kümmern, wenn es so weit war. Vielleicht würde ich ins Wasser steigen und meinen Kadaver über den Larne Lough nach Magheramorne treiben lassen.

»Also gut. Ich hau ab«, sagte ich.

Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber sie flüsterte: »Viel Glück.«

Ich kroch zur Wohnzimmertür hinaus, doch kaum hatte ich die Hintertür geöffnet, flog Schrot gegen die Tür und in den Spalt über meinem Kopf.

Verflucht.

Das Haus war umstellt.

Ich kroch zurück ins Wohnzimmer.

»Die sind mir zuvorgekommen. Gibt es einen Keller, eine Kellertür, ein Priesterloch, irgendwas?«, fragte ich Emma.

»Nein. Gar nichts. Eine Vordertür, eine Hintertür. Das war’s.«

»Es gibt keinen Ausweg!«, rief Harry.

Ich glitt zu dem zerschossenen Fenster und sah hinaus. An die sechs Schatten hinter der Steinmauer. Vielleicht noch zwei hinterm Haus.

»Ich hab die Polizei gerufen, Harry! Die ganze verdammte Kavallerie ist im Anmarsch! Ihr Jungs solltet euch besser verpissen, wenn ihr nicht mit eurem Boss untergehen wollt!«, rief ich.

»Wir haben deinen Anruf gehört und das Kabel gekappt! Glaubst du, wir sind bescheuert, Duffy?«

»Scheiße!«, flüsterte ich. »Scheiße, scheiße, scheiße.«

»Komm raus, Duffy, dann ist es schnell vorbei. Keine Faxen, keine Folter. Wir haben Scharfschützen. Du wirst es gar nicht merken.«

Ich war völlig erledigt, dabei hatten wir noch die ganze Nacht vor uns. Die Nacht und den Morgen und all die Zeit, die Harry es auf seinem eigenen Grund und Boden durchhalten wollte.

Die Scheinwerfer beleuchteten noch immer den Hof. Man konnte nur schwer erkennen, was draußen vor sich ging, aber ich sah, wie ein übermütiges Arschloch aufstand und auf das Haus zielte. Ich hob den Revolver mit beiden Händen, zielte sorgfältig und drückte ab. Ein Schuss, ein leichter Rückschlag, und der Mann ging zu Boden.

»Jetzt hat er’s gemütlicher, hm, Harry?«, rief ich. »Und das gilt für jeden von euch Wichsern! Wer will als Nächster? Denkt an euren Kumpel, wenn Harry sagt, ihr sollt angreifen!«

»Scheißbulle!«, war die Antwort.

»Das tut ihr für Harry? Ihr riskiert euer Leben, damit er Geld bei irgendeinem Drogendeal scheffelt? Und was habt ihr davon? Nichts! Denkt mal darüber nach!«

»Das kriegen wir schon hin, du kannst ja nicht beide Türen gleichzeitig bewachen, oder, Duffy?«, rief Harry.

Guter Punkt.

Plötzlich spürte ich Emmas Hand auf meinem Arm.

Sie sah mich an.

»Kann er nicht, Harry! Aber wir sind zu zweit. Ich bewache die Hintertür mit Martins Schrotflinte, und er kümmert sich um die Vordertür! Der Erste, den ich in meinem Hinterhof sehe, ist ein toter Mann!«, rief Emma.

Ich konnte ihr Gesicht im Dunkeln nicht gut erkennen, aber ich sah ihr Lächeln und die doppelläufige Schrotflinte in ihren Händen.

»Das musst du nicht machen, ich schick dich mit einer weißen Fahne raus«, flüsterte ich.

»Ich bleibe hier!«, entgegnete sie und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Woher dieser Sinneswandel? Schuldgefühle? Resignation? Todessehnsucht? Alles nachvollziehbare Gründe.

Eine Breitseite an Schüssen brachte die Fenster zum zerbersten und ließ Funken über den Boden jagen.

Wir gingen in Deckung.

»Kümmer dich um die Hintertür«, flüsterte ich. »Lass dich nicht sehen. Niedrig halten.«

Emma nickte und kroch zur Küche.

Ich wartete ab, was als Nächstes kam.

Nichts, worauf ich schießen konnte.

Der Regen nahm zu, der Himmel war mondlos, sternenlos, schwarz.

Eine Minute lang passierte nichts. Zwei Minuten. Dann sah ich zwei Feuerkurven, ein Molotowcocktail landete auf dem Dach, ein anderer flog durch die kaputte Wohnzimmerscheibe ins Haus und explodierte in einem roten Teppich aus Feuer auf dem Hartholzboden.

Ich riss einen Vorhang von der Wand und warf ihn über die Flammen. Er fing sofort Feuer, und ich musste ihn mit meinem Körper löschen. Ich verbrannte mir das Gesicht, der Vorhang zischte und erlosch.

Ich wusste, es war aussichtslos. Sie würden uns einfach ausräuchern.

Wozu das Haus stürmen, wenn sie genauso gut hinter der Mauer stehen und Brandflaschen nach uns werfen konnten?

»Alles in Ordnung, Emma?«, rief ich in die Küche hinüber.

»Alles okay, und du?«

»Alles bestens.«

Ich kroch in die Küche. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte sie.

Ich linste in den Hinterhof hinaus und sah, wie hinter dem Zaun Taschenlampen aufleuchteten. Sie machten sich bereit, eine weitere Runde Brandflaschen zu werfen.

»Sie werden das Haus niederbrennen«, sagte ich.

»Oh Gott! Da lass ich mich lieber erschießen«, erwiderte Emma verzweifelt.

»Soll ich mit ihnen reden? Du hast noch die Chance.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, jetzt ist es zu spät. Ich habe mich entschieden. Ich hätte niemals ... Ich habe mich entschieden.«

Ich gab ihr einen Kuss auf die tränennasse Wange.

Die Männer schleuderten ihre Molotowcocktails auf das Haus, ich schlug das Küchenfenster ein und schoss auf einen der Werfer. Ich verfehlte ihn, und beide Flaschen landeten auf dem Strohdach.

Ja, die genau richtige Taktik.

In Windeseile füllte sich die Küche mit Qualm.

»Komm mit ins Wohnzimmer«, sagte ich und Emma glitt hinter mir her, doch dort war es genauso schlimm. Dichter schwarzer Qualm, der vom brennenden Stroh auf dem Dach herrührte.

Wir mussten husten.

Ich würgte.

»Na, was denkst du nun, Duffy?«, brüllte Harry.

Ich dachte an Butch Cassidy und seinen Lauf ins Nichts.

»Ich dachte daran, wie gut es sich anfühlen wird, wenn ich Sie umlege, Sie Arschloch!«, rief ich zurück.

Und dann hörte ich es.

Halluzination?

Nein.

Nein, das war keine Verwirrung meines verzweifelten Verstands.

Das waren Sirenen, verflucht. Sirenen.

»Sirenen!«, sagte ich.

Ich drehte mich zu Emma um. »Ich höre Sirenen.«

»Sirenen!«, brüllte ich durch das kaputte Fenster. »Die Polizei ist im Anmarsch, Jungs! Ich an eurer Stelle würde mich schleunigst verpissen!«

Ich drehte mich zu Emma um. »Bist du verletzt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung.«

Die Sirenen rasten die Mill Bay Road entlang. Mindestens zwei Land Rover. Sie hatten den Notruf zurückverfolgt. Sie brauchten keine Adresse. Sie mussten den Anruf nur durch alle Wechsler und Umschaltstellen zurückverfolgen, und nun hatte Harry ihnen auch noch Nachhilfeunterricht in örtlicher Geographie verpasst, indem er mit seinen Männern ein schönes großes Leuchtfeuer entzündet hatte.

Ich schob die Haustür auf, damit wir Luft bekamen. Wir hielten uns tief am Boden, und keiner feuerte auf uns.

»Kommt zurück, ihr Mistköter!«, brüllte Harry seinen Leuten hinterher, die klug genug waren, in ihre Häuser zurückzueilen.

»Und ich muss wirklich nicht ins Gefängnis, Sean? Das würde ich nicht ertragen«, sagte Emma leise.

»Nein. Das verspreche ich dir.«

Die Sirenen waren keine Meile mehr entfernt.

»Es ist vorbei, Harry! Sie sind allein! Das war’s!«, schrie ich in die Dunkelheit hinaus.

»Noch nicht, Duffy! Noch nicht!«, rief er zurück.

Ich hörte einen Motor aufheulen, dann, wie eine Handbremse sich löste. Ich blickte auf und sah auf den Hof hinaus. Harrys Bentley kam auf uns zugerast. Aus dem Benzintank ragte ein brennender Lumpen. Harry hatte einen Stein aufs Gaspedal gelegt.

Er lief hinter dem Wagen mit einer Schrotflinte her.

»Himmel! Schnell! Zurück in die Küche! Er ...«, schrie ich Emma an.

Und

dann

war

alles

strahlend

hell.