Ein Tropfen Blut
„Soll ich Seine Majestät zu uns nach Hause bringen?“, fragte Dr. Fechter.
„Auch das nicht“, sagte Meleon mit einem höchst unfreundlichen Blick zu den beiden Prinzen. „Wir werden den König in den Schutz seiner Bürger stellen.“
Dr. Fechter lehnte sich vor und flüsterte Meleon ins Ohr: „Ich verhehle nicht, dass der Gesundheitszustand unseres Herrschers als ernst bezeichnet werden muss.“ Er sagte noch etwas, das Isabell nicht verstehen konnte.
Meleon nickte nur.
Er befahl Rochas, neben dem König Wache zu stehen, während er von oben aus dem Schlafzimmer eine kleine gläserne Halbkugel holte. Der Bürgermeister eilte davon, um eine Trage bringen zu lassen.
Auf dieser Trage wurde der Herr von Halaîn zum Marktplatz gebracht. Meleon hielt die Halbkugel über die Brust des Bewusstlosen, sprach einige Zauberformeln und jäh wölbte sich das Glas zur Höhe von 3 Metern auf und umschloss die Trage, die zu einem Ruhelager wurde, das von einem Baldachin gekrönt war. Eingelassen in das Glas war eine kleine Vorrichtung, die Meleon sofort vorführte. Er legte die Hand in eine Aussparung, eine silberne Nadel senkte sich herab, stach in die Haut neben dem Nagel seines Ringfingers und das austretende Blut bewegte sich als Tropfen durch ein feines Schläuchlein zum Handgelenk des Königs, wo es in eine Art winzigen, goldenen Trichter tropfte.
„So werden alle Bürger, ob groß oder klein, Mann oder Frau, ihren Beitrag dazu leisten können, dass Seine Majestät Lebenskraft erhält, bis die Schlacht geschlagen ist und ich wieder bei ihm sein kann. Zu jeder Stunde soll ein Bürger dieser Stadt seine Hand hier in diese Vertiefung legen und mit seinem Blut seine Treue zu unserem Herrn und König bezeugen.“
„Großartig!“, sagte der Bürgermeister. „Großartig! Und welche Ehre für uns alle.“
Isabell schauderte es.
„Wie lange kann er so am Leben gehalten werden?“, fragte sie.
„So lange, bis ich Hilfe bringen kann – wozu es nötig sein dürfte, dass Kraut der Silberkerze von den Berghängen des Caras zu holen. Es wird auch Königskraut genannt und heilt selbst Sterbende, sofern sie der königlichen Blutlinie angehören. Sonst ist die Pflanze niemanden von Nutzen, denn so wurde es vor siebenhundert Jahren magisch verfügt.“
Isabell sah durch die gläserne Abdeckung auf den Bewusstlosen, der friedlich und schlafend wirkte: zu friedlich, fast wie ein Toter, den man hier aufgebahrt hatte.
„Das ist unheimlich“, sagte sie leise.
Meleon zuckte die Achseln.
„Es ist notwendig. Ich fand es wünschenswert, den König unter die Obhut einer ganzen Stadt zu stellen und ihn gleichzeitig unerreichbar zu machen. Für jedermann.“
Isabell nickte.
„Du meinst also, einer der beiden Prinzen…“, murmelte sie.
„Oder beide. Und da ich es nicht genau weiß, gehe ich kein Risiko ein.“
Der Bürgermeister versprach, sofort Soldaten bereit zu stellen, die für den König eine repräsentative Wache bilden würden, auch wenn die Glaskugel unzerstörbar war, wie Meleon versprach.
„Nur ich kann sie wieder öffnen“, sagte er. „Ihr seid so gut und hängt Listen aus, in die sich die Bürger eintragen können, damit wirklich stündlich der nötige Tropfen Blut gegeben wird.“
„Ich werde sie sofort schreiben lassen“, versprach der Bürgermeister und strebte dem Rathaus zu.
Als sie in den Laden zurückgekehrt waren, ging Meleon in den ersten Stock hinauf, zog die Gewänder der Brautwerbung an und kniete so vor Prinz Finyon nieder, der sich gerade von Isabell eine Tasse Kaffee einschenken ließ.
Finyon betrachtete ihn lange von oben herab, bis er sich zu fragen bequemte: „Was begehrt Ihr, Lord Meleon?“
„Euer Vater hat versprochen, mir heute Abend Dame Isabell zu vermählen. Da er nun auf absehbare Zeit nicht dazu in der Lage sein wird und Ihr derjenige seid, der in seiner Abwesenheit berichtigt ist, die Trauung eines Adligen zu vollziehen, bitte ich nun also Euch, uns zu verheiraten.“
Prinz Finyon lächelte versonnen und sein Blick streifte Lord Rochas, der in die Küche kam und verwundert schien, Meleon auf den Knien zu sehen.
„Gewiss, gewiss, Lord Meleon. Es wird mir eine außerordentliche Freude sein, Euch mit einer solch bezaubernden und gleichzeitig so praktisch veranlagten Frau zu verehelichen. Und so werde ich nicht zögern, genau das zu tun, sobald – und wenn – Lord Meleon, Ihr die Schlacht geschlagen, Noshar besiegt habt und in dieses Haus zurückgekehrt seid.“
Meleon hob den Kopf.
„Das ist nicht Euer Ernst!“
Finyons Mundwinkel zogen sich noch ein wenig weiter nach hinten und aus dem Lächeln wurde ein höhnisches Grinsen.
„Nicht mein Ernst, Lord Meleon? Und ob es das ist! Kämpft und siegt, und dann heiratet! Oder sterbt ohne Anhang und Kinder, wie es passend ist, wenn ein Mann nicht zu erfüllen vermag, was ihm aufgetragen wurde. Ihr habt ein bedeutsames Amt. Man schenkte Euch Vertrauen. Und doch konntet Ihr weder den Umsturz verhindern, noch dass uns der Feind bis hierher folgte. Nun liegt mein königlicher Vater niedergestreckt…“
Meleon stand auf.
„Rachmasz!“, sagte er leise und dem Prinzen ging mitten im Satz die Luft aus.
Meleon drehte sich zu Rochas um.
„Ich verkünde hiermit in meiner Eigenschaft als Hofmagier und Lordkanzler Seiner Majestät, dass ich für den Fall meiner Abwesenheit die Amtsgeschäfte Dame Isabell anvertraue. Ihr soll außerdem diese Stadt unterstehen, die von nun an Alyegad heißen wird, also: „die nicht wankt“. Statthalterin und Kanzlerin wird sie sein, bis ich, oder der König selbst, es anders anordnet.“
Isabell hielt sich am Küchentisch, während Rochas sich vor ihr und Meleon verneigte.
„Ein weiser Entschluss, den ihr sofort verkünden solltet!“
Meleon nickte, schnippte mit den Fingern, fing das Pergament, dass sich vor ihm materialisierte, aus der Luft, ebenso die gesprenkelte Feder, die von der Decke herab schwebte, stach sich mit einem der kleinen Küchenmesser in die Fingerkuppe, tauchte die Federspitze in den Blutstropfen, der ausgetreten war, und schrieb die Bekanntmachung in großen, glänzenden Buchstaben, die sich noch im Schreiben golden verfärbten.
Das Pergament reichte er Rochas.
„Lasst es anschlagen, Lord Rochas! Es wird sich von alleine vervielfältigen und dann an jeder Ecke zu lesen sein.“
Isabell wollte widersprechen, wollte Rochas nachrufen, dass er solchen Unsinn auf keinen Fall öffentlich verkünden durfte, doch sie bekam kein Wort heraus. Prinz Finyon erging es offenbar nicht besser. Er war rot angelaufen und seine Lippen zitterten. In seiner Hand tanzte die Tasse einen wütenden Tanz auf ihrer Untertasse. Es klang wie das Zähneklappern eine Tollwütigen.
„Habt die Güte Hoheit, das nachher auch Prinz Florindel mitzuteilen“, sagte Meleon. „Im Übrigen möchtet Ihr Euch vielleicht zurückziehen, während wir die letzten Vorbereitungen für die Schlacht treffen, von der Ihr Euch so viel zu erhoffen scheint.“
Als der Prinz die Tasse abstellen wollte, rutschte sie von ihrem Tellerchen und zerschellte auf dem Boden. Die Scherben knirschten unter Finyons Schritten, als er zur Treppe ging.
„Wo ist Florindel eigentlich?“, fragte Meleon.
Aber das konnte ihm niemand sagen.
Der jüngere Sohn des Königs war verschwunden und ließ sich auch nach Einbruch der Dunkelheit nirgendswo auftreiben.
„Abgehauen wahrscheinlich“, sagte Rochas achselzuckend, nachdem er vom Marktplatz zurückgekommen war. „Wir wissen ja, wie wenig er es schätzt, in Händel verwickelt zu werden. Eine Schlacht wird ihm noch weit unangenehmer sein.“
Meleon seufzte nur und ließ die Stirn auf Isabells Schulter sinken. Daraufhin beeilte sich Rochas, sie allein zu lassen.
Sie standen lange so, aneinander gelehnt und ohne ein Wort. Wie immer fand Isabell Meleons Nähe tröstlich, doch hinter dem Trost lauerte Angst.
„Meleon“, flüsterte sie. „Werden die Fisary die Schlacht gewinnen?“
Er hob den Kopf und schob Isabell so weit von sich, dass sie einander ansehen konnten.
„Nein“, sagte er. „Das musst du weder befürchten, noch darfst du es glauben.“
„Aber warum diese Ernennung? Weshalb bist du so ernst, innerlich so weit fort…“
Er küsste sie sacht auf den Mund.
„Keine Fragen“, sagte er. „Keine Sorgen. Nur beieinander sein und den Augenblick spüren und auskosten und nicht davon ziehen lassen.“
„Aber das bedeutet doch, dass es Anlass zu dieser Sorge gibt.“
Er schnalzte leise.
„Wann hätte jemals Sorge verhindert, dass eintrat, was man befürchtete? Sorge ist eine Beschützerin ohne Waffen und ohne Mut. Sie steht im Dienste deiner Feinde und soll deinen Widerstand schon erlahmen lassen, ehe das gegnerische Heer vor deinen Toren steht. Nein, Isabell, du sollst dich nicht sorgen und nichts befürchten! Vielmehr sollst du im Angesicht drohender Gefahr das Leben erst zu genießen lernen.“ Er küsste ihre Nasenspitze und lachte. „Ja, Meleon macht große Worte, aber er meint sie auch. Dieser Augenblick gehört uns, Isabell, und nichts was nach ihm kommt, kann ihn mehr auslöschen.“
Isabell atmete unwillkürlich tief ein. Er biss sie ins Ohrläppchen und sagte „Miau!“, und sie lachte mit ihm. Ja, Meleon hatte Recht: das war nicht der Augenblick für Befürchtungen!
Sie standen an den Küchentisch gelehnt, küssten sich traumverloren und ohne Hast, aber dann schlug irgendwann das Glöckchen vorne im Laden an und Meleon straffte sich.
„Nun wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Der Augenblick der Ruhe ist vorbei und es beginnt eine Zeit des Blutvergießens. Doch bevor es soweit ist, gibt es noch etwas zu erledigen.“