Die Nacht



„So“, sagte Meleon. „Nun wird es also ernst.“

Er setzte noch einmal Kaffewasser auf. Isabell hatte die Tür hinter Phineas abgeschlossen und spülte die Tasse ab, die er benutzt hatte.

„Was hat er gemeint?“, fragte sie besorgt. „Was heißt: Wir stehen vor der Stadt?“

„Eben das. Die Fisary haben sich gesammelt und werden angreifen.“

„Unsere Stadt? Dann müssen wir das Militär rufen!“

Meleon lachte trocken.

„Und das würde kommen? Wohl kaum.“

„In der Stadt sind aber doch Soldaten stationiert. Es sind nicht viele, vielleicht fünfzig, aber…“

Meleon schnalzte.

„Fünfzig Soldaten, also“, sagte er spöttisch. Doch er setzte sich an den Tisch und dachte mehrere Minuten lang nach. Dabei nahm die Zahl der Kirschtrüffel alarmierend ab.

„Wo ist nur Niklas?“, fragte Isabell.

Meleon zuckte die Achseln.

„Der kommt schon.“

„Und wenn ihm etwas zustößt? Denk doch an Zamera!“

„Ich denke fortwährend an sie. Was wusste sie? Was hätte sie uns verraten können? Und wenn es so wichtig war, weshalb hat sie sich keine Mühe gegeben, uns etwas verständlich zu machen?“

Er atmete den Duft der frisch gemahlenen Kaffeebohnen ein, stellte die Kaffeemühle wieder an ihren Platz und begann dann in einem fort zu gähnen.

„Bist du müde oder ist es dieser Zauber?“, fragte Isabell.

„Vielleicht beides“, erwiderte er, konnte aber Minuten lang nicht aufhören. Kaum hatte der Kaffee gezogen, trank er schnell hintereinander zwei Tassen und schien sich danach ein wenig wacher zu fühlen. „Ich habe einen Entschluss gefasst. Wir werden tun, was du empfiehlst: Das Militär gegen die Fisary einsetzen. Und dazu wird nötig werden, was ich schon länger überlegt hatte. Ich gliedere diese Stadt aus dem Deutschen Reich aus.“

„Du tust was?“, fragte Isabell schockiert.

Meleon lächelte ohne Freundlichkeit.

„Ich annektiere sie im Namen unseres Herrschers, des Königs von Halaîn, wenn du es deutlicher formuliert haben möchtest. Sie wird der Sitz der Exilregierung und Residenz Seiner Majestät.“

Isabell schüttelte den Kopf.

„Ich traue dir allerhand zu, Meleon. Aber das nicht. Man würde die Stadt sofort zurückerobern und was dann geschähe, wage ich mir gar nicht auszumalen. Außerdem wäre das ja ein feiner Dank für die freundliche Aufnahme, die ihr hier gefunden habt!“

Meleon zuckte die Achseln.

„Eine freundliche Aufnahme, für die ich gesorgt habe, und die andernfalls so freundlich nicht gewesen wäre. Aber wir wollen nicht streiten, mein Herz! Diese Annektion entspringt nicht meinem Willen zur Macht, sondern dem Wunsch neben meinem König auch die Einwohner dieses hübschen Städtchens zu schützen. Sie erlaubt mir, magische Mittel einzusetzen, die andernfalls wirkungslos bleiben müssten. Und ich weiß, was ein Ort zu erwarten hat, der von Fisary eingenommen wird – das darfst du mir glauben!“

„Meleon!“

Er zog sie unerwartet an sich und küsste sie auf den Mund.

„Still“, sagte er. „Das ist kein Zeitpunkt für Meinungsverschiedenheit zwischen Verbündeten. Es genügt vollkommen, dass jemand einen Keil zwischen uns zu treiben versucht, indem er uns offen zeigt, dass ein Verräter unter uns ist. Wenn wir uns auf dieses Spiel einlassen, wird der Gegner nicht die allergeringste Mühe mit uns haben.“

„Aber es ist ein Verräter unter uns“, sagte Isabell. „Und dir sollte klar sein, dass es meinerseits Verrat wäre, wenn ich deinen Plänen zustimmen würde – Verrat an meinem Heimatland und dem Kaiser und…“

Er legte ihr zwei Finger über die Lippen.

„Durch Heirat bist du Bürgerin von Halaîn und unterstehst damit dem König meiner Welt, nicht dem deutschen Kaiser.“

„Wir sind noch nicht verheiratet“, protestierte Isabell.

„Dann ändern wir das!“ Meleon fasste sie an der Hand und zog sie mit sich zur Treppe.

Isabell stemmte sich ein.

„Nein“, sagte sie. „So geht das nicht!“

„Wie sonst?“, fragte er gereizt. „Du hast es gehört: uns steht ein Angriff bevor. Wäre das nicht eine passende Gelegenheit, zu heiraten, damit du im Falle eines Falles immerhin meine Witwe wärst?“

„Ich möchte nicht deine Witwe sein, und du lässt mich daran zweifeln, ob ich deine Frau sein möchte!“

Er ließ ihre Hand los.

„Isabell!“, sagte er beschwörend.

Dann hämmerte jemand heftig von außen gegen die Ladentür.

Isabell rannte hinter Meleon nach vorne. Eine schmale Gestalt kauerte vor der Tür und schlug mit blutbeschmierten Fäusten immer wieder gegen das Glas.

Meleon schloss auf, zog Niklas über die Schwelle und drehte den Schlüssel sofort wieder. Niklas keuchte und vermochte sich nicht aufzurichten.

„Sekoy“, brachte er heraus. „In der Stadt.“ Der Ärmel seiner Jacke war zerfetzt. Rot und warm troff es von seinem Oberarm zu Boden. „Sekoy! Drei davon. Zwei konnte ich töten. Der dritte erwischte mich, ehe ich ihn umbringen konnte. Aber ich habe weitere gesehen.“

Meleon hob ihn auf und trug ihn in die Küche.

Er tupfte das Blut ab, schnitt den Ärmel auf und musterte besorgt die Wunde.

„Jetzt bräuchten wir deinen Vater“, sagte er zu Isabell. „Nur können wir ihn nun eigentlich nicht mehr her holen. Er ist in eurem Haus sicherer.“

Isabell zitterte beim Anblick des bloßgelegten Knochens, holte dann aber ein paar Küchentücher und schob sie Niklas unter den Kopf. Mit immer noch bebenden Händen half sie Meleon, die Wunde mit Alkohol zu benetzen und zu verbinden.

Niklas wirkte inzwischen benommen.

„Das ist ernst“, flüsterte Meleon. „Wagst du es, deinen Vater holen zu gehen? Ich gebe dir Begleitung mit.“

Sie zitterte immer noch, spürte aber eine Entschlossenheit, die ihr selbst Angst machte.

„Natürlich wage ich es.“

„Gut, dann nimm Rochas mit!“

„Vertraust du ihm?“

Meleon nickte.

„Was das angeht, ja. Im Übrigen besitzt er ein magisches Schwert, das euch unterwegs sehr nützlich sein wird. Deswegen war es ihm auch nicht bang, den Prinzen herauszufordern.“

„Was bedeutet: was das angeht?“, fragte Isabell und rieb ihre eiskalten Fingerspitzen.

„Oh, das ist nichts, das uns gerade jetzt Sorgen machen müsste“, erwiderte Meleon. „Rochas ist Eshary-Ritter und gehorcht einem Ehrenkodex, der zu umfangreich ist, um ihn dir in aller Kürze zu erklären. Im Augenblick musst du nur wissen, dass er die sicherste Begleitung darstellt, die ich dir anbieten kann.“


Noch brannten in den Straßen die Laternen.

Rochas bewegte sich scheinbar unbesorgt, doch trug er das Schwert offen in der Hand. Isabell hatte sich mit einer zweizinkigen Bratengabel bewaffnet. So boten sie einen verwegenen Anblick, als sie die Auslagen der Geschäfte passierten, in denen nichts Bedrohlicheres als Hüte und bestickte Tischwäsche ausgestellt waren.

Trotz der möglichen Gefahren war der junge Minister zum Plaudern aufgelegt. Er unterhielt Isabell mit ausführlichen Schilderungen der Landschaft rund um das Königsschloss von Halaîn, bis sie ihn unterbrach.

„Wissen Sie von Zameras Tod?“, fragte sie.

Rochas warf ihr einen schnellen Seitenblick zu.

„Meleon hat es mir gesagt, damit ich vorsichtig bin. Wir wussten schon länger, dass einige in den eigenen Reihen käuflich sind. Aber nicht in der direkten Umgebung des Königs und schon gar nicht in Meleons unmittelbarer Nähe.“ Das Schwert blinkte im Licht der Laternen. „Man darf sich letztlich nicht wundern. Selbst innerhalb des Adels schwindet die Unterstützung für die königliche Familie. Und mancher hofft wohl, sich mit einer hohen Bestechungssumme eine neue Existenz in dieser Welt aufbauen zu können.“

„Weshalb unterstützen Sie den König? Sie scheinen doch jedenfalls Prinz Florindel nicht gerade zu schätzen.“

„Unterstütze ich ihn?“, fragte Rochas und musterte aufmerksam die Häuserfronten zu beiden Seiten der Straße. „Ich unterstütze Meleon, der ja nun einmal gezwungen ist, der verlorenen Sache gegenüber loyal zu sein. Und natürlich bin ich Monarchist. Wenn es gegen die Fisary geht, bin ich dabei.“ Er schob Isabell sacht zur Seite. „So“, sagte er. „Da haben wir nun solch ein Vieh!“

Und tatsächlich kam ein schwarzer Panther ganz offen aus der Gasse, aus der auch der letzte nächtliche Angriff erfolgt war.

Rochas nahm Isabell an der Hand und ging mit ihr in die Mitte der Straße hinaus.

„Kommt“, sagte er lockend. „Kommt zu Rochas! Für meinen neuen Mantel brauche ich noch drei oder vier Felle genau von dieser Art.“

Der Panther näherte sich langsam, kam aber nicht auf Reichweite der Klinge heran. Isabell umklammerte die Bratengabel und sah sich nach weiteren Sekoy um. Nirgends war eine Bewegung auszumachen.

„Was willst du?“, fragte Rochas den Panther, ganz als spräche er zu einem Menschen.

Das Tier glitt an ihm vorbei und stellte sich an der Schaufensterscheibe des Hutladens auf. Es gab ein hässliches, quietschendes Geräusch, als die Krallen über das Glas fuhren. Mit steif gehaltener Tatze zog der Panther fremdartige Buchstaben. Es hörte sich an, als würde man eine Schiefertafel mit einem scharfen Messer traktieren.

Rochas blieb ruhig neben Isabel stehen, bis das Tier sich wieder auf alle Viere sinken ließ und mit wenigen lang gestreckten Sprüngen in der Gasse verschwand, aus der es aufgetaucht war.

„Lesen wir also die Botschaft!“

Er ging bis dicht an die Auslage, denn die Buchstaben waren filigran und im trüben Licht kaum auszumachen. Nachdem er die Linien mit der Fingerspitze nachgefahren war, nickte er und wandte sich ab.

„Was steht dort?“, fragte Isabell.

„Sie wollen Meleon“, sagte Rochas. Isabell immer noch an der Hand spazierte er ganz gemütlich weiter. „Und da wir diese Nachricht weitergeben sollen, wird man uns auch nicht angreifen.“

„Was soll das heißen – sie wollen Meleon? – Warum ihn? Warum nicht den König?“

Rochas blinzelte.

„Den König? Was ist er, wenn er seinen verbliebenen Hofzauberer nicht mehr hat?“

„Phineas hat von einem besonderen Gefängnis gesprochen, das sie errichtet haben, um Meleon dort festzusetzen…“, sagte Isabell und es schnürte ihr den Atem ab.

Rochas nickte mitfühlend.

„Ein übler Ort, geschaffen von einem bösen Widersacher. Es ist kein Geheimnis, dass Noshar niemanden so sehr hasst, wie Meleon. Man sagt, er sei deswegen zu den Fisary übergelaufen. Ich meine, es ging ihm vielmehr darum, Macht an sich zu ziehen, aber wie es auch immer sei: er muss Meleon in die Hand bekommen und ihn ausschalten. Dann kann sich ihm niemand mehr entgegenstellen.“

Isabell sagte nichts. Sie dachte an die Müdigkeit, die Meleon befallen hatte und die so gar nicht zu ihm passte. Rochas bemerkte ihre Anspannung.

„Noch haben sie ihn nicht“, sagte er.

„Können Sie ihn besiegen? Können sie das?“, fragte sie impulsiv.

„Noch vor sechs Wochen hätte ich bei einer solchen Frage gelacht“, erwiderte Rochas. „Aber inzwischen bin ich nicht mehr sicher. Noshar hat sich lange verborgen gehalten und scheint nun stärker und zauberkundiger. Meleon hat angedeutet, Noshar könne im Tal von Jasir gewesen sein, um die Aufzeichnungen des Zweiten Großmagiers zu suchen, die dort vergraben wurden. Dieser berühmte Zauberer war vor dreihundert Jahren einer der Begründer der Magischen Hofschule, ein äußerst mächtiger Mann, der sechs nicht eben schmale Bände hinterlassen hat, in denen das gesamte magische Wissen seiner Zeit niedergeschrieben ist. Wenn Noshar diese Bücher gefunden hat, wäre er nun im Besitz von Fähigkeiten, die ihm nicht zustehen.“

„Wie die Herstellung von Sekoy?“

„Genau das“, sagte Rochas. „Und das mag dann durchaus noch nicht alles sein, was er gegen seine Gegner einsetzen kann.“


Isabells Vater war selbstverständlich entzückt, Meleon behilflich sein zu dürfen. Er holte seine Tasche und sie wollten eben aufbrechen, als Prinz Finyon aus dem Esszimmer kam.

„Rochas!“

„Hoheit“, sagte Rochas höflich und verneigte sich.

„Was geht vor? Weshalb lässt sich Florindel nicht mehr sehen?“

Rochas setzte ihn über die Ankunft des Kabinetts in Kenntnis und sagte dann wie nebenbei: „Euer Vater ist ebenfalls eingetroffen.“

Der Prinz starrte sekundenlang auf den Teppich, auf dem das königliche Wappen prangte, und rang sich ein Lächeln ab.

„Welche Erleichterung für uns alle.“

Rochas verneigte sich erneut.

„Möchte Eure Hoheit mitkommen und in Meleons Haus Quartier beziehen? Es sieht ganz so aus, als würde die Stadt in den nächsten Stunden angegriffen.“

„Angegriffen? Von Fisary?“

Als Rochas nickte, wurde Prinz Finyon blass.

„Und unsere Truppen?“

„Wir haben keine“, sagte Rochas. „Die letzte Hundertschaft wurde im Kampf um die Schwelle aufgerieben.“

„Ja, verdammt! Dann müssen wir eben Soldaten ausheben!“

„Und womit werben wir Rekruten an?“, fragte Rochas. „Die königlichen Schatullen sind leer, oder, genauer gesagt, nicht in unserer Reichweite.“

Prinz Finyon rieb sich die Wange, dann das Kinn und seine Finger spielten an seinem Kragenknopf, als bekäme er schlecht Luft.

„Keine Truppen?“, fragte er.

„Seine Hoheit wird sich zweifellos heldenhaft in höchsteigener Person in den Kampf werfen, wenn es an Soldaten mangelt“, sagte Rochas.

Prinz Finyon spitze die Lippen und schüttelte den Kopf.

„Ich denke ja gar nicht daran! Was ist mit unserem hochwohllöblichen Hofmagier? Hat der nichts aufzubieten?“

Isabell zog Rochas am Gewand.

„Wir können nicht länger herumstehen! Niklas ist schwer verletzt.“

Rochas nickte.

„Kommt also, Hoheit oder lasst es bleiben!“, sagte er.


Auf dem Rückweg hielt sich der Prinz dicht bei Rochas, während Isabells Vater zuversichtlich ausschritt und dabei seine Tasche schwenkte.

„Ich war die Rheumakranken, die Fettlebern und all die gichtigen alten Rotweintrinker leid“, sagte er. „Nun wird sich einmal zeigen, ob ich noch weiß, was ich in der Charité gelernt habe. Da habe ich Virchow persönlich sezieren sehen! Ja, dein Vater kann mehr, als eine Kleinstadtpraxis zu betreuen, Isabell, mein Schatz!“ Er zeigte sich kein bisschen befremdet von dem blanken Schwert, das Rochas hielt. Eher schien die martialische Geste Erinnerungen zu wecken. „Man darf auch nicht vergessen, dass ich immer noch Offizier der Reserve bin“, sagte er stolz.

„Dr. Fechter – Sie sind ein Mann nach meinem Geschmack!“, entgegnete Rochas. Sein Blick streifte den Prinzen. „Lord Thosa wird entzückt sein, wenn Sie ihn dabei unterstützen, die Verteidigung der Stadt zu planen. Er ist der Minister für Landgewinn.“

Landgewinn hört sich gut an“, sagte Isabells Vater. „Das hat etwas Zupackendes. Lord Thosa kann auf mich zählen.“


Isabell verspürte wenig von dieser kämpferischen Stimmung. Sie fühlte sich noch schlechter, als sie endlich den Laden erreicht hatten, denn Niklas lag auf dem Küchentisch und wimmerte nur noch. Er reagierte nicht mehr auf seinen Namen und schien Isabell auch nicht zu erkennen. Meleon stand neben ihm und machte einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass Isabell seine Hand fasste. So warteten sie, bis Dr. Fechter seine Untersuchung abgeschlossen hatte.

„Nun?“, fragte Meleon heiser.

Dr. Fechter machte eine unbestimmte Geste.

„Auch in der Charité konnten sie keine Wunder wirken“, sagte er. „Ich gebe ihm ein wenig Opiumtinktur und mache mich daran, die Wunde zu reinigen. Wenn wir eine Sepsis vermeiden können, ist er noch zu retten.“

„Dann verhüten Sie diese Sepsis“, befahl Meleon. „Wir werden unterdessen eine Inspektion der Truppen vornehmen.“

Im Laden waren die Blenden herabgelassen und die Lichter gelöscht. Dort im Dunkel tastete Meleon nach Isabell und zog sie an sich.

„Wir stehen vor einer Schlacht“, flüsterte er. „Und wir können dabei untergehen. Das ist nur meine Schuld.“

„Wieso deine Schuld?“

„Weil ich meinte, alles im Griff zu haben. Weil ich mir keine Mühe gab, Zamera das Wissen abzuringen, das sie besessen haben muss. Weil ich nicht glauben wollte, dass sie hier, in deiner Welt, tatsächlich einen Krieg vom Zaun brechen würden. Und mein schlimmster Fehler: Ich wusste inzwischen, dass Noshar lebt und habe dieser Tatsache nicht die gebührende Bedeutung beigemessen.“ Er seufzte. „Ich wollte hier nur in Frieden mein Leben leben. Nichts weiter. Ich war des Kämpfens müde. Ziemt sich das für einen dunklen Magier? Nein!“

„Was ziemt sich denn?“, fragte Isabell. „Blutvergießen? Schwarzer Zauber?“

„Es wird darauf hinaus laufen. Du musst nicht glauben, ich würde davor zurückschrecken. Nur garantiert es uns noch lange nicht den Sieg. Und ich habe in meiner Einfalt den Schauplatz dieser Schlacht unbeabsichtigt in deine Heimatstadt verlegt.“ Er streichelte ihr Haar. „Was nun kommt, das hätte ich dir gerne erspart. Aber es gibt keinen Ausweg. Deswegen müssen wir nun tatsächlich aufbrechen und das Militär zur Verteidigung einsetzen, die Reserve ausheben und die Bürger über Nacht in eine Miliz verwandeln. Nicht wenige Männer haben Kampferfahrung aus dem Krieg gegen Frankreich. Sie wissen immerhin, dass ein Gegner sich nicht auf Drohgebärden beschränken wird, sondern im Zweifel angreift und auch tötet.“

Isabell schauderte.

„Können wir denn nichts tun, um das noch zu verhindern? Können wir sie nicht anders aufhalten?“

Meleon lachte trocken.

„Wir könnten es, wenn ich nicht magisch zur Loyalität gezwungen wäre. Andernfalls würde ich mich einfach lossagen und Seine Majestät dürfte selber sehen, wie er mit der Sache fertig wird. Aber erstens kann ich es eben nicht, zweitens wäre es unwürdig und zum dritten vielleicht auch vergebens, denn Noshar will zuallererst mich, nicht den König. Mit dem wird er dann schon fertig, wenn ich einmal aus dem Weg geräumt bin. Tja. Und das ist das ganze Elend. Wir sitzen in der Falle und können nur um uns beißen.“

„Und die Magie?“, drängte Isabell. „Kann sie uns jetzt nicht helfen?“

„Sie wird uns helfen. Aber sie wird nicht genügen. Zauberei ist kein Wirken von Wundern. Zauberer sind nicht allmächtig. Und je größer ihre Zauber, desto größer ist der Preis, der dafür entrichtet werden muss. Ich bin bereit, alle Kraft in einem einzigen Zauber zu bündeln, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Aber noch hoffe ich, dass uns eine Wahl bleibt.“ Er küsste sie heftig auf den Mund, schob sie dann rückwärts und hielt sie auf Armeslänge. „Ich Narr hätte die Hochzeit nicht verschieben dürfen. Nun bleibt uns eigentlich keine Zeit…“

„Aber?“, fragte Isabell.

„Vielleicht ist es nicht irgendeine beliebige Nacht, sondern die einzige und letzte.“

„Siehst du tatsächlich so schwarz? Warum? Du verfügst über so viel magische Macht. Und wir haben die Minister, wir haben Rochas mit seinem Schwert…“

Er nahm ihre Hände.

„Ich werde die Stadt retten“, sagte er. „Wir werden die Angreifer zurückschlagen. Dann gliedere ich diesen Ort aus, exterritorialisiere ihn und umgebe ihn mit einem Schutzwall, den nicht einmal ein Noshar bezwingen kann.“

„Wenn du so entschlossen bist, warum sagst du dann solche Sachen? Die einzige und letzte Nacht? Was meinst du damit, Meleon?“

Seine Finger umschlossen ihre Hände.

„Um diesen Zauber zu wirken, muss ich außerhalb des Gebietes sein, das ich exterritorialisiere.“

„Du kannst dann nicht mehr zu uns? Meinst du das?“, fragte Isabell und wünschte, sie hätte seine Augen sehen können. Doch es war zu dunkel.

„Das meine ich. Noch hoffe ich, dass wir sie vertreiben und uns anders helfen können. Aber wenn wir ein Blutbad verhindern wollen, die Plünderung der Stadt…“

Er sprach nicht weiter. Vielleicht wollte er ihr die Schrecken einer Eroberung nicht ausmalen.

Still standen sie beieinander, ihre Händen in seinen. Es roch nach Spanschachteln, Buttergebäck und Schokolade. So vertraut. So tröstlich.

Irgendwann nahm er Isabell in die Arme, legte seinen Kopf auf ihre Schulter und sie spürte seinen Atem durch den Stoff ihres Kleides.

„Haben wir denn Zeit genug?“, fragte sie. „Für diese letzte Nacht?“

„Ja“, sagte Meleon.

Dann fiel die Glastür des Ladens in Scherben.