Verwandlung



Meleon blieb sieben Tage fort.

Niklas wurde immer aufgeregter. Blass und unglücklich erfüllte er seine Aufgaben, aß nur, wenn ihn Isabell dazu nötigte, und sie argwöhnte, dass er nachts keinen Schlaf fand.

Am zweiten Abend begann sie, Pralinen zu machen, denn im Laden wurde die Ware knapp. Sie nahm das Oktavheft, in dem Meleon in seiner schönen, sehr großen Schrift Übungsrezepte für sie vermerkt hatte, fertigte nach seinen Angaben Buttertrüffel, überzog schon fertig kandierte Früchte mit Schokolade und wagte sich dann an etwas Neues. Auf der nächsten Seite des blauen Heftes stand Möhrenkonfekt. Der Lebensmittelhändler hatte am Morgen Möhren mitgebracht. Isabell überzeugte sich, dass auch alle anderen Zutaten zur Hand waren, säuberte die Möhren, raspelte sie auf der stählernen Reibe, kochte sie in einem Gemisch aus Sahne, Butter und Zucker, fügte Nelkenpulver, Zimt, Kardamom und Zitronenschale hinzu, rührte, bis die Masse zäh am Löffel haften blieb und strich sie dann auf ein gefettetes Blech. Ein nahrhafter und doch zarter Duft zog durch die Küche.

Isabell leckte den Spatel ab.

Köstlich.

Das Rezept schrieb vor, die Masse bis zum folgenden Tag trocknen zu lassen und sie dann zu schokolieren. Aber vorne im Laden fehlte an allen Ecken und Enden frische Ware. Statt der üblichen Pyramiden trugen die Silberplatten durchgehend nur noch eine Lage Pralinen und überall klafften Lücken. Also stellte Isabell eine Schüssel kaltes Wasser bereit, befeuchtete die Hände und begann, Kugeln zu formen. Nachdem die gesamte Masse verarbeitet war, tauchte sie die kleinen, orangeroten Bällchen in dunkle Schokolade und setzte sie in Papiermanschetten, ohne sie erst auf dem Trockengitter abtropfen zu lassen.

Am Mittag des folgenden Tages war das Möhrenkonfekt ausverkauft. Am Abend versuchte sich Isabell an Cremetüllen. Vierzig fertig gerollte Tütchen aus feinstem Hippengebäck lagen in Dosen zwischen Pergament aufgeschichtet. Isabell bereitete nach Rezept Nummer 27 im Heft Schokoladensahne und füllte die Hälfte der Tüllen. Für die andere Hälfte machte sie Tortencreme nach Rezept Nummer 19 und arbeitete tropfenweise frisch gebrühten, sehr starken Kaffee ein.

Niklas betrachtete die fertigen Tütchen verzweifelt.

„Sie sind wunderbar“, sagte er. „Aber was soll ich mit vierzig davon? Ich bräuchte mindestens hundert. Oder noch besser einige Pfund Pralinen dazu.“

Isabell sah auf die beiden Tabletts, die sich in den prachtvollen Glasvitrinen tatsächlich armselig ausnehmen mussten.

„Damals, als ich mich so unvermutet… verwandelt habe, da bist du zum Haus meiner Eltern gelaufen und hast ihnen irgendetwas weisgemacht. Könntest du das auch heute?“

Niklas wiegte skeptisch den Kopf hin und her.

„Je mehr Personen Ihre Abwesenheit bemerken, desto schwieriger ist dieser Zauber“, sagte er. „Aber ich glaube, ich werde es hinbekommen.“


Isabell blieb bis weit über Mitternacht und fürchtete sich auf dem Heimweg dann so sehr, dass sie beinah geweint hätte, denn die Laternen waren um diese Zeit längst gelöscht und die Straßen stockfinster. Sie tastete sich an Backstein und rauem Putz entlang, stolperte immer wieder und war froh, als sich die Wolken vom aufgehenden Mond zurückzogen, der beinah sein volles Rund zeigte und ihr für den Rest ihres Weges ein wenig fahles Licht und bläuliche Schatten gönnte. Niklas hatte ihr den Hausschlüssel besorgt, ganz als sei das ein Kinderspiel, und so fand niemand heraus, wann sie wirklich gekommen war.

Ein zweites Mal wagte sie es nicht, so lang in Meleons Küche zu bleiben und grübelte einen ganzen Abend darüber nach, wie sie in kurzer Zeit genügend Konfekt herstellen sollte.

Sie verfiel schließlich darauf, mehrere dünne Biskuitböden zu backen, sie mit verschiedenen Cremes zu bestreichen, zu rollen und in Scheiben zu schneiden. Biskuit war leicht herzustellen und schnell gebacken und ebenso leicht weiter zu verarbeiten. Einige füllte sie auch mit Meleons selbstgemachten Marmeladen und ließ sie im Ofen noch einmal mit einer dünnen Zuckerkruste knusprig werden. Als sie fertig war, betrachtete sie stolz ihr Werk: Neun Tabletts, auf denen sich appetitliche kleine Rollen türmten. Niklas zeigte sich beeindruckt und auch die Kundschaft nahm diese Neuerung wohlwollend auf. Trotzdem fühlte sich Isabell wie beim Tanz auf einem Kreisel, der sich immer schneller dreht, denn sie vermochte es einfach nicht, die Nachfrage zu befriedigen.

Ein Gutes hatte es: Ihr blieb wenig Muße, sich um Meleon Sorgen zu machen.


Am siebten Abend stand sie in der Küche und setzte Butterkekse mit Walnussnougat zusammen, da kratzte es an der Hintertür. Sie wischte sich die Hände ab und öffnete, bereit, unwillkommenen Besuchern einen kräftigen Schlag zu versetzen, da taumelte Meleon über die Schwelle. Geistesgegenwärtig drückte sie die Tür hinter ihm zu und schloss ab.

Er hielt sich an der Tischkante. Isabell hatte erwartet, dass er als Dashân zurückkommen würde und war jetzt gleichzeitig erleichtert und besorgt. Er schwankte wie betrunken. Sein Atem ging schwer. Seine Kleider waren fremd und passten ihm nicht.

„Meleon?“

Sie erschrak, als sie seine Augen sah. Die Pupillen waren noch geschlitzt, als sei die Rückverwandlung nicht ganz vollendet worden. Aus seinem Mund kam ein Fauchen. Dabei wurden spitze Eckzähne sichtbar. Mit einer ungelenken Bewegung schob er sie zur Seite und stolperte zur Treppe. Sie folgte ihm und musste ihm Halt gewähren, sonst wäre er gestürzt. Die letzten Stufen nahm er auf allen Vieren. Sie half ihm bis zum Tisch, wo er erst einmal alles beiseite fegte, mit unsicheren Fingern die Feder in die Tinte tauchte, die aus dem umgefallen Tintenfässchen floss, und auf das nächstbeste Stück Papier schrieb:


2 TL Mohn

1 TL Zucker

Msp. Muskat

Stück kand. Engelwurz

Msp. Alraune pulv.

Mörser


Isabell überflog die Liste und rannte nach unten, um die Sachen zusammenzusuchen, da kam Niklas von vorne.

„Etwas stimmt nicht“, sagte Isabell zu ihm. „Meleon braucht sofort verschiedene Sachen und ich weiß nicht, wo ich Engelwurz und Alraune finde. Er hat Katzenaugen…“

Niklas riss eine Schublade auf.

„Hier ist Engelwurz. Alraune hole ich! Schnell! Wenn die Verwandlung misslungen ist, bleibt uns nur wenig Zeit.“

Binnen weniger Minuten hatten sie die Zutaten beisammen. Niklas gab alles in den Mörser und zerrieb es mit energischen Bewegungen zu einer schwärzlichen Paste.

„Wir brauchen einen silbernen Löffel.“

Isabell nahm einen vom Abtropfbrett.

„Ich gehe damit schon einmal nach oben. Mir ist nicht wohl damit, ihn in diesem Zustand allein zu lassen.“

Meleon kauerte auf dem Bett. Aus schwer deutbaren Katzenaugen sah er ihr entgegen.

„Niklas hat die Paste fast fertig“, sagte Isabell, um ihn zu beruhigen.

Er schüttelte sich. Dabei blitzte etwas im Licht. Es war ein sonderbar geformter Anhänger mit einem Edelstein. Isabell streckte die Hand danach aus, doch Meleon fauchte und entblößte die scharfen Fänge.

Niklas kam die Treppe herauf gerannt.

„Hier ist es!“, rief er. „Es ist fertig!“

Isabell gab ihm den silbernen Löffel und er maß die Menge genau ab. Er wollte Meleon den Löffel in den Mund schieben, aber Meleon nahm ihn selbst und leckte ihn ab. Seine Zunge war rosig wie die einer Katze.

Niklas sah ihn ängstlich an.

„Wirkt es? Habe ich es richtig gemacht?“

Meleon begann zu zittern. Sein Blick richtete sich zur Decke. Er nieste.

Dann zogen sich die länglichen Pupillen zu schwarzen Punkten zusammen. Er betastete seinen Mund.

„Meleon?“, fragte Isabell noch einmal.

„Ja, Meleon“, sagte er und seine Stimme hatte noch etwas vom Fauchen des Dashân. „Das war knapp. Verflucht sei Noshar!“

Niklas umklammerte den Mörser.

„Du bist Noshar begegnet?“

„Offensichtlich. Sonst wäre die Sache nicht so furchtbar schief gegangen.“

„Aber er ist tot!“

Meleon schüttelte den Kopf.

„Nein. Er ist nicht tot. Er ist lebendig und voller Zaubermacht, wie ich mich selbst überzeugen durfte.“ Er beugte sich höflich über Isabells Hand. „Vielen Dank für Ihr schnelles und besonnenes Handeln! Frauen wie Sie sind rar.“

Isabell errötete und blieb eine Antwort schuldig.

„Niklas! Mach uns heiße Schokolade!“, befahl Meleon. „Wir können alle drei ein Tässchen voll vertragen.“


Ein herbsüßer Duft zog durch Meleons Zimmer.

Isabell sog diesen tröstlichen Geruch ein. Schon nach dem ersten Schluck fühlte sie sich zuversichtlicher.

„Wo sind Sie gewesen?“, fragte sie. „Und wer ist Noshar?“

Meleon lächelte.

„Zwei kleine, kurze Fragen und doch nicht so leicht zu beantworten. Noshar ist ein Magier. Er war früher der Schüler des großen Meisters Lisho, dem größten der vier Zauberer unseres Reiches. Nach Lishos Ermordung schloss er sich den Fisary an – den Rebellen – oder Freiheitskämpfern, je nachdem, welche Lesart man bevorzugt. Soweit wir nun wissen, ist er neben mir der einzige überlebende große Magier. In unserer Heimat gibt es zwar Zauberer im Überfluss, aber sie widmen sich der alltäglichen Magie. Noshar war gemeinsam mit mir Mitglied der Schule der Macht. Und wir erwarben Macht, jeder auf seine Weise. Unsere Lehrmeister achteten sehr genau darauf, uns jeweils Verschiedenes zu lehren, denn jeder durfte nur ein Achtel allen verfügbaren Wissens besitzen – als Großmagier ein Viertel. So kontrollierten sich die vier Großen gegenseitig, damit keiner den König stürzen und die Krone an sich reißen konnte. Aber alles sollte ganz anders kommen.“ Er sah in seine Tasse. „Magier sind arrogant. Sie verlassen sich zu sehr auf ihre Fähigkeiten. Diese Lektion habe ich unter Blut und Tränen als Letzte gelernt. Dann war die Welt, die ich kannte, für immer dahin.“

Isabell legte Niklas die Hand auf den Arm, denn schon wieder waren seine Wangen nass. Meleons bemerkte es und schickte ihn nach unten, ein spätes Abendessen zuzubereiten.

„Niklas trägt schwer an seinen Erinnerungen“, sagte er. „Wir nahmen ihn ins Haus, nachdem seine Eltern tot waren, und nach nur zwei Jahren verlor er noch einmal fast alle, die sein Leben ausmachten. Daher hängt er umso mehr an mir. Aber ich höre in meiner eigenen Stimme zu viel Sentimentalität.“ Er stand auf. „Ich werde Sie nun nach Hause bringen. Es ist spät und Ihre Eltern werden sich nicht mit Ausreden abspeisen lassen. Ich will nur schnell ein wenig Konfekt einpacken.“


Neben Meleon durch dunkle Straßen zu laufen, war nicht halb so beängstigend, wie nachts allein unterwegs zu sein. Trotzdem sie sein Gesicht kaum erkennen konnte, vermittelte er ein Gefühl der Ruhe und Selbstsicherheit. Erst als sie ein erleuchtetes Fenster passierten, fiel ihr auf, dass er noch die langen Gewänder und die eng anliegende Kappe trug, die er nach seiner Rückverwandlung angelegt hatte.

„Ihre Kleider, Herr Meleon!“

„Die Kleider eines Hofmagiers“, erwiderte er.

„In unserem Haus werden sie... verschroben wirken.“

„Nicht im Geringsten“, behauptete er.

Kurz vor der Haustür fühlte Isabell, wie es ihr vor lauter Nervosität die Kehle zuschnürte. Ihre Eltern würden außer sich sein. Nicht nur, dass sie spät kam, sondern in Begleitung des Mannes, dessen Umgang sie ihr ausdrücklich verboten hatten. Würden sie in Zukunft noch an die Ausrede mit dem Französischunterricht glauben? Die fremdartigen Kleider würden alles noch schlimmer machen.

„Danke für die Begleitung, Herr Meleon! Ich denke, es ist besser, wenn Sie nicht noch herein schauen. Es geht auf Mitternacht zu.“

„Umso mehr“, sagte er freundlich.

Sie wollte nach dem Schlüssel kramen, da hob er die Hand und die Tür schwang vor ihnen auf. In der Halle flammten die Gaslampen auf.

Er machte eine wischende Geste. Überall im Haus flogen die Zimmertüren auf. Die große Standuhr schlug Mitternacht, obwohl der Minutenzeiger noch ein gutes Stück von der Zwölf entfernt war. Das Glockenwerk klang lauter und melodischer als sonst.

Ehe sich Isabell von ihrem Schrecken erholen konnte, kamen ihre Eltern und mehrere Dienstboten von oben. Ihr Vater war noch angekleidet. Ihre Mutter trug ihr Nachtgewand und darüber einen Morgenrock, näherte sich Meleon aber trotz dieser Unschicklichkeit, als würde sie an einem unsichtbaren Faden herangezogen. Meleons Finger schnippten. Wie aufgezogene Spielfiguren, die man jäh anhält, kam alles zum Stehen. Isabells Vater verharrte mit anklagend erhobener Faust und sah ins Leere. Das Zimmermädchen schwebte, mitten im Schritt gefangen, über den Stufen. Meleon zog unter seinem Gewand eine Holzschachtel hervor. Der Deckel sprang von allein auf. Isabell starrte auf die Pralinen, die in silbernen Papiermanschetten saßen.

„Was haben Sie vor, Herr Meleon?“

Seine Augen funkelten.

„Ich kündige hiermit Zurückhaltung und Inkognito auf, jedenfalls, was dieses Haus anbelangt.“

Das Licht der Gaslampen färbte sich golden. Der Teppich wuchs zu doppelter Florhöhe empor und trug auf einmal ein Wappen. Die Standuhr wandelte ihre Gestalt. Die Glastür öffnete sich und aus dem dunklen Inneren flogen schimmernde Sphären aus sich drehenden konzentrischen Ringen.

„Meleon!“, protestierte Isabell.

„Zu spät“, sagte er. „Betrachten wir hiermit meine Visitenkarte als abgegeben.“

Auf weiteres Fingerschnippen trat ein jedes Mitglied des Haushalts vor, nahm mit leerem Blick eine Praline und steckte sie sich in den Mund.

Dann beschrieb Meleon eine seitliche Bewegung mit dem Zeigefinger und als sei es fein säuberlich einstudiert worden, sank einer nach dem anderen vor ihm auf die Knie.

Meleon ergriff Isabells Hand.

„Danke für die Gastfreundschaf, die ihr mir stets und unter allen Umständen gewähren werdet“, sagte er. „Im Gegenzug gewähre ich Fürsorge und Obhut. Erwacht nun zu eurem alltäglichen Leben, doch wisst, dass ich Meleon bin, in dessen Diensten ihr fürderhin steht!“

Isabells Vater schüttelte sich, wie jemand, der bittere Medizin geschluckt hat. Plötzlich lief alles durcheinander.

Meleon schnalzte.

„Aber, aber, weshalb denn diese Konfusion?“, fragte er. „Ich bin sicher, ein jeder hat Aufgaben, die es zu erfüllen gilt. Man will uns gewiss ein festliches Abendessen vorsetzen und sich für den Anlass passend kleiden.“

Er ging zur Haustür und wie ein Schwarm schillernder Vögel flogen die Sphären hinaus.

„Sie werden nun über diese Familie und dieses Haus wachen“, sagte er zu Isabell. „Schaden kann nicht eindringen, es sei denn Noshar erschiene höchst selbst.“

Isabell kam es vor, als hebe sich ein Schleier, der sie davon abgehalten hatte, einzugreifen. Sie holte Meleon an der Haustür ein und versetzte ihm eine weithin hallende Ohrfeige.

„Was fällt Ihnen eigentlich ein? Habe ich Sie gebeten, meine Familie zu behexen? Heben Sie diesen Zauber sofort wieder auf!“

„Ich denke gar nicht daran. Es wäre auf Dauer alles viel zu mühsam und letztlich gefährlich. Phineas könnte auf Sie aufmerksam werden. Da ist es schon wünschenswert, dass Ihr Elternhaus beschützt wird.“

„Ich rede nicht von den flirrenden Kugeln, sondern von den Pralinen. Was bewirken sie?“

„Dass es künftig keine Schwierigkeiten geben wird, wenn Sie länger ausbleiben. Man kennt mich nun hier und wird freundlich eingestellt sein, auch wenn ich die eine oder andere Zumutung ausspreche.“

„Also ist es wahr! Sie sind ein dunkler Magier, wie Phineas behauptet.“

Meleon lächelte.

„Dunkel? So kann man es auch nennen.“

„Er hat mich gewarnt“, sagte Isabell. „Er hat mich gewarnt und ich habe ihm gesagt, er soll sich davon scheren! Ich habe mir Sorgen gemacht, als Sie fort waren…“

Meleons Lächeln wurde breiter.

„So soll es sein“, sagte er. „Und nun wollen wir essen!“

Der Esstisch war mit dem besten Geschirr und Silber gedeckt. Unter Meleons Blick wandelte sich die Farbe der Kerzenflammen zu Gold.

Isabells Eltern hatten sich ausstaffiert wie zu einem Ball. Sie luden Meleon mit Wärme ein, doch Platz zu nehmen. Isabells Vater unterhielt den Gast mit Anekdoten aus seiner Praxis. Meleon zeigte sich interessiert und fragte die Hausherrin dann nach ihren liebsten Beschäftigungen. Man behandelte ihn am Tisch wie einen geschätzten Freund der Familie. Nur Isabell starrte ihn wütend an und fühlte sich versucht, ihm den Inhalt der Sauciere in den Schoß zu gießen.

Sie fuhr zusammen, als ihr Vater sagte: „Ich hab es so verstanden, dass Sie ein Magier sind, Herr Meleon. Ist das nicht ein recht strapaziöser Beruf?“

„Bisweilen“, sagte Meleon. „Doch er besitzt auch seine guten Seiten. Ich meinerseits habe den allergrößten Respekt vor Männern, die sich der ärztlichen Tätigkeit widmen. Heilen ist eine Kunst, die nahe an die Magie grenzt. Uns verbindet dementsprechend einiges. Das bringt mich auf den Anlass meines Besuches, Dr. Fechter. Da wir hier so nett beisammen sitzen, scheint die Gelegenheit günstig, Sie mit meinem Anliegen zu belästigen. Kurz gesagt würde ich hiermit gerne um die Hand Ihrer Tochter anhalten. Was denken Sie darüber?“

„Warum nicht?“, sagte Isabells Vater gutgelaunt.

Isabell nahm die Sauciere. Sie hielt sich nicht damit auf, sie über Meleons Schoß auszugießen, sondern kippte ihm die warme Soße direkt ins Gesicht.

„Das haben Sie sich ja fein ausgedacht! Aber da haben Sie wohl vergessen, Ihre letzte Praline zu verteilen!“

„Isabell“, sagte Mutter schockiert. „Wie kannst du Herrn Meleon so vor den Kopf stoßen?“

Meleon stand auf. Ihm troff fettige Soße vom Gesicht auf den Kragen.

„Ja!“, sagte er. „Ich habe die letzte Praline nicht vergeben. Weil es Unheil bringen würde. Gefühle kann man nicht erzwingen. Versucht man es trotzdem, erntet man böse Frucht. Und es gibt Geschenke, die bitter schmecken, wenn man sie jemandem abpresst.“

„Und was erwarten Sie nun?“, fragte Isabell, außer sich vor Zorn. „Dass ich Ihnen um den Hals falle und sage, ich wolle selbstverständlich freiwillig einer Heirat mit Ihnen zustimmen? Eher schlucke ich einen Kachmar, verwandle mich in eine dieser Katzen und zerfetzte Ihnen das Gesicht!“

„Isabell“, mahnte nun auch ihr Vater, aber Meleon lächelte.

„Da ist nun das Feuer, das man braucht, um große Schokoladen zu machen“, sagte er. „Ein Feuer, dessen Wärme mich anzieht – das gebe ich zu. Ich bin mir sogar bewusst, dass ich mir daran die Finger verbrennen könnte. Aber so ist das nun einmal, wenn man sich den Flammen nähert.“ Er wischte sich das Gesicht ab. „Bitte verzeihen Sie mir also, dass ich in meiner Ungeduld so frei war, die Zustimmung Ihrer Eltern zu suchen, noch ehe ich mit Ihnen gesprochen hatte.“

„Das hätte auch nichts geändert“, sagte Isabell. „Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie das Haus verlassen und es niemals mehr betreten würden.“

Meleon verbeugte sich.

„Also muss ich gehen“, sagte er. „Sie hingegen sind in meinem Haus jederzeit willkommen.“ Er bedankte sich bei Isabells Eltern für den schönen Abend, die sichtlich betreten darum baten, er möge doch bleiben, aber er schüttelte den Kopf. „Der höchste Befehl in diesem Haus soll der Ihrer Tochter sein“, sagte er. „Und danach der meine, ganz gleich, wo ich mich befinde.“

„Dann befehle ich, dass Sie ohne weitere Umschweife gehen!“, fauchte Isabell.

Und Meleon gehorchte.