Der Duft kehrt zurück


Mitten in der Nacht stand Isabell dann mit Meleon im Laden und überlegte, wie wohl das schönste nur denkbare Schokoladengeschäft aussehen würde.

„Viel Glas, das immer glänzt, ohne dass man es polieren muss, dazu dunkles Holz und viele Fächer für die Pralinenschachteln.“

Meleon lächelte, blies über seine Handfläche und Regale wuchsen an den Wänden empor. Die Theke kehrte zu ihrer alten Pracht aus dunklem Holz und Glas zurück. Das Marmortischchen wurde durch einen schlichten, runden Holztisch ersetzt. Die Stühle dazu bekamen Bezüge in vanillehellem, leicht gestreiftem und sehr modischem Chintz. Knirschend setzten sich die Glasscheiben des Fensters zusammen, auch das Glas der Ladentür fügte sich wieder in den Rahmen ein und nichts ließ ahnen, dass es jemals in Scherben gefallen war.

„Wunderschön“, sagte Isabell. „Aber ein wenig streng.“

Meleon musterte seine Schöpfung, fuhr mit der aufgestellten Handfläche am Ladenfenster entlang und dann über die Thekenvitrinen. Daraufhin entstand auf beiden ein Muster in Ätzgravur, fein ziselierte Ornamente, die ebenso elegant, wie verspielt aussahen und einen handbreiten Bereich mattierten. Schnelle Bewegungen aus dem Handgelenk ließen die Metalleinfassungen der Theke in sattem Goldton glänzen und Meleon vergaß auch nicht, eine hübsche neue Fußmatte vor der Tür erscheinen zu lassen. Und da Isabell nun gar nichts mehr auszusetzen fand, bat er sie in die Küche, klatschte dreimal in die Hände und führte dann nicht ohne Selbstzufriedenheit vor, wie sich von nun an jede Schublade, jede Tür ganz von selbst öffnen würde, wenn Isabell nur die Hand nach dem Griff ausstreckte. Das trug ihr allerdings erst einmal blaue Flecken ein, denn sie war es nicht gewöhnt, dass eine Schublade dienstfertig ihren Inhalt präsentierte, noch ehe man sie berührt hatte.

„Du wirst auch die Gerätschaften, die du benötigst, stets vorne finden, selbst wenn du sie hinten einsortiert hast“, sagte Meleon. „Und der Herd wird immer genau die richtige Temperatur für das jeweilige Backwerk haben, ganz gleich, wie stark eingeheizt ist.“

Isabell rieb sich das Handgelenk, das von einer übereifrigen Schranktür getroffen worden war.

„Du bist wahrlich ein Zauberer“, sagte sie und Meleon hob sie auf die Zehenspitzen, küsste sie und flüsterte ihr Dinge ins Ohr, die ein Zauberer noch tun könne, doch sie machte sich los.

„Wir sind beide müde und wollen nun ganz einfach ein wenig Nachtruhe genießen.“

Kurz darauf schlief sie schon fest auf Meleons dickem, weichem Mantel, während er ein ganzes Geschäft mit den erlesensten Schokoladen und Gebäcken bestückte, so dass Isabell von einem Märchenreich träumte, in dem Plätzchen von selbst aus dem Ofen flogen und es Frau Holle federleichte, weiße Sahnetrüffel schneien ließ.


Am folgenden Morgen konnte das Geschäft wieder eröffnet werden.

Niemand musste eigens davon benachrichtigt werden, denn der Duft zog die Kunden von ganz allein zum Laden.

Meleon verteilte Proben seiner Kunst an jeden, der die Schwelle überschritt, während Isabell das Abwiegen und Einpacken übernahm.

Sie war inzwischen sehr froh über die neue Küche, aber sie bezweifelte insgeheim, dass sie auch mit Hilfe selbstöffnender Schubladen und des wunderbaren Herdes genügend Pralinen und Plätzchen fertig bekommen würde, um die Naschlust ihrer Kunden zu befriedigen.

Und sie vermisste Niklas, seine unauffällige Art, alles im Griff zu behalten, seine Freundlichkeit und die Schnelligkeit, mit der er Tabletts zu dekorieren und Pralinen aufzuschichten vermochte.

Gegen acht Uhr war kaum mehr ein Platz vor der Theke zu ergattern und am späten Vormittag reichten die Schlangen der Kauflustigen bis auf die Straße hinaus. Meleon unterhielt sich charmant mit den älteren Damen und faltete dabei unentwegt Pralinenschachteln, denn Isabell wusste schon bald nicht mehr, worin sie die Ware verpacken sollte. Erst gegen ein Uhr konnten sie schließen und Isabell wandte sich ohne ein Wort zur Küche, wo sofort Fächer vor ihr aufsprangen.

„Du brauchst ein wenig Ruhe“, sagte Meleon.

„Ich brauche Schokoladen, Gebäck und Fruchtkonfekt“, erwiderte sie mit grimmiger Entschlossenheit. „Und wir haben keine zwei Stunden, um all die Tabletts wieder zu füllen. Gibt es noch irgendwo Schachteln? Ich glaube, vorne sind nur noch zwei Dutzend.“

Meleon lachte und versuchte vergebens, sie zu fassen.

„Welchen Drachen habe ich nur in dir geweckt?“, fragte er.

Isabell rührte schon Biskuitteig.

„Möchtest du mir nicht vielleicht helfen?“

„Nein“, sagte Meleon. „Ich möchte eine Tasse heiße Schokolade und ein wenig getoastetes Brot mit Butter und Schlackwurst.“

„Du wirst dir solche Köstlichkeiten wohl selbst schaffen müssen!“

„Mir und dir“, erwiderte er friedlich und unter seiner Hand öffnete sich der Schrank, damit er die Kupferschüssel heraus nehmen konnte.

Isabell hätte ihn am liebsten geohrfeigt, als er in aller Seelenruhe Eiweiß über dem Wasserbad aufschlug, nicht um Baiser zu machen – nein – sondern um seine heiße Schokolade damit zu krönen!

Es kostete ihn all seine Überredungsgabe, damit sie sich wenige Minuten lang zu ihm setzte, um mit ihm zu essen.

„Eines musst du noch lernen“, sagte er. „Nur Ruhe bringt große Ergebnisse hervor. Presst du deine Kräfte zu sehr aus, wirst du bald keine begnadeten Schokoladen mehr machen, sondern wertloses Zeug, wie es allerorten verkauft wird. Außerdem ist es nicht klug, immer alles anzubieten. Das Geheimnis des Erfolges liegt in der Verknappung der Leckereien. Was du nur zu bestimmten Zeiten anfertigst, das weckt Begehren, solange es nicht erhältlich ist. Und schon fast vollkommen leer geräumte Tabletts lassen die Kundschaft nicht weniger, sondern mehr verlangen.“

„Das mag sein“, erwiderte Isabell und stand auf, um den fertigen Biskuit aus dem Ofen zu nehmen.

Meleon löffelte seine Tasse aus und spülte das Geschirr, um Isabell dann bei ihrem fieberhaften Tun zuzusehen.

„Meleon“, sagte sie böse. „Hilf mir!“

„Nein. Ich würde dich nur das Falsche lehren.“


Den Rest des Tages beschäftigte sie sich damit, es den Kunden recht zu machen, während Meleon mit Seiner Majestät über schier unendlichen Partien Jabon saß, einem Spiel, das mit achtzehn goldenen und silbernen Plättchen gespielt wurde, wie er Isabell erklärt hatte, ehe er nach oben gegangen war. Und nun kam er gar nicht mehr, um nach dem Geschäft zu sehen!

Isabell haderte insgeheim mit ihm, während sie sich vor Erschöpfung kaum noch darauf besinnen konnte, was sie gerade eben in das nächste Tütchen füllen wollte. Ihre Füße kamen sich in den Schuhen eingezwängt vor. Als endlich, endlich der Laden geschlossen werden konnte, schleppte sie sich in die Küche, sank dort auf einen Stuhl und bettete den Kopf auf die gefalteten Hände.

So fand sie Meleon, als er nach zwanzig gewonnenen Spielen nach unten kam.

Er weckte sie, zwang ihr eine Tasse Kaffee auf, machte ihr ein Weinsüppchen und befahl den Schränken und Schubladen, sich vor dem nächsten Morgen nicht mehr zu öffnen.

„Hast du nun begriffen, dass es eines Halbgottes bedürfte, um die Aufgaben zu erledigen, die du dir abverlangst?“

„Du hilfst mir ja nicht“, sagte sie, weinerlich vor Müdigkeit.

„Nein. Und das aus gutem Grund. Du musst lernen, deine Kräfte zu schonen. Sonst wirst du früh alt und hager und dein Leben ist vorbei, ehe du dich recht besonnen hast.“

„Du sagst doch, die Schokolade verlange Aufopferung“, wehrte sie sich.

Meleon küsste sie auf den Scheitel.

„Du hast mich nicht verstanden. Blinde Opfer bringen keinen Segen. Alles mit Gemach und vor allem mit Freude! Keine Hetzerei, kein hierhin und dorthin. Wie willst du so neue Köstlichkeiten erschaffen?“

„Aber wie dann?“, schrie Isabell. „Sag mir das!“

Meleon schnalzte.

„Du weckst ja unseren allergnädigsten Herrscher.“

„Das ist mir ganz gleich. Ich will wissen, wie ich mit Vergnügen Schokoladen machen kann, wenn dort draußen Leute darauf warten, bedient zu werden, Tabletts gefüllt werden müssen und nicht einmal Muße bleibt, den Boden zu wischen bei diesem feuchten Wetter, bei dem jeder nasses Laub in den Laden trägt!“

Meleon lachte.

Isabell fand nicht die Kraft, ihn zu ohrfeigen. Sie entzog ihm nicht einmal ihre Hände, als er danach griff.

„Wir finden eine neue Ladenhilfe für dich“, sagte er. „Aber erst, wenn du verstanden hast, was ich dir beizubringen versuche. Deine Aufgabe ist nicht das Geschäft. Deine Aufgabe ist es nicht, zu erfüllen, was andere von dir fordern. Deine Aufgabe – die du auf dich genommen hast – besteht darin, mithilfe der Schokolade Herzen zu erheben!“

„Aha“, sagte Isabell matt.

Aber sie ahnte, dass er Recht hatte.


Wieder einmal brachte er sie nach Hause und wieder hatten ihre Eltern nichts weiter zu bemerken, als dass es sehr freundlich von ihm sei, solche Mühe auf sich zu nehmen.

Isabell lag schon bald in tiefem Schlaf.

Meleon hingegen saß noch lange mit Dr. Fechter zusammen und erzählte von Halaîn, den weiten Wiesen, den Schafschwälbchen, die in Schwärmen über dem königlichen Schloss kreisten, den unerschlossenen Wäldern und den Herden weißer und zimtfarbener Einhörner, die nicht selten die junge Saat abfraßen, weshalb man in der Nähe der Dörfer Wölfe angesiedelt hatte, um sie fernzuhalten.

„Wie außerordentlich faszinierend“, sagte Dr. Fechter. „Ich wünschte, ich könnte das alles mit eigenen Augen sehen.“

Meleon lächelte.

„Das könnte geschehen. Nur würde das erfordern, dass ich einen König dazu bewege, auf seine Krone zu verzichten und sie einer Vierjährigen zu überlassen. Dann könnte man sich mit den Rebellen einigen, Noshar in die Knie zwingen und schließlich zurückkehren. Doch im Augenblick gibt nichts Anlass zu solchen Hoffnungen.“

„Hexerei“, schlug Isabells Vater vor.

„In diesem Fall versagt dieses probate Mittel leider.“ Meleon stand auf. „Ich werde nun gehen, um eine andere Art der Magie zu wirken: In nur sechs Stunden muss ich einen schier ausgeplünderten Laden wieder mit Köstlichkeiten füllen. Isabell sollte nicht geweckt werden, ehe sie ausgeschlafen hat.“

„Sie sind wirklich ein künftiger Schwiegersohn, wie man ihn sich nicht besser wünschen könnte“, sagte Dr. Fechter mit Wärme. „Darf ich mich übrigens erkundigen, wann die Hochzeit stattfinden wird?“

„Oh. Das hängt ebenfalls vom Willen eines Herrschers ab, der sich einiges auf seine Launen zu Gute hält. Ich werde ihm einige vollkommen neue Schokoladenüberraschungen bereiten und hoffen, so die königliche Zustimmung zu einer sofortigen Trauung zu erlangen. Aber vor dieser Herausforderung könnte sich selbst all meine Kunst als zu gering erweisen.“


Isabell schlief bis gegen elf Uhr des folgenden Vormittags.

Der Blick auf die Uhr erschreckte sie. Noch nie hatte sie sich in solcher Eile fertig gemacht. Es dauerte keine Stunde, da stürmte sie durch die Ladentür und erwartete, ein wildes Durcheinander vorzufinden, doch nur drei ältere Damen standen an der Theke und schwätzten in aller Gemütlichkeit. Was am Vorabend gefehlt hatte, war ausnahmslos aufgefüllt. Die Glasscheiben blitzten in der Sonne, der Fußboden war makellos gewischt.

Isabell grüßte, um Haltung bemüht, ging ihren Hut weglegen und stellte fest, dass auch die Küche mustergültig aufgeräumt aussah.

Ihr stiegen Tränen in die Augen.

Meleon ließ sie also doch nicht im Stich.

Als sie nach vorne kam, hatten sich die drei Damen verabschiedet und das Geschäft war leer.

„Warum ist es so ruhig?“, fragte sie atemlos.

„Weil ich es so will“, erwiderte Meleon. „Und nun frühstücken wir.“

Er ging nach hinten, setzte eine Pfanne auf den Herd, machte Spiegeleier mit geröstetem Schwarzbrot, kochte Kaffee und auf ein Fingerschnippen hin deckte sich der Tisch.

„Aber wenn jemand kommt…“, begann Isabell.

„Es kommt niemand.“

Anfangs konnte sie die Mahlzeit nicht genießen und lauschte immer zur Ladentür hin, dann fiel die Unruhe von ihr ab. Der Kaffee war wunderbar, das Schwarzbrot würzig und knusprig, das Eigelb cremig. Was konnte sich ein Mensch denn überhaupt mehr wünschen? Wollte sie tatsächlich Geld anhäufen? Oder weshalb trieb sie sich selbst so sehr an?

Als könne er ihre Gedanken lesen, sagte Meleon: „Du strebst zu sehr danach, es anderen recht zu machen. Wir wollen alle gefallen und daran ist auch nichts auszusetzen. Aber oft irren wir uns, wenn wir glauben, wir würden umso mehr Wohlwollen empfangen, je härter wir arbeiten.“

„Wofür empfangen wir also Wohlwollen?“, fragte Isabell. „Für besondere Leistungen? Für immer bessere und atemberaubendere Kreationen?“

Meleon schüttelte den Kopf.

„Damit ziehen wir nur Menschen heran, die fordernd und mäkelig sind. Wohlwollen erhalten wir für die Liebe, die in dem steckt, was wir erschaffen. Unsere Schokoladen sind Liebe. Liebe, die nicht urteilt, nicht sondert, sondern allen gibt, ungeachtet ihrer Persönlichkeit.“

Isabell kämpfte ihre Rührung nieder.

„Und das sagt ein dunkler Magier?“

Meleon nickte.

„Das sagt ein dunkler Magier. Du kennst die Liebe, die in meine Schokoladen gegossen ist. Willst du auch meinen Hass kennen lernen? Meine Wut?“

„In Schokolade? Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Er lächelte und sein Lächeln hatte etwas, das Isabell nicht gefiel.

„Nein. Das eben ist meine Schokoladenseite. Die andere Seite ist Feuersbrunst und bittere Asche. Sie ist scharf geschliffen wie die Klinge eines Rasiermessers. Oder sagen wir: Sie ist unbekömmlich.“

„Ich mag es nicht, wenn du so redest. Niklas hat einmal gesagt, du würdest furchtbar Rache nehmen…“

„Und das werde ich“, sagte Meleon ganz sanft. „Wenn die Zeit dazu gekommen ist.“ Er stand auf. „Und nun wollen wir wieder Kunden in den Laden ziehen, denn noch stehen die letzten beiden Weihnachtslose aus!“