Wie groß ist eine Seele?
Meleon löste den Sperrhaken der Kammer.
Niklas lag sehr still. Er schlug die Augen nicht auf und rührte sich nicht. In großen Abständen sog er mit leisem Schnaufen die Luft ein.
Meleon ging kurz nach draußen und kam mit Isabells Vater wieder, der eine behutsame Untersuchung der Wunde vornahm. Sie war von einem hässlichen Rand umgeben und eiterte wieder. Ringsherum hatte sich die Haut in einem kühlen Lila eingefärbt. Dr. Fechter fühlte Niklas den Puls, hob die Augenlider an und lauschte dem Herzton. Dann schüttelte er ganz leicht den Kopf und sie verließen gemeinsam die Kammer.
Draußen sagte Dr. Fechter: „Er hat keine Tage mehr, wie wir noch vor Kurzem gehofft haben, sondern bestenfalls Stunden. Schon gestern, als ich das Uringläschen gesehen habe, habe ich befürchtet, dass es mir nicht gelungen ist, das Blatt noch zu wenden.“
Meleon nickte.
„Ich spüre, wie sich die Seele aus dem engen Gefäß des Körpers zu ergießen beginnt.“
Isabell hatte die Hände in die Falten ihres Kleides gekrampft und wusste nicht, wie sie mit dieser weiteren Katastrophe fertig werden sollte.
Meleon schenkte ihr ein schmales Lächeln.
„Bitte Rochas, zu uns zu kommen!“, sagte er.
Rochas kam, die Hand auf dem Schwertknauf, ließ sie aber sinken, als er Meleon ganz friedlich mit dem Arzt vor der Kammertür stehen sah.
„Rochas“, sagte Meleon. „Geh mit Dame Isabell hinaus und schaffe mir mit ihrer Hilfe das nächstbeste Tier, das euch über den Weg läuft! Es eilt!“
Isabell war es gar nicht wohl, als sie zusammen mit Rochas den Garten durchstreifte, in dem die zusammengesunkenen Reste des Zeltes an den Tod der Minister erinnerten. Was hatte Meleon vor? Einen dunklen Zauber, zu dem er das Blut eines Tieres brauchte?
Nirgendwo im Garten fand sich auch nur so viel wie eine Schnecke, deswegen liefen sie durch die hintere Pforte in die Gasse hinaus und dort packte Rochas mit der Schnelligkeit des bewährten Kämpfers zu, als etwas an seinen Füßen vorbei huschen wollte.
Es war eine Amsel. Kleine, blanke Augen sahen zu Isabell auf, dann hackte ein gelber Schnabel Rochas ein Stückchen Haut vom Finger.
Unbeirrt trug er den Vogel ins Haus.
Meleon zog nur kurz die Brauen hoch, dann nickte er.
„Das muss es jetzt tun“, sagte er.
„Was hast du vor?“, fragte Isabell und ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen. „Was soll dieser kleine Vogel helfen…?“
„Alles.“ Meleon nahm das schwarzbefiederte Tier mit beiden Händen und ließ sich von Rochas die Kammertür aufhalten.
„Meleon!“, sagte Isabell. „Warte!“
„Dazu fehlt uns die Zeit“, erwiderte er und setzte Niklas den Vogel auf die Brust. „Dr. Fechter – ein Skalpell bitte!“
Isabell sah das Aufblitzen von Metall und holte erschrocken Luft, doch dann blieb ihr der Schrei in der Kehle stecken und sie konnte nur nach Luft schnappen, denn Meleon stieß Niklas die Klinge mit einer schnellen, sicheren Bewegung ins Herz.
Der ausgezehrte Körper zuckte nur ganz leicht und lag dann wieder still. Die Amsel zeterte plötzlich und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Meleon machte eine ausholende Handbewegung und schien etwas über den Vogel zu stülpen, der wild nach seinen Fingern hackte. Auf einmal saß die Amsel ruhig und wie verwundert, hob einen Fuß, betrachtete die drei Zehen, kratzte sich damit am Hinterkopf und sah zu Meleon auf.
„In der Eile war nichts anderes möglich“, sagte Meleon und nahm seine Hand fort.
„Was hast du gemacht?“, flüsterte Isabell.
„Ich habe einen weiteren Todesfall abgewendet. Niklas, flieg zu Isabell! Ich habe nun die letzten Vorbereitungen für eine Schlacht zu treffen.“
Die Amsel schüttelte sich, öffnete versuchsweise die Flügel und schmierte erst einmal seitlich ab, ehe es ihr gelang, zu Isabell zu flattern. „Meleon“, sagte Isabell und streckt die Hände aus, halb um den Vogel von ihrem Gesicht fernzuhalten, halb, um ihm die Hände als Landeplatz anzubieten. „Du willst doch nicht behaupten, dieser kleine Vogel…“
Flügel streiften ihre Stirn, dann saß die Amsel auf ihrer Schulter und gab ein metallisches tschäk-tschäck von sich.
„Dieser kleine Vogel hat Raum genug für eine Seele“, sagte Meleon und wandte sich ab.
Isabell lief ihm nach und fasste ihn am Gewand.
„Aber dann, dann war doch der Vogel auch… ein Wesen, er war lebendig. Hatte er keine Seele? Und wenn doch…“
„Sie ist fort“, erwiderte Meleon und machte eine Handbewegung zum Himmel hin.
„Aber das ist furchtbar!“ Isabell schüttelte ihn.
Meleon drehte sich zu ihr um und löste ihre Finger von seinem cremefarbenen Überwurf.
„Das ist dunkle Magie. Dunkel und nützlich. Sie hat dir jemanden erhalten, den du lieb hast und den du noch brauchen wirst. Und nun genug davon!“
Isabell sah hilfesuchend zu ihrem Vater, doch der war dabei, das Skalpell zu reinigen.
Niklas schüttelte sich und flog auf, prallte beinahe in die Lampe, flatterte gegen den Küchenschrank und Isabell beeilte sich, ihn einzufangen, ehe er sich verletzte.
„Er muss das Fliegen erst lernen“, sagte Rochas. „Lassen Sie ihn hinaus an die Luft, damit er sich darin üben kann!“
Isabell trug die Amsel also nach draußen und sah ihr bei den ersten, sichtlich mühsamen Flugversuchen zu. Dabei liefen ihr Tränen über die Wangen, die sie immer wieder mit dem Handrücken weg wischte. Meleon hatte nichts erklärt, aber sie begriff auch so, dass diese Verwandlung ganz anders war, als der Gestaltwandel durch die magischen Schokoladenfiguren. Dass es keinen Auftrag gab, den man Niklas geben konnte, damit er sich nach dessen Erfüllung wieder in den Jungen verwandeln würde, den sie gekannt hatte.
Niemals zuvor hatte sie darüber nachgedacht, ob Tiere eine Seele besaßen. Jetzt fragte sie sich, wie es wohl war, die Welt als Vogel zu erleben. Und wo die Amselseele jetzt wohl war, die Meleon rücksichtlos aus dem kleinen, schwarz gefiederten Körper vertrieben hatte, damit Niklas leben konnte.
Sie schniefte.
Dunkel war Meleons Magie, ganz wie er selbst immer schon eingeräumt hatte.
Als es Niklas gelang, zu ihr zurückzufliegen und auf ihren Händen zu landen, drückte sie ihm sacht einen Kuss auf das nun so winzige Köpfchen.
„Es wird schon alles gut werden“, sagte sie, ohne es selbst zu glauben, aber Niklas versuchte daraufhin das erste Mal zu singen, und das brachte sie trotz ihrer melancholischen Stimmung zum Lachen.
Als sie mit Niklas auf der Schulter nach drinnen kam, hatte Meleon sich schon für die Schlacht umgezogen. Es war ungewohnt, ihn mit enganliegenden Hosen, Stiefeln und einem Waffenrock zu sehen. In einer Lederschlaufe trug er einen armlangen Stock mit Edelsteinknauf und auf dem dunklen Haar eine merkwürdige Kappe, die in einen geschweiften, gefährlich wirkenden Stachel auslief.
Er gab ihr einen beiläufigen Kuss auf die Wange.
„Bald ist es soweit. Wir werden in der Nacht ausrücken und unsere Positionen besetzen, damit wir im Morgengrauen für den Angriff bereit sind.“
Isabell nickte. Ihr war übel vor Angst, doch das wollte sie nicht zugeben.
„Auch du solltest dich umziehen“, sagte er. „Ich habe den Schneider angewiesen, dich passend auszustatten. Zwar schützen dich die Sphären, aber ich möchte keinerlei Risiken eingehen. Außerdem sind die Frauen meiner Heimat keine Heimchen am Herd, die warten, bis die Männer aus der Schlacht zurückkommen, sondern sind mit dem Einsatz der Klinge vertraut. Es wäre müßig, dich jetzt noch im Kampf unterweisen zu wollen, aber in keinem Fall sollten wir dich jetzt mit dem modischen Schnickschnack von Tournüre oder Reifrock beschweren.“
Isabell war überrascht, als sie die Kleider sah, die der Schneider stolz vor ihr ausbreitete. Dann erinnerte sie sich an die Zeichnung von Prinzessin Lilya in Meleons Tagebuch.
Hosen. Ein eng anliegendes Wams. Eine Kappe. Und Stiefel, die bis unters Knie reichten. Alles in dunklen Schokoladentönen und tiefem Rot.
Als sie sich damit im Spiegel betrachtete, war es ihr unangenehm, so jedermann ihre Beine zu zeigen. Das gehörte sich einfach nicht. Anderseits war es wundervoll leicht, sich in diesen Kleidern zu bewegen. Niklas betrachtete sie mit schief geneigtem Kopf und gab das metallisch klingende Tschäck von sich, das alles heißen mochte: Zustimmung oder Ablehnung. Nun, vielleicht würde sie sich daran gewöhnen müssen, auf ihr eigenes Urteil zu vertrauen.
Ihr gefiel das Bild im Spiegel, obwohl es ihr geradezu verrucht erschien. Gleichzeitig schämte sie sich, am Vorabend einer Schlacht überhaupt etwas auf solche Äußerlichkeiten zu geben. Meleon hatte Recht: so würde sie schneller laufen, sich bücken oder notfalls irgendetwas überklettern können.
Und das zählte.
Sie bedankte sich beim Schneider, der daraufhin eine kleine, zufriedene Verbeugung machte und fragte: „Wäre es Ihnen recht, Dame Isabell, wenn ich solche Kreationen auch anderen Damen von Stande zugänglich machen würde? Ich bin sicher, wir können eine ganz neue Mode schaffen, die das Bild unserer Stadt erheblich verändern würde.“
Isabell nickte befangen.
Das würde es ohne Zweifel. Aber warum nicht? Hier änderte sich ohnehin alles, und das im Handumdrehen. Plötzlich musste sie grinsen. Die lästige und letztlich alberne Tournüre jedenfalls, würde mit Sicherheit kaum eine Frau wirklich vermissen.
In ihren neuen Kleidern ging sie wieder nach unten und Rochas war der Erste, der sich zustimmend verneigte und sagte, sie sehe fabelhaft aus.
Sie bedankte sich und machte sich in der Küche auf die Suche nach einer Waffe, die sie zur Not auch ohne Übung handhaben konnte. Was blieb da, außer vielleicht einem Messer? Sie starrte auf die Schubladeneinsätze, die vollgeräumt waren mit Quirlen, Kochlöffeln, Pralinengabeln… Sie seufzte und die Schubladen glitten zu. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, auf jemanden einzustechen, ja überhaupt jemanden zu verletzen. Sie dachte an das Blut, das Meleon nach ihrem Tatzenschlag auf den Kragen getropft war.
Vielleicht als Sekoy.
Aber daran wollte sie erst recht nicht denken. Nicht nach den toten Panthern.
Sie würde sich also auf den Schutz der Sphären verlassen müssen.
Isabell erschrak, als ihr Vater in die Küche kam, den Säbel an der Seite und in seiner Reservistenuniform.
„Es geht los!“, sagte er und sah so gut gelaunt aus, wie lange nicht mehr. „Lord Meleons Späher melden, dass der Feind heranzieht. Nun dürfen wir also unser Blut geben und unsere Treue bezeugen!“
Isabell nickte und es schnürte ihr die Kehle zu.
„Pass auf dich auf! Meleon ist nicht umsonst so angespannt. Der Feind ist entschlossen und rücksichtlos. Und er hat einen magischen Stein in seinen Besitz gebracht, von dem wir nicht wissen, was er anrichten wird.“
Dr. Fechter tätschelte den Griff seiner Waffe.
„Die Hunde werden schon sehen, dass wir nicht klein beigeben! Und von einem Stein lassen wir uns schon gar nicht einschüchtern. So, nun wollen wir aufbrechen!“