Bescherung



Obwohl nur noch wenige Tage bis zum Heiligen Abend blieben, wurden die fehlenden Lose auch nicht präsentiert, bis Isabell am Abend die Tür abschloss.

Meleon gähnte, zählte das Geld in der Kasse und ging dann in die Küche, um Kaffee zu machen.

„Dein Vater wird bald kommen, um nach Niklas zu sehen.“

Isabell bemerkte, dass die Blutgefäße violett durch seine Haut schimmerten. Sie hatte die vergangenen Tage gar nicht mehr darauf geachtet. Nun fragte sie sich, ob er ihr vielleicht am Vortag nicht hatte helfen wollen, weil ihn der Zauber erschöpfte, den Noshar gegen ihn verwendet hatte.

„Tust du etwas dagegen?“, fragte sie.

„Wogegen?“

„Gegen diesen Zauber, der dir die Kraft raubt.“

„Tue ich.“ Er bekam einen Gähnkrampf. „Ich trinke Kaffee und esse gute Schokolade. Mehr lässt sich nicht machen.“

Trotz seiner Müdigkeit begann er in den Schränken herum zu suchen.

„Was hast du vor? Solltest du dich nicht ausruhen?“

„Das sollte ich vielleicht, obwohl du gestern nicht dieser Meinung schienst. Aber ich habe keine Sekoy mehr. Und sie erfordern einige Umsicht und vor allem Zeit. Ich möchte nicht ohne solche Hilfsmittel sein, wenn Noshar sich zu seinem zweiten Angriff entschließt.“

Er suchte seine Zutaten zusammen und war bald damit beschäftigt, Mohnpaste im Mörser zu verreiben.

„Werde ich auch lernen, Sekoy zu machen?“, fragte Isabell.

Meleon lächelte.

„Möglicherweise. Doch nicht im Augenblick.“

Es klopfte draußen gegen die Glasscheibe. Dr. Fechter war gekommen.

Isabell ließ ihn herein und half ihm, Niklas zu waschen, die Wunde zu reinigen und nach Zeichen einer Entzündung zu suchen.

„Es geht ihm etwas besser. Doch er müsste längst wieder bei Besinnung sein.“ Dr. Fechter tastete sorgsam den Schädel ab, um nach Kopfverletzungen zu suchen, die ihm vielleicht entgangen waren. „Nichts. Könnte es auf einen Zauber zurückzuführen sein?“

„Das würde mich nicht wundern.“

Dr. Fechter schloss seine Tasche.

„Wie sonderbar, dass ich früher niemals auf Zeichen von Magie geachtet habe. Nun meine ich, sie umgibt uns von jeher.“

„Du hast dich sehr verändert.“

Er lachte.

„Das mag wohl sein. Aber du hast dich auch verändert, mein Kind. Du siehst so erwachsen aus. Nur solltest du darauf achten, dich nicht zu verausgaben. Mir kommt es so vor, als seist du zu angespannt. Kannst du dich an Herrn Meleons Seite nicht sicher fühlen?“

Isabell zuckte die Achseln.

„Sicher? So sicher, wie es die Bedrohung durch einen anderen Zauberer erlaubt.“

„Herr Meleon wird sich schon durchsetzen“, sagte Dr. Fechter frohgemut.

Isabell wünschte, sie könne dieselbe Zuversicht verspüren, doch Meleons Erschöpfung machte ihr Angst. Würde er einen weiteren Angriff durchstehen? Oder war es nicht vielleicht doch besser, zu tun, was er angekündigt hatte, und die Stadt aus dem Deutschen Reich auszugliedern? Sie schloss die Kammertür hinter sich ab und steckte den Schlüssel fort, damit Niklas sicher war.

Meleon unterhielt sich mit Isabells Vater über das ungewöhnlich milde Wetter und gab ihm eine neue Sorte Pralinen zum Probieren.

„Hm, wie köstlich“, sagte Dr. Fechter. „Spekulatius, wenn mich nicht alles täuscht?“

Meleon schien geschmeichelt, packte noch eigens ein Tütchen für die Frau Gemahlin ein, brachte den Doktor zur Tür und wollte eben aufschließen, da bemerkte er irgendetwas Beunruhigendes, jedenfalls schob er Isabell hinter sich.

Er sagte kein Wort, beobachtete nur die dunkle Straße und hielt eine Hand ausgestreckt, wie jemand, der im nächsten Augenblick ein Messer ziehen will.

Dr. Fechter langte ganz ruhig in seine Arzttasche und brachte eine Pistole zum Vorschein.

„Geh bis in den Gang zurück“, sagte er leise zu Isabell. „Oder überzeuge dich besser, ob die Hintertür abgeschlossen ist. Mir scheint, das ist die Stille vor dem Sturm.“

Isabell lief in die Küche. Am Küchenfenster war ein Schatten.

Vor Angst musste sie schlucken. Schreien konnte sie nicht, so bedrohlich war diese Wolke aus Dunkelheit. Rückwärts wich sie zurück, prallte schmerzhaft gegen den Türrahmen, drehte sich um und rannte nach vorne.

„Meleon!“

Doch vorne im Laden war nur ihr Vater. Er hatte den Lauf seiner Waffe auf die Theke gestützt und behielt die Straße im Auge.

„Wo ist er?“, wisperte sie.

Ihr Vater wies schweigend nach draußen.

Isabell merkte, wie sie sich die Fingernägel in die Handflächen grub, öffnete die Fäuste unter Anstrengung, und ging ganz langsam durch den Gang nach hinten.

Der Schatten verdunkelte immer noch das Fenster.

Fieberhaft überlegte sie, was sie gegen eine solche Bedrohung zum Einsatz bringen sollte, dann fielen ihr die Sphären ein. Sie überlegte noch, ob die Kugeln von allein zu ihrem Schutz erscheinen würden, so wie beim Angriff der Panther, da zerrissen Blitz und Donner gleichzeitig Stille und Dunkelheit. Das Haus bebte. Ziegel prasselten vom Dach.

Als sich Isabells Augen vom grellen Licht erholt hatten, sah sie draußen ein sonderbares Schauspiel: zwei Schatten schienen einander zu belauern. Mal drang der eine vor, dann der andere. Sie umkreisten einander, wichen zurück und sprangen wieder vorwärts, wie in einem makabren Tanz.

Sie ging bis ans Fenster, um die Gestalten besser unterscheiden zu können, doch waren beide gleich gesichtslos, riesenhaft Schemen aus Dunkelheit, zu deren Füßen irgendwelche Dinge im Hof lagen: Kissen oder Kleidungsstücke. Isabell presste die Nase gegen die Scheibe.

Es waren keine Kissen.

Reglos hingesunken lagen dort die Mitglieder des Kabinetts, manche wie Schlafende, andere so unnatürlich verdreht, dass es Isabell die Luft abdrückte, sie anzusehen.

Entschlossen riss sie die Hintertür auf.

Die Schatten hielten nur kurz in ihrem makabren Spiel inne, um einander dann noch enger zu umkreisen.

Isabell lief zu einem der Minister – sein Name wollte ihr nicht einfallen und das machte es noch furchtbarer – warf sich neben ihm auf die Knie und schüttelte ihn, obwohl sie längst begriffen hatte, dass er sich nicht mehr regen würde.

Er war schwer und schlaff in ihrem Griff.

Sie kroch zu einem der anderen Minister und begann zu zittern, als sie begriff, dass sein Hals gebrochen war.

Über ihr zog sich einer der Schatten zusammen und wollte auf sie herabstoßen, doch plötzlich hörte sie das schon vertraute Sirren, die Sphären glitten heran und der Schatten zog sich eilends zurück. Im Schutz der bläulichen Kugeln kroch sie weiter, erreichte das Zelt, in dem Meleon die Minister untergebracht hatte, und fand dort weitere Tote. Doch sie entdeckte weder Rochas noch die beiden Prinzen.

Zitternd vor Aufregung sah sie zu den Schatten hinauf, die über ihr rastlos in Bewegung waren. Dann meinte sie, im Haus etwas umfallen zu hören und rannte nach drinnen. In Meleons Schlafzimmer schien jemand mit Gegenständen um sich werfen. Isabell hörte sie von den Wänden abprallen und auf den Holzdielen aufkommen. Und dazu kreischte der König so hysterisch, dass sich Isabell sich das Nudelholz schnappte und damit die Treppe hinauf hastete.

Als sie die Tür aufriss, stand der König unter dem zwölfarmigen Kerzenleuchter, der von der Decke hing, und schlug voller Wut mit einer weißen Stoffserviette nach etwas, was dort schaukelte.

Es war ein Äffchen.

Im ersten Augenblick fand Isabell es possierlich, doch dann fletschte es die Zähne und fiel in das unartikulierte Kreischen des Königs ein, ehe es plötzlich aufs Bett sprang und darunter verschwand. Isabell beugte sich vor und stieß mit dem Nudelholz nach dem ungebetenen Gast. Hinter ihr japste der König, unter dem Bett gab das Äffchen keckernde Laute von sich. Dann klappte ein Riegel.

Rasch griff Isabell nach vorne und zog die Truhe heraus, doch der Affe hatte den Deckel schon aufgeklappt, fischte ein Beutelchen heraus und sprang damit wieder zum Kronleuchter hinauf. Dort öffnete er den Beutel, spähte hinein, war mit einem zweiten Satz am Fenster, drehte den Riegel und ließ sich vom Fensterbrett auf die Straße fallen.

Isabell sah ihn in die nächste Gasse verschwinden, versuchte, die Kugeln auszuschicken, doch sie reagierten auch diesmal nicht auf ihre Befehle. Also lief sie zum rückwärtigen Fenster und schrie Meleons Namen.

Sekundenlang kreisten die Schatten weiter umeinander, doch dann lösten sie sich ganz unvermittelt von einander und einer von beiden glitt über das Hausdach hinweg. Der andere zog sich zusammen und Isabell fühlte einen warmen Lufthauch, als er an ihr vorbei durchs Fenster glitt und sich vor dem König zu Meleons vertrauter Gestalt zusammenzog.

Der König taumelte rückwärts, während Isabell sich nach vorne warf und Meleon mit beiden Armen umschlang.

„War das Noshar? Er hat die Minister getötet und…“

Meleon legte ihr die Fingerspitzen auf den Mund.

„Ich weiß und ich fürchte, das war nichts als ein Ablenkungsmanöver. Was ist hier passiert? Warum hast du eben nach mir gerufen?“

„Ein Ablenkungsmanöver?“, fragte Isabell schockiert. „Du meinst, er wollte den Beutel? Da war ein kleiner Affe…“

In Meleons Augen glommen Funken auf. Er löste Isabells Hände von seinem Gewand, war mit zwei schnellen Schritten um das Bett herum und sah dann mit vollkommen ausdrucksloser Miene auf die offene Truhe.

„Ich hätte es sofort hätte begreifen müssen“, sagte er nach einigen Sekunden. „Er hat mich nur angegriffen, um mich abzulenken. Ein Sekoy in Affengestalt hat unterdessen den Stein von Aligistra gestohlen. Damit hat unser Feind die einzige Waffe in die Hand bekommen, mit der wir ihn hätten zurückdrängen können.“ Er klappte den Deckel der Truhe mit der Schuhspitze zu und laut klackend schlossen sich die Riegel. „Nun steht uns ein Kampf bevor, den wir nicht gewinnen können.“

„Nicht gewinnen?“, fragte der König mit dumpfer Stimme. „Nicht gewinnen? Ich habe einen Hofzauberer und ich erwarte, dass er Siege selbst dann noch möglich macht, wenn die Lage aussichtslos erscheint. Wozu sonst bräuchte ich ihn, Meleon? Sagt mir das!“

Meleon verneigte sich ein zweites Mal.

„Das Einzige, was ich nun noch tun kann, ist das Leben und die Unversehrtheit Eurer Majestät sicherzustellen.“

„Dann tut das“, sagte der König unwirsch. „Und bringt mir eine erlesene Auswahl feinster Pralinen, starken Kaffee und ein weicheres Kissen als dieses hier! Wenn uns tatsächlich eine Schlacht bevorsteht, gedenke ich nicht, im Vorfeld derselben irgendwelche Einschränkungen hinzunehmen.“

„Sehr wohl“, sagte Meleon, verbeugte sich das dritte Mal, nahm Isabell an der Hand und verließ mit ihr das Zimmer.

Unten in der Küche streichelte er kurz ihre Hand.

„Sei so gut und nimm irgendeine Schachtel Pralinen, das gewünschte weiche Kissen und die Tasse starken Kaffee und halte mir meinen Herrn und König so lange vom Leib, bis ich mich um seine Minister gekümmert habe.“

Isabell fasste nach seinem Ärmel.

„Sie sind alle tot, nicht wahr?“

„Oh, nein, nicht alle. Rochas ist wie so oft in wichtigen Angelegenheiten unterwegs und ich bin sicher, dass wir Lord Meredis retten können. Damit bleiben dem König seine beiden Söhne, zwei Minister und sein Hofmagier.“ Meleon lächelte sarkastisch. „Das wird immerhin die ermüdenden Kabinettssitzungen in Zukunft deutlich verkürzen.