Matty meckerte über eine weitere »beschissene, sinnlose Fahrerei nach Islandmagee«, also warf ich ihn am Revier raus und hielt vor Benthams Laden, um mir Zigaretten zu holen. Ich nahm mir eine Schachtel Marlboros aus dem Regal. Jeff war nicht da, aber seine Tochter Sonia schmiss den Laden, eine Sechstklässlerin in Schuluniform. Sie kaute Kaugummi und las das Interzone Magazine.
»Wo ist denn dein Dad?«, fragte ich sie.
»Keine Ahnung«, antwortete sie, ohne aufzublicken.
»Und du schmeißt den Laden?«
»Sieht ganz so aus, oder?«
»Was gibt’s Neues?«
Sie legte das Magazin beiseite und sah mich an. »Philip K. Dick ist gestorben.«
»Wer ist das?«, fragte ich.
Sonia seufzte theatralisch. »Das macht zwei Pfund für die Kippen.«
»Dein Dad gibt mir Polizeirabatt«, sagte ich lächelnd. »Mein Dad ist auch saudoof. Wenn einem jemand nicht ins Knie schießt, dann ist es ja wohl ein Bulle. Zwei Pfund für die Zigaretten, und wenn dir das nicht gefällt, kannst du dich ja verpissen.«
Ich bezahlte und wollte gerade nach Islandmagee fahren, als über Funk eine Meldung hereinkam: Zwei Betrunkene prügelten sich vor dem Krankenhaus in der Taylor’s Avenue. Das war zwar keine Arbeit für einen Detective, aber es war in meiner Gegend, also gab ich durch, ich würde mich darum kümmern. In zwei Minuten war ich dort. Ich kannte beide Männer. Jimmy McConkey hatte als Schlosser bei Harland & Wolff gearbeitet, bis er entlassen worden war, Charlie Blair als Hydraulikingenieur bei ICI, bis die dichtmachten. »Schämt euch. Was macht ihr Jungs denn hier, hackedicht, und das um diese Tageszeit?«, fragte ich sie.
Charlie versuchte mich zu schubsen, und als er aus dem Gleichgewicht kam, raffte ihn Jimmy zu Boden.
Unter großen Mühen schaffte ich die beiden in den Land Rover und fuhr sie nach Hause zu ihren schwer geplagten Ehefrauen in der Siedlung Victoria, wo die beiden Damen den Kurzauftritt der Sonne dazu nutzten, die Wäsche draußen aufzuhängen und ein Schwätzchen über den Zaun zu halten. Die Männer benahmen sich anständig, als sie ausstiegen. Wir hatten die pubertäre Phase des Drückens und Schubsens hinter uns gelassen und waren in die weibliche Welt des Waschens, Redens und Ordnunghaltens gekommen. Die beiden würden heute nichts mehr anstellen.
Es hatte keinen Sinn, darüber groß einen Bericht zu schreiben. Es war ja nichts, nur ein weiterer trauriger Akt in der großen Oper des allgegenwärtigen Jammers.
Ich stieg wieder in den Wagen und fuhr schlechtgelaunt hinaus nach Islandmagee.
Die Privatstraße war mit einem Tor versperrt. Es war zugekettet, und da ich es unmöglich aufbrechen konnte, ohne mir Ärger einzuhandeln, stellte ich den Land Rover ab und ging zu Fuß zu Mrs McAlpines Farmhaus; Martins Sachen hatte ich in einer Sporttasche dabei.
Cora bellte mich an und gab Mrs McAlpine reichlich Vorwarnzeit.
Vorsichtig öffnete sie die Tür.
Sie hatte Blut an den Händen.
»Hi«, sagte ich.
»Hallo.«
»Ist das Blut?«
»Aye.«
»Was machen Sie denn gerade?«, fragte ich.
»Fragen, Fragen, Fragen, also, das ist ganz schön ermüdend.«
»Schlechte Angewohnheit unter Polizisten.«
»Ich zerlege gerade ein Schaf, wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte sie.
»Kann ich reinkommen?«
»Na gut.«
Ihre Haare waren röter, lockiger. Ich fragte mich, ob sie sie gefärbt hatte oder ob das eine Reaktion auf Sonnenschein und Freiluftaktivitäten war. Sie wirkte auch gesünder, kräftiger. Von einer rubenshaften Anmutung war sie noch weit entfernt, aber sie hatte zugenommen, was ihr gut stand. Offenbar kam sie langsam über Martins Tod hinweg. Sie achtete wieder mehr auf sich.
Ich trat ein und nahm die Sporttasche mit.
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich das erst fertigmache?«
»Überhaupt nicht.«
Wir gingen zum »Waschhaus« hinter der Farm, wo ein ausgeweidetes Schaf ausgebreitet auf einem Holztisch lag. Mrs McAlpine sägte und zerlegte es.
»Das wird ja eine Weile reichen. Haben Sie einen Gefrierschrank?«
»Harry hat einen.«
»Ich würde Ihnen ja tragen helfen, aber ich soll mich von Ihrem Schwager fernhalten. Ausgerechnet der Chief Constable hat mir einen Schuss vor den Bug verpasst.«
Darüber musste sie lachen. »Meine Güte. Schätze, seine Freimaurerkontakte sind das Letzte, was er noch auf Lager hat.«
Sie schnitt lange Streifen sehniges Fleisch vom Knochen, säbelte das Fett ab und warf es in eine Kiste mit der Aufschrift »Schmalz«.
Mit Wucht durchschlug sie mit dem Hackbeil den Knochen. Festen Zuges durchtrennte sie Fleisch und Fett.
»Ich verrate Ihnen mal, wo ich heute gewesen bin. Ich war in der UDR-Kaserne Carrickfergus, dort hat man mich gebeten, Ihnen Martins Sachen zu bringen. Ist alles in der Tasche da draußen.«
»Hätten Sie nicht tun brauchen.«
»War keine Mühe. Interessanter Ort, die Kaserne. Ein wenig karg.«
»Keine Ahnung, ich war nie da.«
»Wie schon gesagt, ziemlich karg. Schwere Arbeit, nehme ich an«, fuhr ich fort.
Sie hackte den Schafskopf ab und steckte ihn in eine Tupperdose. Dann sah sie mich an.
»Worauf wollen Sie hinaus, Inspector?«
»Hat Martin jemals mit Ihnen über die Arbeit gesprochen?«
»Manchmal.«
»Er war Spionageoffizier. Wussten Sie das?«
»Natürlich.«
»Hat er mit Ihnen über bestimmte Fälle gesprochen?«
»So gut wie nie. Er war sehr diskret.«
»War jemals die Rede von einem gewissen Woodbine oder von Dunmurry oder der DeLorean-Fabrik?«
»Nicht, dass ich mich erinnere.«
»Sind Sie sicher?«
»Wenn, dann hat das keinen Eindruck hinterlassen.«
Sie hatte das alte Schaf zerlegt, und ich half ihr dabei, das Fleisch einzupacken. Dann wuschen wir uns und gingen ins Haus.
»Ich hab heute gebacken. Möchten Sie ein Stück Fifteens, während ich den Wasserkessel aufsetze?«
»Hört sich köstlich an.«
»Warten Sie erst mal, bis Sie probiert haben. Meine Ma war die Bäckerin.«
»Ist Ihre Mutter von Ihnen gegangen?«
»Aye, an die Costa del Sol«, antwortete sie und lachte. Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und ertappte mich dabei, wie ich sie anstarrte. Sie erwiderte meinen Blick eine Sekunde länger, als es gut gewesen wäre.
»Ist schon eine Ewigkeit her, dass ich das letzte Mal Fifteens gegessen habe. Wie machen Sie sie?«
Sie lachte. »Na ja, wenn ich backen meine, ist das ein wenig übertrieben. Das Mehl braucht man nur, um alles auf dem Tisch ausrollen zu können.«
»Und was kommt rein?«
»Ach, ganz einfach. Fünfzehn Kekse, zerkrümelt, fünfzehn Walnüsse, klein gehackt, fünfzehn Maraschinokirschen, fünfzehn bunte Marshmallows, eine Dose Kondensmilch. Mehl und Kokosraspeln. Alles außer den Kokosraspeln miteinander vermischen. Die Masse in zwei Hälften teilen und ausrollen.«
»Und dann?«
»Ein Küchenbrett mit Mehl und Kokosraspeln bestreuen.«
»Da kommt noch irgendwo ein Kühlschrank vor, richtig?«
Sie lächelte. »Die Rollen in Mehl und Kokos wälzen, jede Rolle fest in Frischhaltefolie wickeln und zwei Stunden in den Kühlschrank legen. Einfacher geht’s nicht. Meine Geheimzutat sind Smarties oder für Harrys Freundin M&Ms, die amerikanische Variante.«
»Die Fifteens sind auch für Harry?«
»Man muss ja seinen Hausbesitzer bei Laune halten, nein?«
»Denke schon.«
»Sind für eine Freundin von ihm. Eine Amerikanerin.«
»Reich? Eine mögliche Braut?«
»Ich habe nicht gefragt.«
Sie hielt mir einen Teller mit der Süßigkeit hin. »Ich warne Sie«, sagte sie. »Die sind süß.«
Ich probierte ein Stück; viel zu süß für mich. Davon bekam ich Kopfschmerzen. Emma kam einen Augenblick später mit dem Tee herein.
»Köstlich«, sagte ich.
Sie lächelte, trank Tee, aß nichts.
Dann warf sie einen Blick auf die Tasche mit Martins Sachen.
Nach einer Weile meinte sie: »Könnten Sie mir die Tasche in den Schrank unter der Treppe stellen, bitte? Ich möchte mich damit im Augenblick nicht befassen.«
»Ich hatte ganz vergessen, Sie hatten mir ja gesagt, dass Sie Martins Sachen alle rausgeworfen haben. Tut mir leid, ich hätte Ihnen das nicht vorbeibringen dürfen.«
»Schon okay.«
Ich stellte die Tasche in den Schrank und stand etwas unbeholfen da. »Schätze, ich gehe dann mal wieder.«
»Ja.«
Ich räusperte mich.
»Wie läuft es für Sie so?«, fragte ich.
»Was meinen Sie?«
»Finanziell.«
»Ganz gut. Ich habe ein Dutzend Frühlingslämmer verkauft, das hat einen Teil meiner Schulden beglichen, und außerdem soll ich das Entschädigungsgeld Ende des Monats kriegen. Aber das erzählen die mir schon seit Januar ...«
»Bleiben Sie hier, wenn Sie das Geld haben?«
»Ich kann es mir nicht leisten, wegzugehen.«
»Vielleicht zu den Eltern in Spanien?«
»Dahin? Das ist der Tod am lebendigen Leibe dort im Süden. Nein, danke. Was soll ich denn da mit meiner Zeit anfangen?«
»Und was fangen Sie hier mit Ihrer Zeit an?«
»Gute Frage.«
Stille.
Ich schaute zu, wie ein Tropfen Wasser sich seinen Weg durch das Strohdach bahnte und auf den Wohnzimmerboden fiel.
»Also gut, tja, schätze, das war dann alles ... ähm ...«
»Ja, Inspector Duffy, schätze ich auch«, stellte sie fest.
Ich ging hinaus.
Der Land Rover brachte mich nach Carrickfergus zurück.
Gischt entlang des Lough-Ufers.
Kräftiger Regen.
Ihr Verhalten war nicht sonderlich einladend gewesen. Tatsächlich war sie gegen Ende ganz schön abgekühlt, und doch konnte ich mir den Eindruck nicht verkneifen, dass unter der Oberfläche etwas brodelte.
Chinesisches Fastfood zum Abendessen. Pot aus der Hütte im Garten.
Ich rauchte den Joint gleich dort, stand in der offenen Tür und ließ den Regen herein.
Dann ging ich ins Haus, legte Age of Plastic von den Buggles auf, ein Album, das ich für zwei Pence auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Ich mixte mir ein Pint Wodka Gimlet, trank und hörte mir die Platte an. Ein bodenlos schlechtes Album.
Ich schaltete die Nachrichten ein. Zwischenfälle in ganz Ulster: Bombendrohungen, Störungen bei Bahn und Bus, ein Brand im Door Store, ein erschossener Polizist in Enniskillen, ein schwer verletzter Gefängniswärter nach einer Quecksilberbombe in Strabane. Im Anschluss sah ich mir den Nachtgedanken auf UTV an: Ein fröhlicher, langhaariger Prediger bestand darauf, dass Gott gnädig und gerecht sei und sich um seine Herde sorge.
Mitternacht. Es war so kalt, dass ich den Petroleumofen anzündete.
Das Telefon klingelte. Ich erhob mich aus dem Bett, wickelte mich in die Decke, stolperte und wäre beinahe kopfüber die Treppe heruntergefallen. Ich schlug mir das Gesicht an der Wand an. Das Blut floss mir aus der Nase. Das Telefon klingelte unablässig. Geh niemals nach Mitternacht ans Telefon, Duffy, du Idiot.
Ich hob ab. »Ja, was ist denn jetzt schon wieder?«
»Sie sind nicht der Detective, für den ich Sie gehalten habe«, sagte jemand. Die Stimme mit dem Bibelvers. Die Engländerin.
»Und wieso?«, fragte ich.
Stille in der Leitung.
»Ich habe Ihnen den Hinweis gegeben.«
»Ja, ich weiß. Sie fallen auf. So viele englische Vögel fliegen hier nicht herum.«
»Schätze ich wohl auch.«
»Wer hat Sie aus dem Revier Whitehead geholt? Ein paar Kumpel?«
Darauf antwortete sie nicht.
»Hören Sie, Schätzchen, das ist nicht süß und witzig. Keine Ahnung, ob Sie eine Spionin sind, Reporterin, Studentin oder sonst wer, der Ärger machen will, aber suchen Sie sich jemand anderen aus, okay? Ich bin kurz davor, meinen Namen aus dem Telefonbuch streichen zu lassen.«
»Das sollten Sie vielleicht.«
»Aye, aber das wäre eine Schande, ich bin nämlich der einzige Duffy in ganz Carrickfergus«, erwiderte ich.
Wieder Stille. Ich war es leid. »Warum zum Henker rufen Sie mich überhaupt an? Warum sagen Sie mir verdammt nochmal nicht einfach, was Sie wissen, falls Sie überhaupt etwas wissen.«
»Ich brauche jemanden, der fähig ist. Ich dachte, Sie wären der Richtige. Ich hab recherchiert, hab die Artikel über Sie gelesen, aber Sie sind nicht fähig.«
»Nicht fähig? Fast hätte ich Sie festgenagelt, Sie dumme Kuh.«
»Fast zählt aber nicht.«
»Sie haben sich vor Angst in die Hose gemacht, Schätzchen, geben Sie es zu. Sie wurden von einer Straßensperre gefasst – diese Idioten finden normalerweise nicht mal einen Fettsack auf dem Weihnachtsmannkongress. Dürfte Sie wohl überrascht haben.«
»Und Sie waren wohl überrascht, als ich wieder weg war.«
»Herzlichen Glückwunsch: Sie haben einen zwanzigjährigen Teilzeit-Dorfpolizisten hinters Licht geführt. Eine wahre Meisterleistung. Beeindruckt mich nicht.«
»Und mein Hinweis?«
»Ihr Hinweis? Drauf geschissen! Wir haben mit dem Bürgerkrieg mehr als genug zu tun, um uns um solchen Scheiß zu kümmern. Wir haben keine Zeit für solche Zettel oder beschissene Spielchen. Versuchen Sie es mal bei der Polizei in San Francisco und spinnen Sie denen was vom Zodiac Killer vor, oder wenden Sie sich an die Ermittler im Ripper-Fall bei der Polizei in South Yorkshire.«
»Vielleicht haben Sie recht. Ich hätte Sie nicht an der Nase herumführen dürfen. Ich habe Ihnen eine Aufgabe gestellt, und Sie haben versagt. Ich dachte, wenn ich die Beweise finde, können Sie das auch.«
»Welche Beweise?«
»Nicht mein Job. Ich habe versucht, Ihnen zu helfen, Duffy. Ich wollte Sie aufstacheln, nicht alles auf dem Silbertablett servieren.«
»Servieren Sie es mir.«
»Nein, es stimmt schon. Ich hätte nichts sagen sollen. Wenn Sie es herausgefunden hätten, wäre das für Sie wahrscheinlich nur noch schlimmer geworden. Tut mir leid, dass ich mich überhaupt an Sie gewandt habe, Duffy.«
»Wer sind Sie?«
»Sie wissen, wer ich bin.«
»Keine Ahnung.«
»Dann sind Sie gewiss nicht der Detective, für den ich Sie gehalten habe.«
»Ich bin auch nicht der Detective, für den mich alle halten. Ich bin nur ein Polizist, der im Dunkeln tappt – nicht besser und nicht schlechter als alle anderen.«
»Das sehe ich jetzt auch.«
»Hören Sie, Schätzchen, es ist spät, ich bin müde, tun Sie uns einen Gefallen und rufen nie wieder an.«
»Werde ich nicht.«
»Gut.«
Sie legte auf. Nach einem Augenblick war die Leitung tot und piepte dann, piep, piep. Ich legte den Hörer zurück auf die Gabel. Ich hatte die Schnauze von alldem so voll, dass ich es mir sparte, bei Special Branch anzurufen und mein Telefon anzapfen zu lassen.