Straßenkampf



Kurz nach Sonnenaufgang kletterte Isabell hundemüde die schmalen Stufen bis zum alten Wehrgang hinauf. Natürlich hatte sie nicht schlafen können. Dabei würde sie jetzt alle ihre Kraft und Aufmerksamkeit benötigen. Sie hätte gerne Niklas an ihrer Seite gehabt, aber sie hatte ihm befohlen, im Laden zu bleiben, um dort aufzupassen.

Als sie ins Morgenlicht hinaustrat, stand über ihr auf der Zinne Meleon und sah mit einem Fernrohr zu den Hügeln im Norden.

Bewaffnete machten ihr respektvoll Platz, als sie bis zur Brustwehr ging. Meleon streckte eine Hand aus und zog sie zu sich empor. Dann stand sie dort oben im kühlen Nebel neben ihm und sah auf eine Welt der Wiesen und Wolkenbänke hinab, die idyllisch und friedlich wirkte. Meleon reichte ihr das Fernrohr und wies nach Nordosten. Seine behandschuhte Hand hielt sie, während sie zu den Hügeln blickte und das Fernglas noch ein wenig weiter auseinanderschob.

Wie Wellenkräuseln auf der Oberfläche eines Gewässers bewegte sich etwas im Dunst, der über Wald und Feldern lag. Isabell justierte noch einmal den Ring und begriff mit einem plötzlichen Zusammenziehen ihres Magens, was sie sah: Speerspitzen, die über den Dunst hinaus ragten.

Eine Armee zog heran, die im Nebel weitgehend unsichtbar blieb. Nur gelegentlich blitzte etwas metallisch im rötlichen Morgenlicht. Die Speerspitzen hingegen waren schwarz, als seien sie in Gift getaucht.

Der Hauptmann der Stadtwache gab seinen Soldaten ein Handzeichen und die sechs alten Kanonen wurden auf ihren Lafetten nach vorne gestoßen. Schwer rollten die Kugeln in die schwarzen Rohre.

Isabell atmete heftig ein und die Luft war so kalt, dass sie husten musste.

„Wo ist Rochas? Wo sind die anderen?“, fragte sie atemlos.

„Rochas hält das Südtor. Finyon hat im Rathaus Stellung bezogen. Und Florindel ist bisher nicht wieder aufgetaucht. Deinem Vater habe ich das Osttor anvertraut.“

„Und das vierte Tor? Wer verteidigt die Stadt gegen Westen hin?“

„Der Sohn des Bürgermeisters. Eblon mag wissen, ob er dem Kampf gewachsen ist! Aber er besitzt Mut und Entschlossenheit.“

Eine weiße Taube flatterte über Isabell hinweg, landete zu Meleons Füßen und sagte mit melodischer Stimme: „Lord Rochas lässt Euch ausrichten, dass der Feind über die Hügel heranzieht und es 300 Mann sein mögen.“

„Sag ihm, so viele dürften es auch auf unserem Abschnitt sein! Segen und Kuss seiner Klinge! Sag ihm das!“

Die Taube flog auf.

Meleon löste seinen Stab aus der Gürtelschlaufe, drückte die Lippen auf den Edelstein an der Spitze, und violette Funken spritzten in alle Richtungen.

„Marach Meleon, maristan ma Meleonda, gâ!“, rief er und seine Stimme hallte wie Donnergrollen bis zu den Hügeln.

Der Nebel geriet in Bewegung, Sonnenlicht brach zwischen den Wolken hervor und spiegelte sich auf den Helmen und Klingen der heranziehenden Feinde.

Einen Augenblick lang war es vollkommen still.

Dann sprach eine dunkle Stimme aus dem Nebel: „Nekmarach, naî Meleon! Starush! Fisary kohorá!“

Plötzlich brüllte es von allen Seiten rings um die Stadt: „Fisary, kohorá!“

„Ah, schluckt den Staub alter Gräber!“, sagte Meleon ganz ruhig und schob seinen Stab wieder zurück in die Lederschlaufe. Er sprang mit Isabell auf den Wehrgang hinunter.

„Hauptmann! Feuert mitten hinein in das elende Pack!“

Die Soldaten hatten nur darauf gewartet, die Lunten entzünden zu können. Die Kanonen waren seit 80 Jahren nur noch für Böllerschüsse verwendet worden und nun…

Isabell presste die Hände auf die Ohren. Das Krachen war entsetzlich. Pulverdampf mischte sich mit Nebelschwaden. Die Kanonen rollten auf ihren Lafetten zurück und die äußerste, rechte, hätte Isabell fast umgerissen. Sie hielt sich am Mauerwerk und starrte hinab in den brodelnden Dunst. In die anrückende Linie des Feindes war eine breite Bresche geschlagen.

Doch die Angreifer rückten unbeirrt vor.

Der Hauptmann ließ nachladen. Meleon zog sich wieder auf die Zinnen und sah zu den Hügeln, als erwarte er etwas, das sich dort zeigen würde.

Dann sirrte von unten ein Pfeil heran. Bis Isabell es recht begriff, hatte Meleon eine wischende Bewegung gemacht und das Geschoss drehte im Flug, entzündete sich und flog dorthin zurück, wo es abgeschossen worden war.

Kurz hintereinander landeten drei weiße Tauben vor Isabell und berichteten von heranziehenden Truppen. Meleon schickte sie mit Angriffsbefehlen zurück und behielt die Hügel im Auge.

Von der vordersten Linie des Feindes lösten sich plötzlich merkwürdige Gestalten und bewegten sich zielstrebig auf die Mauern der Stadt zu. Isabell hob das Fernrohr ans Auge.

Wie viel zu große, stumpfnasige Eidechsen eilten die Wesen durchs Gras. Ein jedes besaß deutlich mehr als Manneslänge und schien eine Panzerung zu tragen. Isabell erkannte metallische Spitzen auf den Echsenrücken.

„Sind das Sekoy?“, fragte sie Meleon.

Er schüttelte den Kopf. Kühl sah er auf die Wesen herab, die bedenklich schnell die Stadtmauer erreicht hatten.

„Das sind Kampfechsen, wie man sie auf den Inseln von Arush züchtet. Einmal nach vorne geschickt, töten sie alles, was ihren Weg kreuzt. Sie können nicht zwischen Freund und Feind entscheiden. Nichts flößt ihnen Furcht ein. Und sie können Mauern erklettern.“

Er hatte seinen Stab gezogen, schwang ihn einmal über dem Kopf und drehte aus dem Handgelenk die Spitze nach unten. Feuer strich außen an der Mauer entlang. Über den Zinnen waberte die Luft in der plötzlich aufsteigenden Hitze. Echsen verloren den Halt, stürzten. Andere eilten weiter aufwärts, manche schon in Flammen und doch immer noch zielstrebig.

„Sie sind nur am Bauch verletzlich“, schrie Meleon. „Oder zielt auf die Augen!“

Kurz darauf huschten die ersten Echsen über die Mauerkrone. Soldaten schrien und wichen vor den Tieren zurück, die scharf nach angesengtem Fleisch rochen und über deren Panzerung Flammenzungen leckten. Eins der Wesen glitt vorwärts, bekam ein Bein zu packen, riss den Soldaten um und zermalmte ihm mit einem Biss den Kopf.

Isabell rang nach Atem, aber sie schrie nicht. Sie hob die Waffe des Toten auf und stieß damit nach der Bestie. Die Hellebarde war viel schwerer als erwartet. Sie verfehlte das Tier und musste darüber hinweg springen, um nicht zu stürzen. Dann war sie plötzlich von den blau schimmernden Sphären umringt, es gab das schon vertraute sirrende Geräusch und die Echse lag still.

„In die Augen stechen, mein Schatz! Das ist am einfachsten“, rief Meleon, während er an ihr vorbei wirbelte. Er setzte über eine Kanone hinweg, um den Hauptmann vor einem höchst unschönen Tod zu bewahren und war wenige Augenblicke später schon mehrere Meter weiter, wo ein violetter Strahl aus der Spitze seines Stabes zwei Männer in Kettenhemden über die Burstwehr zurück schleuderte.

Umgeben von den Lichtkugeln flaute Isabells Angst ab. Sie packte die schwere Hellebarde fester und drang auf das nächste Tier ein, das über die Mauerkrone kletterte. Es war ein widerwärtiges Gefühl, als sie die Waffe in etwas bohrte, das gleichzeitig weich und zäh war. Schwitzend und mit aller Kraft trieb sie die Spitze in den Echsenschädel, bis das Metall mit einem hässlichen Kreischen auf Stein stieß. Es gelang ihr allerdings nicht mehr, die Hellebarde herauszuziehen. Eben noch hatte sie auf den Füßen gestanden, dann fegte es sie auch schon rückwärts und sie wäre beinahe vom Wehrgang sechs Meter in die Tiefe gestürzt. Der Geschützdonner hallte in ihren Ohren nach. Ernüchtert erkannte sie, dass die Sphären zwar Gegner von ihr abhalten konnten, sie aber nicht auffangen würden, wenn sie den Halt verlor.

Sie krallte ihre Hände ins Mauerwerk, dann fiel ihr Blick auf einen Soldaten, der in seiner schmucken Uniform unter einer umgestürzten Kanone lag, den Säbel noch in der Hand. Sie kroch zu ihm. Um seinen Unterleib breitete sich eine rote Pfütze aus. Blut mischte sich mit Staub und Ruß. Der Mann schlug die Augen auf, sah mit verschwommenem Blick zu Isabell, befeuchtete noch die Lippen mit der Zunge und lag dann auf einmal entspannt und mit offenen Augen da.

Isabell presste eine Faust gegen den Mund und Tränen stiegen ihr in die Augen. Im nächsten Augenblick stürzte eine zweite Kanone um und es gab einen kurzen Augenblick vollkommener Stille, in dem sich alles zu verlangsamen schien.

Sie sah Meleons halb gehobenen Arm, den Stab, der in der Waagrechten verharrte, Meleons starren, fast panischen Blick, dann sackte die Mauer samt Zinnen und Wehrgang in sich zusammen. Kein Donner, keine Explosion begleitete den Einsturz, nur das Poltern der Steine und das Bersten der Fugen im Mauerwerk.

Und die Schreie.

Isabell schrie selbst, war sich dessen aber gar nicht bewusst. Die Sphären umrundeten sie, zerbliesen fallende Mauersteine zu Staub, die sie sonst verletzt hätten, doch im nächsten Augenblick würde sie in den Trümmern aufkommen…

Sie fiel weich, mitten hinein in eine ganze Menge weicher Federbetten und sie musste strampeln, um nicht darin zu versinken. Gänsefedern flogen umher. Erst musste sie nießen, dann lachen. Es schien so absurd, so ganz und gar unwirklich! Dann war Meleon neben ihr, streckte die Hand aus, half ihr hoch und für einen winzigen Augenblick waren seine dunklen Augen ganz nah.

„Noshar nutzt den Stein von Aligistra“, flüsterte er. „Aber wie du siehst, bin ich noch nicht am Ende meiner Möglichkeiten. Eines fehlt ihm nämlich: ein wenig Phantasie, wie ich sie in reichem Maße besitze.“

Schon war er wieder fort.

Nur ganz flüchtig hatte sie Blut an seinem Ohr gesehen und als er durch die Trümmer sprang, schien ihr, dass er das linke Bein nicht ganz belasten konnte.

„Meleon!“, schrie sie, doch er war schon zwischen den Schutthügeln verschwunden, von denen immer noch Staub aufstieg.

Auf Händen und Knien erklomm sie einen dieser Hügel und sah zu den anderen Türmen. Sie standen unversehrt.

Ein Pfeil zischte heran, glühte auf und verging. Zwei Krieger mit abstoßenden schwarzen Masken sprangen zu Isabell herauf und wollten sie packen, doch von den Sphären zuckten scharfblaue Blitze und die beiden Männer sackten leblos in sich zusammen.

Isabell starrte auf die Toten und schlitterte dann von ihrem Aussichtspunkt herab, um Meleon zu suchen.

Die Fisary hatten die Bresche genutzt, um in die Stadt einzudringen. Zwischen den Trümmern wurde der Angriff zu einem Kampf Mann gegen Mann, in dem die vom langen Frieden verwöhnten Verteidiger wenig mehr aufzubieten hatten, als ihren Mut. Isabell stolperte über Leichen, schrie Meleons Namen und fühlte sich im Schutzkreis der Sphären wie in einem Alptraum, in dem sie hilflos alles mit ansehen musste.

Eine weiße Taube flatterte zu ihr herab, doch ehe sie auf ihrer Schulter landen konnte, riss ihr eine Kugel den Kopf weg und sie fiel Isabell zu Füßen. Isabell sank in die Knie und streichelte das Federbündel, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Mehrere Schüsse wurden auf sie abgefeuert, doch verglühten die Kugeln im Flug und eine der Lichtkugeln tötete den Schützen.

Isabell verspürte nicht die geringste Genugtuung. Sie wollte nur, dass es aufhörte, dass dieses Gemetzel endlich aufhörte!

Doch der Kampf hatte erst begonnen.


Isabell sah Dunstschwaden über dem westlichen Tor aufsteigen und wusste, dass auch dort die Mauer gefallen war. Sie erschrak trotzdem, als plötzlich auch der Turm in sich zusammensackte.

Jetzt drangen die Fisary von zwei Seiten her in die Stadt ein.

Isabell wurde vom Ansturm förmlich mit geschwemmt, fand sich plötzlich in der kleinen Gasse am Brunnenplätzchen und musste zusehen, wie Männer die Türen der Häuser mit ihren Gewehrkolben aufzubrechen begannen. Sie drängte sich dazwischen, einer der Fisary wollte sie mit dem Bajonett niederstechen und bekam eine der Lichtkugeln mitten ins Gesicht. Sein gellender Schrei brach sofort wieder ab und der Gestank nach verbranntem Fleisch ließ die anderen Angreifer zurückweichen. Isabell begriff jetzt erst richtig, dass sie sich gewissermaßen selbst als Ziel eines Angriffs anbieten musste, um die Sphären zu aktivieren.

Von diesem Augenblick an war sie immer mitten im dichtesten Getümmel, stieß bewaffnete Gegner einfach vor die Brust, oder warf sich vor Soldaten der Stadt. Kugeln verglühten, Speerspitzen schmolzen und Fisary sackten in sich zusammen, wo immer Isabell die Konfrontation suchte.

Doch es waren zu viele.

Viel zu viele.

Isabell stolperte über Leichen und ihre Kleider waren getränkt mit fremdem Blut. Kalt und klebrig lag der Stoff auf ihrer Haut und sie fühlte sich immer elender. Aber sie musste sich jedes Mal, wenn sie fiel, wieder aufrichten, sich dem Feind entgegen stellen…

Nur hatte sei keine Kraft mehr.

Keine Kraft mehr, um wild kreischende Frauen zu erreichen, die von maskierten Fisary auf die Straße gezerrt und zu Boden geworfen wurden… denen man die Kleider aufgeschlitzte… Kinder, die wie Lumpenpuppen auf Kopfsteinpflaster lagen und die man nur noch aufheben würde, um sie in Särge zu betten.

Isabell atmete wild und heftig und widersetzte sich der Wut, die sie dazu bringen wollte, einfach irgendeine Waffe an sich zu reißen und sie in Bäuche zu stoßen, damit diese elenden, widerwärtigen Menschen endlich aufhörten!

Endlich, endlich aufhörten!

Sie wischte Tränen weg und taumelte gegen eine Schulter. Eine Hand stützte sie.

Phineas.

Sie schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Er stolperte rückwärts, fing sich und fasste nach Isabells Handgelenk.

Merkwürdig. Die Sphären griffen ihn nicht an.

„Was machen Sie bloß hier?“, brüllte er. „Sind Sie wahnsinnig?“

„Wo sonst sollte ich sein?“, schrie sie zurück und versetzte ihm einen zweiten Schlag.

Er drängte sie zur Seite und noch immer griffen die Lichtkugeln ihn nicht an.

„Sie müssen sich in Sicherheit bringen“, zischte Phineas. „Das hier ist kein Ort für Sie!“

„Es ist genau der Ort für mich – mein Geburtsort. Hier lebe ich. Und hier leben all diese Menschen. Und Sie und Ihre widerwärtigen Kumpane haben nichts Besseres im Sinn, als das alles zu zerstören, uns alle umzubringen…“

Wieder schlug sie nach ihm und er duckte sich.

„Ich will doch nur…“, begann er, doch dann traf ihn der Schaft einer Pike und er taumelte gegen die Hausmauer.

Isabell sprang über die Leiche eines Angreifers hinweg und rannte in die nächste Gasse hinein. Sie wollte Phineas nicht noch einmal begegnen, sie verabscheute ihn und verspürte den Wunsch, ihm weh zu tun, damit er begriff, was Schmerz war. Was er und seine widerwärtigen Fisary anrichteten.

Ihr graute aber auch bei der Vorstellung, wie das Licht der Sphären sein Gesicht verbrennen würde.

Stechen in der Seite zwang sie, stehen zu bleiben und Luft zu holen. Im Osten sah sie über den Dächern Flammenzungen und Rauch.

Also würden sie gemeinsam untergehen.

Sie würde sterben, zusammen mit allen anderen Bewohnern der Stadt. Der Gedanke an ihre Mutter, die ganz bestimmt zu Hause wartete, und an ihren Vater mitten im Schlachtgetümmel, brachte sie dazu, sich aufzurichten, die schmerzende Seite zu massieren und weiterzulaufen.

Sie würde nicht aufgeben! Diese wildfremden Menschen hatten kein Recht, eine friedliche Kleinstadt in Schutt und Asche zu legen. Und Meleon…

Meleon war schuld an dem allen.

Seinetwegen waren die friedlichen Tage vorbei, brannten die Häuser, lagen Leichen in den Gassen.

Der Gedanke erschreckte sie.

Aber dann dachte sie wieder an Phineas.

Meleon hatte niemanden herausgefordert, niemanden angegriffen. Man hatte ihn angegriffen, seine Frau umgebracht, seine Kinder, sein Leben zerstört und nun waren diese Bestien ihm hierher gefolgt und nichts war ihnen heilig…

Isabell schnürte es die Kehle ab vor Zorn.

Das alles musste ein Ende haben! Sie würden siegen und die friedlichen Tage zurückgewinnen, in denen es nicht Schlimmeres gab als leer gekaufte Pralinentabletts, sie würde Meleon heiraten und glücklich leben, bis ins hohe Alter.

Sie wischte mit dem Handrücken Tränen weg und lief zum Ost-Tor, um ihren Vater zu suchen.