Safran und dunkle Schokolade
Isabell stand am Küchentisch und sah mit leerem Blick auf die Schokoladenförmchen, die dort durcheinander lagen. Sie bemerkte kaum, dass Rochas ihre Finger massierte. Schwarze Schleier trieben vorbei, ihre Beine drohten nachzugeben. Sie sank gegen irgendetwas, das unerfreulich hart war.
Dann schepperten die Schokoladenförmchen zu Boden, denn Rochas hatte sie einfach zur Seite gewischt, Isabell hochgehoben und auf die Tischplatte gebettet. Er schob ihr zwei Küchenhandtücher unter den Kopf.
„Wo ist der Rum zum Backen?“, fragte er Niklas, der wie ein Häufchen Elend auf einer Stuhlkante hockte.
Niklas schüttelte sich, flog auf und hackte auffordernd gegen eine Schranktür. Rochas öffnete sie, fand den Rum, nahm einen tiefen Schluck und flößte dann Isabell ebenso viel davon ein.
Sie bekam das alles mit, aber wie eine ferne Geschichte, die ein anderer erzählt, und in der man zur eigenen Verwunderung selbst vorkommt. Nur langsam rückte alles wieder näher heran. Lord Rochas mit Schwert und Kettenhemd, Phineas, der mit gefesselten Händen an der Hintertür lehnte und sich mit dem Unterarm das Blut vom Gesicht zu wischen versuchte.
Ihn zu sehen, machte Isabell wacher. Wach vor Wut.
Sie versuchte, aufzustehen, aber Rochas drückte sie mühelos rückwärts.
„Noch nicht“, sagte er. „Niklas, hole ein paar Pralinen von vorne – weiße Kirschtrüffel, falls welche da sind – und du sie tragen kannst. Ich mache einen starken Kaffee.“
Als Niklas mit schwerfälligem Flügelschlag zurückkehrte, fast zu Boden gezogen vom Gewicht einer einzigen, kleinen Pralinentüte, saß Isabell aufrecht und ihre Welt besaß wieder scharfe Umrisse. Rochas öffnete ihr das Tütchen.
„Mindestens drei davon essen! Der Kaffee ist auch gleich fertig.“
Isabell nickte, schmeckte dem zarten Aroma nach und fand es weniger tröstlich als sonst. Als sie nach der dritten Praline griff, kam ihr ein Stückchen gefaltetes Papier in die Finger. Sie faltete es auseinander.
Darauf stand lediglich eine Zahl: Vierundzwanzig.
Niklas flatterte aufgeregt.
Isabell brauchte einige Sekunden, ehe ihr klar wurde, dass sie das Weihnachts-Los gezogen hatte, das Los, das die letzte der magischen Advents-Pralinen vergab. Hatte Meleon das so geplant? Hatte er gewusst…
Jäh stiegen ihr Tränen in die Augen.
Dort draußen auf der Wiese hatte sie nicht weinen können. Sie hatte sich starr gefühlt und hart und bitter. Jetzt war es wie schmelzendes Eis in ihren Augen und sie weinte und weinte an die Schulter mit dem Kettenhemd gelehnt. Eine Hand in festem Lederhandschuh strich ihr immer wieder übers Haar.
Schließlich saß sie einfach da, starrte auf das Zettelchen in ihrer Hand, das jetzt ganz feucht und krumplig aussah, und auf die Unordnung ringsum...
Sie ließ sich von der Tischplatte gleiten. Rochas stützte sie, doch sie schob seine Hand fort und ging nach vorne, wo sie mit immer noch weichen Knien und zittrig von all dem Weinen, nach der Schachtel mit der Weihnachtspraline zu suchen begann.
Sie fand sie dann genau dort, wo sie sein sollte, direkt im Fach unter der Kasse: eine dunkelbraune, schlichte Verpackung, die nur einer Praline Platz bot, umwunden von safrangelbem Satinband und mit dem goldenen Schriftzug Balthasar.
Mit bebenden Fingern löste sie das Band und hob den Deckel ab. Die Praline war auf Satin gebettet und mit einem zarten, durchsichtigen Papier bedeckt, das goldene Buchstaben trug. Sie hielt es gegen das Licht und konnte den Text so entziffern, wenn auch nicht verstehen.
Meleonda gâ nirsha ni asegâr
„Lord Rochas!“
Er kam sofort zu ihr gestürmt, als sei ein neuer Angriff zu befürchten.
„Könnt Ihr mir sagen, was hier steht?“
Rochas hielt das feine Papier Richtung Ladentür.
„Meleons Macht gibt den Wesen Zungen“, sagte er und schien selbst von dieser Botschaft verwirrt. „Es ist ein Zauberspruch, nehme ich an. Asegâr ist ein sehr altes, heute eigentlich ungebräuchliches Wort, das auch so viel wie die Lebendigen oder die Wahrhaften heißen kann.“
Isabell nahm die Praline heraus, die zart nach sehr dunkler Schokolade und Honig duftete.
„Dann werden wir nun herausfinden, was es bedeutet!“
Der Geschmack war im ersten Augenblick unerwartet herb, fast erdig, dann seidig und schmeichelnd. Und danach geschah… nichts.
„Nun, sie war wahrlich festlich“, sagte Isabell enttäuscht. „Und ich weiß eigentlich nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht…“
„Irgendetwas, das uns Meleon zurückgibt? Oder wenigstens seine Stimme?“, fragte Rochas mitfühlend. „Ich fürchte, das wird nicht geschehen.“
Isabell nickte widerstrebend. Sie sah an den Regalen entlang.
Ihr Schokoladengeschäft. Ihre Verantwortung, so wie Meleon es oft angedeutet hatte, als hätte er das alles vorhergesehen.
Sie kehrte in die Küche zurück und befahl Phineas schroff, sich endlich hinzusetzen, statt an der Küchentür herumzustehen. Er gehorchte sofort, als habe er nur auf eine Aufforderung gewartet. Sie bemerkte jetzt erst, wie wacklig er auf den Beinen war. Rochas ging zu ihm, betrachtete die Wunde an der Schläfe und sagte: „Dein Wort als Ehrenmann, Phineas! Du wirst dich den Anweisungen der Dame Isabell fügen, nichts zu ihrem Schaden tun und nichts zum Schaden jener, die ihr anvertraut sind? Dann sage es, und ich nehme dir die Fesseln ab. Oder weigere dich und du wirst feststellen, dass ich kein 80 Meter tiefes Verließ benötige, um jemanden dauerhaft festzusetzen!“
Phineas klang kleinlaut, als er sagte: „Du hast mein Wort.“
Rochas nahm ein Küchenmesser aus der Schublade, durchschnitt die Fesseln und Phineas nahm sich erst einmal eins der Küchentücher, um es gegen seine immer noch blutende Wunde zu pressen.
„Trotzdem trau ich ihm nicht“, sagte Niklas.
Isabell wollte nicken, dann ging ihr auf, dass Niklas plötzlich verständlich sprach.
Sie sah zu Rochas, der keineswegs irritiert wirkte, sondern damit beschäftigt war, aus einem Küchentuch einen Verband für Phineas zu improvisieren.
„Habt Ihr auch verstanden, was Niklas gesagt hat?“
„Gesagt?“, fragte Rochas. „Ich habe ihn zwitschern hören.“
„Niklas“, befahl Isabell. „Sag noch etwas zu mir!“
Niklas legte den Kopf schief.
„Was wäre denn genehm?“, fragte er.
Seine Stimme war immer noch eine Vogelstimme, aber Isabell verstand ihn ganz deutlich. Rochas hingegen behauptete steif und fest, dass Niklas nur vor sich hin singen würde und Phineas stimmte ihm zu.
Isabell strich Niklas mit dem Finger über das schwarzgefederte Köpfchen.
„Ein letztes Geschenk von Meleon für uns beide“, sagte sie und beinahe wäre sie wieder in Tränen ausgebrochen.
Ja, Meleon hatte ihr einiges geschenkt. Unter anderem ein ganz neues, verstörendes Leben. Eine Maschine, die allerzarteste Schokolade machen konnte…
Sie ging hinüber und öffnete die Kammertür, um dieses wundersame Walzwerk anzusehen, dabei an die gemeinsamen Stunden mit Meleon zu denken, an die Tüten mit Schokoladenspänen...
Die Kammer war leer.
Nur ein Stück Pergament lag am Boden.
Isabell hob es auf.
Verbindlichsten Dank! Mit dieser Gabe werde ich mir einen Namen und mein Glück in dieser Welt machen!
Prinz Florindel von Asfa und Halaîn
Isabell stürmte in die Küche zurück und schlug die Kammertür so heftig zu, dass Niklas aufflog und Phineas sichtlich erschrak.
„Jetzt ist es aber genug!“, brüllte sie. „Wenn einige Leute geglaubt haben sollten, dass meine Geduld unendlich ist, dann haben sie sich getäuscht! Ich werde ihnen zeigen, dass ich nicht gedenke, mir noch irgendeine Frechheit bieten zu lassen!“
„Äh, gewiss“, sagte Rochas beschwichtigend.
Isabell reichte ihm das Stück Pergament.
„Dieser sogenannte Prinz hat mein Walzwerk gestohlen“, sagte sie, schon etwas ruhiger. „Meleons Geschenk, mit dem ich Schokolade hätte machen können, wie wir sie nur von ihm kennen: samtig und mit unübertroffenem Schmelz. Wahre Schokolade. Und dieser Taugenichts nimmt mir auch noch diese letzte, fassbare Erinnerung, die Grundlage dieses Schokoladengeschäfts…“
Plötzlich fiel ihre Wut in sich zusammen und sie trank schweigend die Tasse mit dem inzwischen lauwarmen Kaffee aus. Dann ging sie nach oben ins Schlafzimmer, wusch sich Blut und Schmutz herunter und wollte das Kleid anziehen, das noch vom Morgen hier lag, doch konnte sie es selbst nicht schnüren und schlüpfte wieder in die Sachen, die Meleon ihr für den Tag hatte schneidern lassen.
Auf einmal machte es ihr nichts mehr aus, in diesen sonderbaren Kleidungsstücken mit den Flecken aus angetrocknetem Blut vor Phineas und Rochas zu erscheinen. So vieles hatte sich geändert. So vieles war unwichtig geworden. Und anderes wichtig.
„Meine Herren, stehen Sie auf und hören Sie!“
Beide erhoben sich. Phineas wirkte schuldbewusst, Rochas verwundert.
Isabell war es gleichgültig.
„Ich habe einige Entschlüsse gefasst. Sie werden mich dabei unterstützen, sie in die Tat umzusetzen, mich in schwierigen Augenblicken bestärken und mich an jedem einzelnen Tag daran erinnern, was ich gelobt habe! Und das ist Folgendes: Ich werde Meleon zurückholen! Ich werde Schokolade schaffen, wie Meleon sie zu machen pflegte. Und ich werde verhindern, dass Florindel oder Finyon sich jemals König von Halaîn oder auch nur irgendeines anderen Reiches nennen können und wenn es die Größe einer Hutschachtel hätte. Das sind meine Entschlüsse und ich werde sie umsetzen.“
Rochas räusperte sich.
„Aber Dame Isabell, die Stadt ist exterritorialisiert. Meleon ist damit unerreichbar für uns. Und falls Prinz Florindel die Stadt verlassen hat, dann gilt dasselbe für ihn.“
„Dann werden wir einen Weg finden, trotzdem zu ihm zu gelangen!“, sagte Isabell. „Und bis wir diesen Weg gefunden haben, werde ich tun, was Meleon wollte: ich werde über diese Stadt wachen, dafür sorgen, dass sie schöner wird, als sie es jemals war, und dass es ebenso schön ist, hier zu leben. Das bin ich nicht nur Meleon schuldig.“
Rochas wollte weitere Bedenken äußern, aber Phineas schnitt ihm das Wort ab.
„Sie hat Recht“, sagte er. „Ich bin auch einiges schuldig. Einigen. Ich habe Fehler gemacht. Unter anderem einem weitaus böseren Zauberer als Meleon den Weg geebnet, ohne es zu wollen, und damit letztlich auch die Hoffnungen der Fisary zerstört. Meleon hatte das längst begriffen. Was ich also tun kann, um Dame Isabell zu unterstützen, das werde ich tun. Und dahinter werdet Ihr wohl kaum zurückstehen, Lord Rochas!“
„Und ich auch nicht“, sagte Niklas, kam auf Isabells Schulter geflogen und zauste ihr das Haar.