Die Medien brachten die Geschichte vom »sich versehentlich gelösten Schuss« – ob die Lebensversicherungsheinis das auch schlucken würden, stand auf einem anderen Blatt, aber das war Gott sei Dank nicht meine Sorge. Die Beerdigung fand an einem Sonntag in einer kleinen schottisch-kalvinistischen Kirche oben an der Küste von Antrim statt. Die Zeremonie war mir gänzlich fremd: Psalmen singen, Gebete, nichts über den Toten. Regen und Gischt ergossen sich über die schmucklosen Kirchenfenster, und es gab keinerlei Heizung.
Ein großgewachsener Kirchenältester, der Raymond Massey verblüffend ähnlich sah, verkündete: »Wer im Schutz des Allerhöchsten steht, wird im Schatten des Allmächtigen ruhen. Ich verkünde, dass der Herr meine Zuflucht ist und mein Schutz, mein Gott, dem ich vertraue. Er wird dich aus den Fängen des Bösen befreien und vor der tödlichen Pestilenz bewahren. Fürchte nicht die Schrecken der Nacht noch die Pfeile des Tages, noch die Pestilenz, die durch die Dunkelheit schleicht, noch die Plage, die am helllichten Tage zerstört. Tausend mögen an deiner Seite fallen, zehntausend zu deiner Rechten, doch sie wird dir nicht nahekommen. Du kannst mit eigenen Augen sehen, wie das Böse gestraft wird.«
Das war definitiv meine Art von Gott, doch unglücklicherweise hatte das bei Sergeant Burke nicht so reibungslos funktioniert. Am Grab hielt ein Chief Superintendent eine Rede und sprach von Burkes hingebungsvollen Dienstjahren. Natürlich gab es keinen Salut über dem Sarg oder so etwas. Das überließ man besser der Provisional IRA.
Die Folgen von Burkes Tod machten sich sofort bemerkbar. Chief Inspector Brennan wurde nicht befördert, aber um die Schichten weiter effektiv arbeiten lassen zu können, brauchten wir nun einen Sergeant. Jemanden mit dem Hang zu Details, der zusah, dass alles lief. Ich wusste, das war meine Gelegenheit, mich für Crabbie einzusetzen. Falls sie ihn zum Sergeant ernannten, war es egal, wie er die Prüfung bestand, solange er sie nicht völlig versiebte. Ich legte mich richtig ins Zeug, doch war ich nur ein einsamer Rufer in der Wüste, weil die anderen das Wiesel aus der Buchhaltung haben wollten; einen Mann, der den Bürokratenkram machte, den alle so hassten.
Nach dem Meeting teilte ich Crabbie die Entscheidung mit. »Sie werden Dalziel befördern.«
Crabbie war am Boden zerstört. »Was hab ich falsch gemacht?«
»Nichts. Tut mir leid, Mann. Die haben keine Ahnung. Ich meine, da nehmen sie einen Sesselfurzer wie Dalziel und keinen, der rausgeht und Verbrechen klärt.«
Der Tag ging zu Ende.
Der nächste begann.
Die Woche verging einfach so.
Regen, keine Spuren.
Am Donnerstag erfuhren wir, dass Bill O’Rourkes Leiche in die USA überführt worden war. Die Beerdigung sollte in Arlington stattfinden, mit Ehrenwache und Flaggenfalten. Man teilte uns mit, dass die Schwester seiner toten Frau aus dem Nichts aufgetaucht sei und auf das Haus in Massachusetts und die Wohnung in Florida Anspruch erhob. Ich bat die hiesige Polizei, sie doch mal zu befragen, was sie auch taten, und ein Lieutenant Dawson schickte mir ein knappes Fax, dass an der Frau nichts Verdächtiges sei.
Die Tage wurden länger. Die Einsatzkräfte der Royal Navy schipperten weiter nach Süden. Samstag früh verübte ein Maskierter mit vorgehaltener Schrotflinte einen Raubüberfall auf die Northern Bank in der High Street von Carrickfergus und kam mit neunhundert Pfund davon. Die Summe war unbedeutend, niemand war verletzt worden, und ich hatte nicht vor, mein Hauptaugenmerk auf diesen Fall zu legen, bis mich Brennan ins Büro rief.
»Welche Fortschritte gibt es im Mord O’Rourke?«
»Der Stand ist noch derselbe wie bei unserem letzten …«
»Dann kümmern Sie sich jetzt um den Überfall. Alle Mann. Wird langsam Zeit, dass Sie mal Ihr Gewicht in die Waagschale werfen, Duffy!«
Brennan war gealtert. Sein Haar wurde langsam weiß, und er wirkte aufgedunsen. Weiß Gott, wo er gerade hauste. Was nagte an ihm? Die Ehe? Die verpasste Beförderung? Was anderes? Das würde ich wohl nie herausfinden. Crabbie hatte letztes Jahr Ärger mit seiner Herzensdame gehabt und nie auch nur ein Wort darüber verloren.
Ich ermittelte also; natürlich gab es keine Zeugen, aber ein Informant namens Jackdaw, den unser Spitzelverwalter kannte, lieferte uns ein paar nützliche Hinweise.
Ein Kerl mit dem Namen Gus Plant hatte Samstagnacht im Borough Arms eine Runde geschmissen und damit geprahlt, dass er sich ein neues Auto kaufen würde. Crabbie und ich holten uns einen Durchsuchungsbeschluss und gingen zu Gus’ Haus in der Sozialsiedlung Castlemara. Das geklaute Geld lag unter der Matratze.
Wie jämmerlich.
Wir legten ihm Handschellen an, und seine Frau schrie den ganzen Weg hinaus hinter ihm her. Sie habe ihm doch gesagt, dass die Bullen da als Erstes nachschauen würden, aber er habe ja nicht hören wollen, er würde ja sowieso nie zuhören.
»Das Gefängnis wird dir guttun, Kumpel. Hauptsache weg von dem Gekreische«, sagte ich zu ihm hinten im Rover.
Nicht gerade Das geheimnisvolle Zimmer, aber der Fall war gelöst, und der Chief blieb uns ein paar Tage von der Hacke.
Ich rief Tony McIlroy an und fragte ihn nach dem Dougherty-Mord.
Einen Augenblick lang war er ganz verwirrt.
»Die Akte liegt auf Eis. Die Ermittlungen führen nirgendwohin«, sagte er.
»Hast du die Witwe befragt?«
»Aye, hab ich. Du hast mir nicht gesagt, dass sie so eine Schnitte ist.«
»Und?«
»Und was?«
»Und was hast du für einen Eindruck? Hat sie irgendetwas mit Doughertys Tod zu tun?«
»Quatsch, nein.«
»Das ist alles? Nein? Sie hat kein Alibi.«
»Und auch kein Motiv, keine Waffe, keine Eier, keine Erfahrung ... He, da kommt gerade ein anderer Anruf rein, ich ruf dich zurück.«
Das tat er nicht.
Tage.
Nächte.
Der Regen drang durchs Küchenfenster. Dürre Narzissen wuchsen. Zarte Lilien. Möwen mühten sich im Wind. Der Himmel wirkte achromatisch leer.
Ich suchte nach Zeugen, versuchte Bill O’Rourkes letzte Schritte zu rekonstruieren, aber niemand wusste etwas. Niemand hatte ihn nach der Abreise aus dem Dunmurry Country Inn noch einmal gesehen.
Eines Morgens rief uns der Chief Inspector in sein Büro. »Hört mal, Jungs, ich hänge Namen und Telefonnummer des für uns zuständigen Psychiaters ans Schwarze Brett. Ich bitte darum, den Kollegen nahezulegen, dessen Rat zu suchen. Die Flasche ist keine Antwort«, sagte er und trank seinen doppelten Whisky aus.
Der April ging seine Wege.
Wir legten die O’Rourke-Unterlagen in eine gelbe Aktenmappe, der Fall war noch offen, wurde aber nicht mehr aktiv verfolgt.
Wieder eine persönliche Niederlage für mich. Ein halbes Dutzend Ermittlungen in Mordfällen, und keine davon hatte zu einer erfolgreichen Verurteilung geführt.
Diesmal hatten wir noch nicht mal herausgefunden, wer es getan hatte.
Ein Mann, der um seine Frau trauert, fährt nach Irland, dort vergiftet ihn jemand, zerstückelt die Leiche, friert ihn ein und wirft ihn weg wie Müll.
»Das macht mich ganz krank«, sagte ich zu Matty und McCrabban bei einem heißen Whisky im Dobbins.
»Das gehört zum Job, Mann«, meinte Crabbie abgeklärt. »Du machst dich nur verrückt, wenn du versuchst, eine hundertprozentige Aufklärungsrate hinzukriegen.«
Da hatte er recht, aber war es nicht auch gut möglich, dass ich kein guter Polizist war? Vielleicht fehlte es mir an Zielstrebigkeit, an Detailtreue, vielleicht hatte ich auch nicht das Zeug zum guten Detective. Oder wenigstens zum halbwegs anständigen.
Eines nassen, eisigen Montagmorgens erhielten wir einen Anruf, dass im Rugby Club in der Woodburn Road eingebrochen worden sei. Man hatte ein paar Trophäen gestohlen. Die Diebe waren durchs Oberlicht eingedrungen. Keiner von uns konnte sich mit dem Gedanken anfreunden, in diesem Wetter auf dem Dach des Rugby Clubs herumzustapfen, also zogen wir Streichhölzer. Matty und ich zogen die Kürzeren.
Wir fuhren die Woodburn Road entlang, kletterten auf eine wacklige Leiter, stiegen aufs Dach und sammelten Spuren, während es wie aus Eimern goss und der Hausmeister keine Gelegenheit ausließ, uns zu warnen: »Da oben ist es nicht sicher, seien Sie bitte vorsichtig.«
Wir suchten tapfer nach Fingerabdrücken, fanden aber keine. Eine Taube schiss Matty auf den Rücken. Wir kletterten wieder hinunter, notierten die Beschreibung der fehlenden Gegenstände und sagten, wir würden eine Suchmeldung herausgeben. Wir bekamen ein Pint im Clubhaus spendiert und wollten gerade wieder aufs Revier fahren, als ich bemerkte, dass der Rugby Club gleich neben der Kaserne des UDR Carrickfergus lag.
Die Kaserne war noch massiver geschützt als das Revier. Ein sechs Meter hoher Zaun, mit Stacheldraht gedeckt, umstand eine dicke sprengsichere Mauer aus verstärktem Beton.
Ein potthässliches Ensemble: zweckmäßig, düster, sowjetisch. Ich war noch nie drin gewesen. Man sollte meinen, dass es eine enge Zusammenarbeit zwischen Polizei und UDR geben sollte. Das Ulster Defence Regiment setzte sich aus den vor Ort rekrutierten Soldaten der British Army zusammen, und es gab häufig gemeinsame Patrouillen von RUC und UDR, aber eigentlich agierten wir in verschiedenen Welten. Nur selten teilten wir Informationen, und was das UDR so tat, außer gelegentlich auf Patrouille zu gehen oder Grenzkontrollen durchzuführen, war uns ein Rätsel. Trinken, Snooker spielen und Darts, nahm ich an. Wir betrachteten uns als hochmoderne Polizeieinheit, die unter verschärften Bedingungen arbeitete – das UDR war im besten Fall eine panische Antwort auf die Unruhen. Die »Troubles« waren ihre Raison d’être, doch sollte der Krieg jemals enden, dann würden wir im Gegensatz zu denen noch da sein. Gab es beim UDR gute Offiziere und Männer? Natürlich, aber gab es nicht auch einen Haufen Vollidioten? Ja. Und sicherlich so manchen Fanatiker. Mittlerweile stellten die Katholiken fast zwanzig Prozent der Polizisten, was schon ganz gut war im Hinblick auf die vierzig Prozent der nordirischen Bevölkerung, die sich bei der Volkszählung als römisch-katholisch bezeichnet hatten. Das UDR gab solche Zahlen nicht heraus, doch schätzte man den Anteil der Katholiken auf unter fünf Prozent. Natürlich hatte die IRA es sich zur Hauptaufgabe gemacht, die katholischen Männer des UDR umzulegen, doch auch so hatte das Regiment mehr als nur einen Hauch von Sektierertum an sich. Und es waren nicht allein die nationalistischen Zeitungen in Belfast, die das Regiment kritisierten – Geschichten über eine Zusammenarbeit zwischen UDR und protestantischen Terrorgruppen standen auch in der englischen Tagespresse.
Wir standen alle auf derselben Seite, doch wenn wir jemals mit der katholischen Bevölkerung zusammenarbeiten wollten, mussten wir uns vom Regiment fernhalten.
»Wo willst du denn hin?«, fragte Matty.
»Wir haben doch nie nach diesem Captain McAlpine gefragt, oder?«
»Meine Güte, nicht das schon wieder!«, stöhnte Matty.
»Fällt dir was Besseres ein?«
Matty dachte kurz nach. »Nein, eigentlich nicht.«
Wir fuhren zu dem gesicherten Wachposten und zeigten unsere Ausweise vor. Ein Soldat in voller Kampfmontur und mit einem Selbstladegewehr in der Hand beäugte uns misstrauisch, winkte uns dann aber durch.
Wir stellten den Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und passierten einen weiteren Kontrollpunkt am Eingang zur Kaserne.
»Was ist der Grund Ihres Besuchs, meine Herren?«, fragte uns der Wachmann, ein großer Kerl mit schwarzem Bart.
»Wir möchten gern mit dem befehlshabenden Kommandanten über einen Ihrer Männer sprechen. Streng vertraulich«, erklärte ich.
Das gefiel dem Mann nicht, aber was konnte er machen? Wir zogen ja angeblich alle am selben Strang.
»Sie haben Glück, die Herren. Der Colonel ist anwesend. Ich glaube, er ist am Schießstand. Sie werden Ihre Waffen hierlassen müssen. Innerhalb der Kaserne dürfen nur dazu Befugte Waffen tragen.«
Wir gaben unsere Waffen ab und informierten uns, wo der Schießstand war.
Wir gingen düstere Betonflure entlang, die nur von summenden Neonröhren beleuchtet waren. Es gab keine Fenster, und die einzige Dekoration bestand aus Plakaten an den Wänden, die vor Sprengfallen, Sexfallen und anderen Tricks der IRA warnten.
Auf den Sexfallen-Plakaten war eine attraktive Blondine abgebildet, die einen ahnungslosen Soldaten in ein Reihenhaus führte; darunter stand: »Weißt du, was auf der anderen Seite der Tür auf dich wartet?«
Der Schießstand befand sich in einem Kellergeschoss tief unter der Erde.
Wir klopften an einer Tür mit der Aufschrift »Betreten verboten«, und der Diensthabende, ein Sergeant, öffnete die Tür einen Spalt breit. Er trug ein Maschinengewehr. Wir fragten nach dem Colonel.
»Tut mir leid, da werden Sie warten müssen, bis Colonel Clavert fertig ist. Sie benötigen einen Ausweis für den Schießstand, den können aber nur Colonel Clavert oder Captain Dunleavy ausstellen. Captain Dunleavy ist im Augenblick nicht in der Kaserne.«
Wir warteten also draußen auf ungemütlichen Plastikstühlen.
Den Schusslärm nahmen wir nur gedämpft wahr, weit weg wie in einem Traum.
Schließlich tauchte der Colonel auf. Er trug Kampfmontur. Ein stattlicher Mann mit pechschwarzem Haar, einem gepflegten Schnurrbart und einer großen, runden Brille.
Er entpuppte sich zu unserer Überraschung als Engländer. Ich stellte Matty und mich vor und erläuterte, warum wir gekommen waren:
»Wir ermitteln im Mordfall Captain McAlpine, und wir wollten Ihnen ein paar Fragen zu ihm stellen.«
»Hab mich schon gefragt, wann Sie endlich auftauchen.«
»Wir sind die ersten Beamten, die hier sind, um nach McAlpine zu fragen?«
»Ja. Und die Sache ist ja schon eine Weile her, nicht? Den armen Martin hat’s ja im Dezember erwischt. Kommen Sie mit in mein Büro.«
Das Büro war ebenfalls ein fensterloser Bunker.
Glänzend limettengrün gestrichene Gasbetonsteine. Eine Reihe von Fotos mit Burgansichten. Ein großer hölzerner Schreibtisch, Bilder von Frau und Kindern, ein Newton-Pendel. Das Ganze wirkte künstlich wie auf einem Filmset.
Colonel Clavert bot uns Tee und Zigaretten an. Wir nahmen beides dankbar an, und ein junger Soldat zog ab, um den Tee zu holen.
»Hat die Schießübung Spaß gemacht?«, fragte ich, um Konversation zu machen.
»Oh ja! Wunderbar entspannend. Ein Freund von mir bei den Irish Guards oben in Bessbrook hat mir eine Lieferung AK-47 geschickt, die sie in einem Waffenlager gefunden haben. Wir haben sie reinigen und ölen lassen und Munition dafür aufgetrieben. Haben Sie jemals damit geschossen? Grässliche Dinger. Macht aber Spaß! Sergeant O’Hanlon hat sich geradezu als Kalaschnikow-Meister herausgestellt. Der Trick besteht in kurzen Salven. Vollautomatisch ist eine Katastrophe.«
Ich bemerkte, wie Matty links neben mir die Augen verdrehte.
Der Soldat kam mit Tee und Keksen zurück. Als er wieder gegangen war, kamen wir zum Dienstlichen.
»Also, Captain McAlpine?«
Clavert nickte.
»Der vierte Mann, den wir seit meinem Dienstantritt hier verloren haben. Was für eine Schande. Erstklassiger Mann. Unersetzlich. Nicht mit dem Gesindel, dass wir, ähm ...«, setzte er an und verstummte schnell, als ihm auffiel, dass er etwas übers Ziel hinausschoss.
Er ging an den Aktenschrank und zog einen Hefter heraus. Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, blätterte durch die Unterlagen, las und klappte den Hefter wieder zu.
»Darf ich mal schauen?«, fragte ich.
Clavert schüttelte den Kopf. »Leider nein, alter Knabe, tut mir leid. Wir haben keine Aktenübereinkunft mit der RUC, und diese Akte ist als ›geheim‹ eingestuft.«
Er hatte ein junges, offenes Gesicht, dieser Colonel Clavert, doch jetzt nahm es einen verkniffenen, verärgerten Zug an. Er rieb sich den Schnurrbart, wirkte aber nicht im Mindesten peinlich berührt.
»Ich ermittle in seinem Mordfall«, hakte ich nach.
»Das kann schon sein, aber Sie können seine Akte ohne Erlaubnis des Staatsministers für Nordirland nicht einsehen.«
»Warum? Was ist so verdammt geheim? Gehörte er einer Todesschwadron an? Lief er rum und legte mitten in der beschissenen Nacht angebliche IRA-Mitglieder um?«, fragte ich in einem dummen Ausbruch von Enttäuschung, den ich sofort bereute.
Clavert seufzte. »Seien Sie doch nicht so dramatisch, Inspector, es ist nichts dergleichen ... Glauben Sie vielleicht, seine Akte würde dann noch in einem Aktendeckel in meinem Büro liegen?«
»Worum geht es dann?«, fragte ich.
Er zündete sich wieder eine Zigarette an und sagte nichts. Er lächelte und schüttelte den Kopf. Nicht nur, dass der Mistkerl die Ermittlungen behinderte, ich verlor auch noch vor Matty das Gesicht.
»Dies sind Ermittlungen in einem Mordfall«, wiederholte ich.
»Ja, Inspector. Aber ich versichere Ihnen, dass alles in Ordnung ist. Wir haben unsere eigenen Ermittlungen im Fall von Captain McAlpines Tod durchgeführt. Es handelt sich um eine Tat der IRA, nichts weiter.«
»Was? Wer hat diese Ermittlungen durchgeführt?«
»Die Militärpolizei natürlich.«
»Die Militärpolizei? Ich verstehe. Und haben Sie die Ergebnisse an uns weitergeleitet?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil das interne Ermittlungen sind.«
»Das ist der Grund, warum die IRA gewinnen wird«, murmelte ich, »die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut, verdammt.«
»Mir gefällt Ihre Ausdrucksweise nicht. Sie lässt auf eine schlechte Einstellung schließen«, sagte der Colonel.
Ich schlug mit der Hand auf den Schreibtisch.
»Hören Sie, Mann, ich werde gar nicht erst zum Staatsminister gehen brauchen. Ich ermittle im Mordfall eines amerikanischen Staatsbürgers. Captain McAlpines Tod ist nur Teil größerer polizeilicher Untersuchungen. Der Generalkonsul hat angerufen und nach dem Fall gefragt, und sein Chef ist der Botschafter der Vereinigten Staaten am St. James’ Court. Da ist diese unbedeutende Sache mit den Falklandinseln im Gange, vielleicht haben Sie schon davon gehört, und die Regierung Ihrer Majestät tut alles, um die Yankees zufrieden zu stellen, falls Sie also heute Nachmittag einen Anruf erhalten sollten, dann wird er nicht vom Staatsminister für Nordirland kommen, sondern von der verdammten Premierministerin, und sie wird nicht erfreut sein, das kann ich Ihnen versprechen.«
Colonel Claverts schmales, herablassendes Grinsen löste sich in Luft auf.
»Also gut. Sie können die Akte lesen, aber ich kann nicht zulassen, dass Sie Notizen oder Fotokopien machen oder diese Akte aus diesem Büro entfernen.«
Er seufzte, schob mir die Unterlagen über den Tisch zu und fuhr fort: »Sie werden meine Vorsicht verstehen, wenn ich Ihnen sage, dass Captain McAlpine der in unserem Abschnitt zuständige Spionageoffizier war. Er kümmerte sich um die Informanten.«
Ich verstand. Das UDR hatte ein eigenes Netzwerk an Spitzeln, und McAlpine war damit betraut gewesen, sie zu bezahlen und ihre Informationen zu sammeln. Natürlich hatte die RUC eine eigene Liste an Informanten, und Gerüchten zufolge führte das MI5 ein weiteres Netzwerk. Ein wirklich guter Informant konnte für ein und dieselbe Information also drei Schecks einstreichen.
Ich ging sorgfältig die Akte durch. Alles kleine Fische: Waffenverstecke, angebliche IRA-Männer, angebliche Paras, angebliche Drogenschmuggler. Die Zahlungen waren gering: fünfzig Pfund hier, hundert Pfund da. Nichts Dramatisches. Ich schob die Akte zu Matty. Auch er schien nicht sonderlich beeindruckt. Ich las die Akte noch mal, nur um sicherzugehen, und dann entdeckte ich etwas. Der vorletzte Eintrag, etwa eine Woche vor McAlpines Ermordung, galt einem Informanten mit dem Decknamen Woodbine, der »eine verdächtige Gestalt auf dem Parkplatz der DeLorean-Fabrik in Dunmurry« gesehen hatte. Für diese Information hatte McAlpine die fürstliche Summe von zwanzig Pfund bezahlt. Ich deutete auf das Wort Dunmurry, und Matty nickte.
»Wer ist Woodbine?«, fragte ich und schob die Akte zurück.
»Einen Augenblick«, sagte Colonel Clavert.
Er ging an den Aktenschrank und schlug eine zweite Akte auf. »Woodbine, mal sehen, Waverly, Winston, Woodbine. Ah, ja, ein Bursche namens Douggie Preston.«
»Adresse?«, fragte ich.
»11 Drumhill Road, Carrickfergus.«
Wir dankten dem Colonel, drückten unsere Kippen aus und wollten gerade gehen, als der Colonel uns fragte, ob wir im Laufe der Ermittlungen auch mit der Witwe McAlpine reden würden.
»Vielleicht«, antwortete ich. »Warum?«
»Sie hat noch immer nicht Martins Sachen abgeholt, die liegen schon seit vier Monaten hier.«
»Welche Sachen?«
»Aus seinem Spind. Galauniform. Sportschuhe. Etwas Geld. Ein Kricketschläger, ausgerechnet. Ich habe sie mehrmals deswegen angerufen.«
Ich sah Matty an. »Aye, wir können ihr die Sachen bringen.«
Als wir die Kaserne verließen, goss es in Strömen.
»Fahren wir gleich nach Islandmagee?«, fragte Matty.
»Schauen wir doch erst mal bei Mr Preston vorbei.«
Drumhill Road lag in einer Sozialsiedlung, die ironischerweise den Namen »Sunnylands« trug – einer der schlimmsten Gegenden in Carrickfergus. Reihenhäuser aus roten Ziegeln und Betonsteinen, meist randvoll mit arbeitslosen Flüchtlingen aus Belfast. Jede Menge Kinder, die barfuß herumtollten, ausgebrannte Karossen, Einkaufswagen und Müll in allen Ecken. Das Territorium des RHC – des Red Hand Commando –, eines besonders gewalttätigen und blutigen Ablegers der nur unwesentlich vernünftigeren paramilitärischen UDA.
Preston wohnte in einem Haus am Ende der Straße. Vorn im Garten lag ein kaputtes Ruderboot, ein Haufen alter Möbel und etwas, das ganz wie ein Flugzeugmotor aussah. Ein kleines Mädchen, vierjährig vielleicht, spielte allein in einem dreckigen Kleidchen mit einer kopflosen Barbiepuppe.
»So lebt also die andere Hälfte«, murmelte Matty.
Ich klingelte an der Tür, und als keine Reaktion kam, klopfte ich an.
»Wer ist da?«, fragte eine Frauenstimme.
»Polizei«, antwortete ich.
»Ich hab doch schon gesagt, wir verkaufen kein Acid. Haben wir noch nie, werden wir auch nicht!«
»Deswegen sind wir nicht gekommen.«
»Was wollen Sie?«
»Wir suchen nach Douggie.«
Die Frau öffnete die Tür. Sie war Mitte vierzig, sah aber eher aus wie siebzig. Graue Haare, Zahnlücken, dicklich. Ihre Finger waren nikotinfleckig.
»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie.
»Wir suchen nach ihm«, erklärte Matty.
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Aye, tun wir das nicht alle?«
»Seit wann wird er vermisst?«, fragte ich.
»Seit November«, antwortete sie.
»Kein Lebenszeichen seither?«
»Nein.«
»Und er hat zuhause gewohnt?«
»Aye.«
»Keine Freundin, nichts?«
»Nichts Festes. Douggie war ein schüchterner Junge.«
Vergangenheitsform. Sie wusste, er war tot.
»Wann hat ihn das letzte Mal jemand gesehen?«
»Er war am 27. November unten im North Gate, wollte ein bisschen was trinken, meinte, er würde sich Snooker anschauen. Das war das letzte Mal, dass ich was von ihm gehört habe.«
Ich schrieb alles mit.
»Die haben ihn umgelegt, oder?«, fragte sie.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Aye, die haben ihn umgelegt. Weiß Gott warum. Er war ein guter Junge, mein Douggie, ein braver Junge.«
»Hatte er Arbeit?«
»Nein. Er war ein Jahr lang bei Short Brothers. Er war gelernter Schlosser, aber sie haben ihn entlassen. Dann hat er versucht, bei DeLorean in Dunmurry was zu kriegen, aber die konnten sich ja die Besten aussuchen. Er hat’s mehrmals versucht, aber Arbeit ist knapp, oder?«
»Ja, das ist sie«, bestätigte Matty.
»Dunmurry, hm?«
»Aye, aber da gab’s zehn Bewerber auf eine Stelle. Der kleine Douggie hatte keine Chance.«
»Und er kannte da keinen?«
»Nein. Gott sei’s geklagt.«
»Haben sich hier Fremde rumgetrieben? Hat jemand nach ihm gefragt?«
»Nein.«
Wir standen auf der Veranda, und das kleine Mädchen hinter uns machte Detonationsgeräusche. Matty stellte noch ein paar Fragen, aber die Frau hatte nichts mehr für uns.
»Tja, wenn wir irgendetwas hören, geben wir Bescheid«, sagte ich.
»Danke«, erwiderte die Frau und fügte hinzu, »er war ein guter Junge.«