Schmelz
Isabell fand die folgenden Tage kaum erträglich.
Sie vermisste ihre täglichen Lehrstunden, war aber zu stolz und viel zu wütend, um Meleons Laden aufzusuchen. Gleichzeitig tadelten ihre Eltern sie für ihre Sprödigkeit einem solch patenten Mannsbild gegenüber. Sie konnte ihnen nicht begreiflich machen, dass sie vor Meleons magischem Eingreifen eine Ehe mit ihm auf das Nachdrücklichste abgelehnt hätten.
Also saß sie auf ihrem Bett, sehnte sich nach einer guten Tasse Schokolade und grübelte darüber nach, warum Meleon so unvermittelt um ihre Hand angehalten hatte. Bisher war zwischen ihnen nichts geschehen, was einen derartigen Schritt rechtfertigte, keine vertraulichen Blicke, keine versteckten Anspielungen, kein Versuch, sie wie unabsichtlich zu berühren, während er sie in der Zubereitung von Konfekt unterwies.
Sie begann zu argwöhnen, dass die Begegnung mit dem Zauberer Noshar und die unvollständige Rückverwandlung vielleicht alles weitere erst ausgelöst hatten. Vielleicht war er noch teilweise ein Dashân. Vielleicht hatte ihn der magische Angriff durch Noshar härter getroffen als ihm selbst bewusst war.
Oder er zeigte nun sein wahres Gesicht.
Am dritten Tag kam Niklas und überbrachte einen Kasten Pralinen.
„Nimm ihn wieder mit und wirf ihn deinem Herrn an den Kopf! Mit den besten Empfehlungen von Isabell Fechter.“
Niklas sah blass und angegriffen aus.
„Was ist denn nur passiert?“, fragte er. „Warum grollen Sie Meleon?“
„Er glaubt doch nicht wirklich, ich würde noch irgendetwas anrühren, das er hergestellt hat!“
Niklas sah unglücklich auf den dunkelbraunen Kasten mit dem goldenen Schriftzug.
„Sie sind aber hervorragend gelungen“, sagte er.
„Genau das befürchte ich. Diese Pralinen sollen doch nichts anderes bezwecken, als mich umzustimmen.“
„Gewiss“, erwiderte Niklas. „Sie sind wahre Meisterwerke. Weiße Schokolade mit einer Füllung aus kandierten Hibiskusblüten. Milchschokolade mit Rumpflaumengelee. Und schließlich schokolierte grüne Pfefferkörner auf hellen und dunklen Schokoladenwolken.“
Isabell hätte beinahe leer geschluckt.
„Meleon hat doch nur vor, mich zu bezaubern!“
Niklas verneigte sich.
„Genau das“, sagte er. „Meleons Schokoladen bezaubern. Unfehlbar.“
Isabell hob abwehrend beide Hände.
„Du nimmst dieses Teufelszeug und kehrst damit in den Laden zurück, wo Herr Meleon sicher Käufer dafür finden wird!“
Niklas gab sich nicht so leicht geschlagen.
„Meleon sagt, er will diese Sorten niemals für irgendwen machen, außer für Sie. Er hat darüber gebrütet, seit Sie ihn fortgeschickt haben. Dutzende der wunderbarsten Pralinen hat er geschaffen, wie sie die Welt zuvor nicht kannte, und sie verworfen, weil sie nicht gut genug waren. Er schläft nicht. Rastlos läuft er durch die Küche und vernachlässigt das Geschäft. Sie müssen diese Pralinen einfach nehmen!“
Isabell beugte sich vor.
„Sag, Niklas, da ist doch etwas schief gegangen! Meleon ist von seiner siebentägigen Abwesenheit verändert zurückgekommen. Er war doch vorher nicht so. Und nun…“
Niklas runzelte die Stirn.
„Aber es war doch seit Wochen klar zu sehen!“
„Was?“, fragte Isabell perplex.
„Nun, dass er verliebt ist. Auf dem Bord im Schlafzimmer stehen in einer satinbezogenen Schachtel zwei Schokoladenfiguren: ein cremeweißer Kachmar und ein dunkelbrauner Dashân. Der Weiße ist mit feinster Mohncreme gefüllt, der Dunkle mit scharfem Trester zwischen Lagen aus Vanillesahne. Er hat sie vor drei Wochen gemacht. Länger als eine weitere Woche bleiben sie nicht frisch.“
„Geh!“, sagte Isabell hastig, die nicht zeigen wollte, dass es Niklas gelungen war, sie durcheinander zu bringen.
Sie drückte die Tür ins Schloss, stand, die Stirn gegen das Holz gelehnt, und erschrak, als erneut die Klingel gezogen wurde. Sie wollte Niklas scharf zurechtweisen, doch draußen stand Phineas.
Er lüftete den Hut.
„Einen wunderschönen Abend wünsche ich, Fräulein Fechter“, sagte er. „Dürfte ich wohl auf einen Augenblick hereinkommen? Ich weiß, wir haben uns bei unserer letzten Begegnung nicht in bestem Einvernehmen getrennt, aber nun sind Entwicklungen eingetreten…“
Isabell wollte ihn erst schroff abweisen, dann fiel ihr ein, dass Meleon das Haus ja angeblich gesichert hatte, und beschloss, diesen Zauber einer Probe zu unterziehen. Sie bat Phineas nicht herein, sondern trat nur ein Stück von der Tür zurück, so dass er frohgemut die Schwelle überschreiten wollte. Dann jedoch keuchte er schmerzerfüllt, machte einen Sprung nach hinten und sah zum Dach hinauf. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, erreichte den Bordstein, zog ein Stück roter Kreide aus der Tasche und malte damit ein Zeichen auf die Steine.
„Meine Empfehlung an Meleon“, rief er. „Er war wieder einmal schneller als ich. Ich hoffe nur, Sie sehen Ihren Fehler ein, ehe es zu spät ist.“
„Kommen Sie näher“, rief Isabell. „Wir können uns nicht über die halbe Straße hinweg unterhalten.“
Phineas kam zögernd ein Stück heran und verharrte auf der untersten Stufe der Treppe, die zur Haustür hinauf führte.
„Sie wollen mich vor Herr Meleon warnen. Also warnen Sie mich!“
Phineas schob den Hut in den Nacken und musterte sie abschätzend, dann sagte er: „Es ist, wie ich bereits erwähnte: Er ist ein Meister der dunklen Künste, der Diener eines Tyrannen, und auch im Exil gefährlich. Helfen Sie uns, ihn zur Strecke zu bringen, und diese Welt wird um einiges sicherer sein!“
„Und wenn Sie ihn… zur Strecke bringen würden, was würde dann mit ihm geschehen?“
Phineas lächelte.
„Auf Meleon wartet ein eigens gebauter Kerker, in dem er eingeschlossen werden wird, so dass er seine Zaubermacht nicht nutzen kann, um zu entkommen. Méklinchyl heißt dieses Gefängnis, das von einem Ring aus sieben Gräben umgeben ist. Sieben Mauern schließen jeden Graben gegen den nächsten ab. In der Mitte senkt sich ein Schacht achtzig Meter in die Tiefe. Am Grund dieses Schachtes wurde das Verlies eingerichtet, das ihm die Heimstätte sein wird, bis zu seinem Tod. Denn Meleon ist gefährlich, das dürfen Sie mir glauben!“
„Ich glaube Ihnen“, sagte Isabell. „Aber ist es nicht so, dass man ihn verletzt hat? Stimmt es nicht, dass seine Frau und seine Kinder umgebracht wurden?“
Phineas sah einen Augenblick verlegen aus.
„Revolutionen sind keine Kissenschlachten“, sagte er. „Die Burg wurde gestürmt. Meleon kämpfte gegen Noshar, den einzigen Zauberer, über den die Fisary verfügten. Seine Kräfte waren also gebunden. Und übereifrige Freiheitskämpfer brandschatzten das Gebäude. Dabei kam es leider zu unerwünschten Zwischenfällen.“
„Übereifer und Zwischenfälle nennen Sie also die Ermordung von Frauen und Kindern?“, fragte Isabell.
„Ich bedaure selbstverständlich den Tod der Prinzessin und ihrer Kinder“, sagte Phineas steif. „Aber eines sollten Sie deswegen nicht glauben: dass Meleon ein unschuldiges Opfer war, dem Unrecht geschah.“
„Ich fürchte, Herr Phineas, wir sind verschiedener Meinung darüber, was Unrecht ist.“
„Das mag sein“, erwiderte er. „Bitte lassen Sie uns nicht um Worte streiten. Sie sind in Gefahr. Meleon übt einen unheilvollen Zauber auf alle in seiner Umgebung aus. Sie verherrlichen und vergöttern ihn geradezu, wenn er Gelegenheit bekommt, ihnen seine Schokoladen vorzusetzen. Sie lösen sich nie wieder aus seinem Bann. Sein Wort bindet nur für gewisse Zeit. Doch wer über Wochen und Monate sein Naschwerk genießt, der verfällt ihm für alle Zeit.“
„Nun, das wundert niemanden, der es einmal gekostet hat“, sagte Isabell und dachte wider Willen an das verheißene Konfekt aus weißer Schokolade mit kandierten Hibiskusblüten. Und die Pfefferwölkchen. Der Gedanke allein ließ ihr das Wasser im Mund zusammen laufen.
Phineas zog höflich den Hut.
„Ich verabschiede mich nun, Fräulein Fechter. Die Warnung ist ausgesprochen. Sollten Sie sich entschließen, Meleons Künsten entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen, haben Sie die Unterstützung der Fisary. Sollten Sie uns gar helfen, ihn dingfest zu machen, so winkt Ihnen eine Belohnung von achthundert Pilar. Achthundert Münzen aus unvermischtem Gold. Das ist in jeder bekannten Welt ein Vermögen.“
„Ich sehne mich nicht nach Reichtum“, sagte Isabell und schloss die Haustür.
Am folgenden Vormittag kam Niklas mit einem neuen Kasten in Schneeweiß und Gold. Er klappte ihn sofort auf, wahrscheinlich, damit Isabell der zarte Duft in die Nase stieg. In samtenen Vertiefungen saßen drei Pralinen. Drei Stück Pergament gaben Auskunft darüber, was Meleon ihr da zukommen ließ.
Die weiße Praline war Sehnsucht betitel, die hellbraune Seufzer und die dunkelbraune Schmelz.
Es kostete sie Anstrengung, nicht nach der dritten zu greifen.
„Niklas“, sagte sie gequält. „Wollt ihr denn nicht einsehen, dass ich in Ruhe gelassen werden möchte?“
Niklas zuckte die Achseln, nahm die mittlere Praline, steckte sie sich in den Mund und tatsächlich entrang sich ihm kurz darauf ein wohliger Seufzer.
„Schade, dass Sie sich dem Genuss verweigern“, sagte er. „Ich werde also zu meinen Aufgaben zurückkehren.“
Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, auch am folgenden Tag vorzusprechen. Diesmal war die Schachtel, die er präsentierte, klein und lackschwarz.
Nur eine einzige, schlichte Praline saß in einer Vertiefung aus schwarzem Satin.
Ihr Duft war köstlich.
Ein Kärtchen steckte schräg darüber.
Darauf stand in Meleons Schrift: Liebe.
Isabell spürte ein Kribbeln im Nacken, dann wurden ihr die Knie weich. Sie nahm Niklas das Kästchen aus der Hand und drückte den Deckel zu.
„Trag das fort!“, sagte sie.
Niklas nahm das Kästchen wieder entgegen, verneigte sich und verließ grußlos das Haus.
Drei Tage lang geschah nicht das Allergeringste. Isabell saß meist in ihrem Zimmer am Schreibtisch und notierte aus der Erinnerung Schokoladenrezepte. Ihre Eltern hatten sie mehrmals vergebens gedrängt, Kontakt mit Meleon aufzunehmen. Am Mittag des dritten Tages ging sie in die Küche hinunter, verscheuchte die Köchin vom Herd und versuchte sich an einigen Pralinen. Sie misslangen furchtbar. Gegen Nachmittag roch es in der Küche nach angebrannter Schokolade – ein Geruch, der nur schwer zu ertragen war. Die Köchin kam und riss das Fenster auf.
„Was machen Sie nur?“, fragte sie vorwurfsvoll.
„Ich? Unsinn“, erwiderte Isabell, ging nach oben und zog sich um.
Drei Minuten vor Ladenschluss schlug das Glöckchen über der Ladentür an. Niklas war dabei, die Theke zu polieren und ließ bei Isabells Anblick den Lappen fallen. Dann wies er mit unsicherer Hand nach hinten.
„Danke, Niklas“, sagte Isabell und betrat zum ersten Mal seit langem Meleons Küche.
Auf dem Trockengitter standen kleine Figürchen mit Schokoladenüberzug. Die Schokolade war noch ein wenig flüssig.
Isabell ging die Treppe hinauf.
Meleon stand mit dem Rücken zur Tür. Die Kerze im Stövchen brannte. Zwei hohe Tassen warteten darauf, mit heißer Trinkschokolade gefüllt zu werden.
„Sie haben mich doch nicht etwa erwartet?“, fragte Isabell.
Er drehte sich nicht um. Sie sah die schnelle Bewegung seines Ellenbogens und hörte den Schneebesen gegen die Wände einer Schüssel schlagen.
„Natürlich habe ich Sie erwartet“, sagte er.
Das Geräusch des Schneebesens wurde dumpfer, was vermuten ließ, dass Sahne oder Eischnee fest wurde. Die Kupferschüssel im Arm, wandte sich Meleon dann um.
„Leidenschaft lässt sich nicht bezwingen“, sagte er.
„Sollte ich Leidenschaft für einen Mann verspüren, der vor lauter Arroganz eigentlich bei jedem Schritt knirschen müsste?“
Meleon lachte.
„Nein. Ich spreche von der Leidenschaft für Schokolade. Von Wissendurst. Von dem Wunsch, schöpferisch zu sein.“
Isabell seufzte.
„Vielleicht haben Sie recht.“
Meleon zog den Löffel durch die blendend weiße Masse in der Schüssel.
„Eiweiß mit Zucker über mäßiger Hitze aufgeschlagen“, sagte er. „Eine Krönung für heiße Schokolade, die ich kaum gesüßt habe. Das ist das Geheimnis aller großen Leckereien: der Bruch. Verbinde Cremiges mit Knusprigen, Festes mit Weichem, Süßes mit Bitterem!“
Er gab einen großen Klecks auf eine Tasse und reichte sie Isabell.
Isabell kostete schmelzenden Schaum, der sich mit herber Schokolade mischte.
Dann sagte sie: „Wissen Sie, weshalb ich gekommen bin?“
„Nun, meinetwegen nicht, wenn ich Sie recht verstanden habe“, sagte er mit einem schwer deutbaren Glitzern in den Augen.
„Nein, nicht Ihretwegen. Ich möchte lernen, Schokolade zu machen, nicht nur, sie zu verarbeiten. Wie kommt Meleons Schokolade zu ihrem Schmelz? Weshalb schmeckt sie so unvergleichlich anders als andere Schokoladen?“
Meleon musterte sie über seine Tasse hinweg.
„Wie sehr wollen Sie das wissen?“, fragte er.
„Sehr.“
Er verbeugte sich.
„Der Preis wird Ihnen zu hoch sein.“
Isabell schnaubte.
„Eine Heirat mit Ihnen – meinen Sie das?“
Meleon schüttelte den Kopf.
„Das meine ich nicht. Man nennt mich einen dunklen Magier, einen Mann, der Tyrannen den Weg bereitet und mit bösen Künsten bezaubert. Möglich. Aber ein Schuft bin ich nicht. Niemals könnte eine Heirat mit mir das Ergebnis von Zwang sein, ja, nicht einmal von kruder Magie. Mein Lehrmeister hat mich in Liebeszauber unterrichtet. Ich aber verwende solchen Zauber nicht.“
„Und Ihre Schokoladen?“, fragte Isabell.
Meleon verneigte sich tief.
„Nun schmeicheln Sie mir“, sagte er. „Meine Schokoladen sind nur das: Schokolade. Magie ist dabei nicht im Spiel, außer ich fertige Sekoy.“
„Sie haben mir den Preis nicht genannt, Herr Meleon.“
„Der Preis“, erwiderte er, „ist Hingabe. Hingabe an eine große Kunst. Die Bereitschaft, dieser Kunst ein ganzes Leben zu widmen. Niemals vollkommen zufrieden zu sein. Die Stärke, sich dem Alltag, den Verlockungen der Liebe, der Mutterschaft und allen anderen Verlockungen zu widersetzen, um etwas zu schaffen, dass die Seele erhebt, die Sinne kitzelt, reizt und befriedigt und Augenblicke tiefster Verzückung schenkt. Das ist der Preis, Isabell. Eine Ehe mit mir wäre dagegen eine Kleinigkeit.“
„Verstehe ich Sie richtig: ich könnte nicht heiraten? Keine Kinder haben?“
„Nein, nein, nein. Sie dürfen sich nur nicht wie andere Frauen von ihrer Berufung abhalten lassen. Viele Frauen lernen wahrhaft Wertvolles, doch lassen sie ihre Fähigkeiten brachliegen, sei es, weil der Mann erkrankt, sie Jahre ihres Lebens der Erziehung ihrer Kinder widmen oder aus tausenderlei anderen Gründen. Das, was ich zu lehren habe, fordert Vervollkommnung ein Leben lang. Dann werden auch die Belohnungen nach Ihrem Geschmack sein.“
Isabell musste lachen.
„Dann werde ich wohl bald auseinandergehen. Eigentlich wundere ich mich, dass ich nicht ganz furchtbar zugenommen habe.“
Meleon schnalzte.
„Niemand legt von Schokolade Gewicht zu. Höchstens von dem, was er außerdem zu sich nimmt. Aber das sind alles Dinge, die Sie lernen werden.“
„Also werden Sie mich unterrichten? Werden Sie mir zeigen, wie man Schmelz erzielt?“
Meleon musterte sie.
„Besitzen Sie die ernste Bereitschaft, Schokolade zum Mittelpunkt Ihres Lebens zu machen?“
Isabell war wider Willen beeindruckt von Meleons priesterlichem Ton.
„Widersprechen Sie sich nun nicht, Herr Meleon?“, fragte sie. „Hatte ich Sie nicht so verstanden, dass Sie wünschen, ich würde Sie zum Mittelpunkt meines Lebens machen?“
Er lächelte widerstrebend.
„Das wünsche ich. Sie hingegen wünschen, sich Anderem zu widmen. Was soll ich da tun? Die Schokolade verdient Hingabe. Würde ich Gleiches von mir behaupten, würden Sie mich nur wieder arrogant nennen. Und das wahrscheinlich zu recht.“
Isabell war um eine schlagfertige Antwort verlegen. Sie drehte die leere Tasse in den Händen. Da stürmte plötzlich Niklas die Treppe herauf.
„Zamera“, rief er. „Sie ist zurück!“
„Zamera?“, fragte Meleon scharf. „Hier?“
„Ja“, keuchte Niklas. „Und sie ist in einem furchtbaren Zustand. Zottelig, verletzt und abgezehrt.“
Meleon stellte seine Tasse ab.
„Kommen Sie“, sagte er.
Niklas öffnete die Hintertür.
Draußen lag etwas sehr Großes am Boden. Erst als Meleon mit einer Blendlaterne nach draußen kam, erkannte Isabell den Leib eines ungeheuren dunkelbraunen Pferdes, das dicht an der Schwelle zusammengebrochen war. Die mächtigen Flanken wirkten eingesunken.
Sie ging in die Hocke, um dem Tier den Kopf zu streicheln und erschrak. Von der Stirn ragte etwas ins Dunkel außerhalb des Lichtkreises. Mit zitternden Fingern zog sie Meleons Hand mit der Laterne zu sich heran. Das Längliche war ein spiralig gekerbtes Horn, lang wie ein Degen und vorne ebenso scharf zugespitzt.
Meleon achtete nicht darauf. Er inspizierte eine tiefe Wunde, die von der Schulter abwärts verlief.
„Ich verstehe nicht, weshalb sie sich nicht zurückverwandelt hat“, sagte er zu Niklas. „Der Auftrag war weder sonderlich schwierig, noch ausnehmend gefährlich.“
„Noshar!“, zischte Niklas.
Meleon schüttelte den Kopf.
„Eine Begegnung mit ihm hätte sie nicht überlebt.“ Er fuhr mit der flachen Hand über der Wunde hin und her, die bereits eiterte und narbige Ränder gebildet hatte. „Die Verletzung ist nicht magisch“, sagte er. „Entweder wird der Empfänger meiner Botschaft abgeschirmt und sie hat ihn nicht erreicht, oder…“
„… sie haben ihn ermordet!“
„Möglich“, sagte Meleon. „Dann ist unser Problem noch ein wenig größer, als es ohnehin schon aussieht. Dann kann sie sich überhaupt nicht mehr rückverwandeln und muss für den Rest ihres Lebens in dieser Gestalt verweilen. Aber selbst, wenn Jilead am Leben sein sollten, haben wir vorerst Schwierigkeiten, Zamera unterzubringen und zu versorgen. Und sie kann uns nichts berichten.“
„Sie ist ein Sekoy?“, fragte Isabell.
Meleon nickte ungerührt.
„Die Zofe meiner verstorbenen Frau. Sie hat noch immer gute Beziehungen in unserer Heimat. Trotzdem ist ganz offensichtlich etwas schief gegangen.“
Isabell legte dem leise keuchenden Einhorn die Hand auf den Kopf.
„Warum überhaupt die Verwandlung?“, fragte sie. „Wäre es nicht viel einfacher, als Mensch zu reisen?“
„Nicht in unserer Welt. Weite Gebiete sind nicht besiedelt und nicht durch Straßen oder gar Postkutschenverbindungen erschlossen. Große Strecken sind von geschmeidigen Katzen oder geschwind galoppierenden Einhörnern schneller zurückzulegen.“
„Aber weshalb kein Pferd?“
Meleon lächelte.
„Nun, sagen wir so: Einhörner sind bewaffnete Pferde. Und in unserer Heimat fallen sie weniger auf, denn Pferde sind dort teure Importware. Einhörner hingegen streifen immer noch in großer Zahl durch die Wälder und über die Grasebenen.“
Isabell fühlte das Zucken einer Sehne unter ihrer Hand.
„Herr Meleon“, sagte sie. „Kann ich diese Welt sehen?“
Sie sah ihn grinsen, obwohl er es zu verbergen versuchte.
„Wie sehr Sie das Unbekannte doch reizt!“
„Wäre es möglich?“
„Möglich, ja. Aber auch gefährlich.“ Er bewegte die Finger über der nässenden Wunde und die Wundränder wurden ein wenig flacher. „Ehe wir jedoch solch abenteuerlustige Überlegungen ausspinnen, müssen wir erst einmal versuchen, Zamera ins Haus zu bringen.“