Sekoy
Meleon begleitete sie durch die nächtlichen Straßen nach Hause.
„Darf ich noch mit hinein kommen?“, fragte er wohlerzogen.
Isabell nickte resigniert. Daraufhin schwang die Haustür wieder einmal ganz von alleine auf. Goldenes Licht fiel auf den Teppich mit dem eindrucksvollen Wappen.
Ihre Eltern warteten auf sie und äußerten sich erfreut, dass Isabell den Heimweg in solch guter Hut angetreten habe.
Kein Wort des Tadels.
„Hören Sie, Herr Meleon! Mir ist das unheimlich. Sie haben meine Eltern vorher nicht gekannt. Diese Reaktionen sind so absonderlich. Es beunruhigt mich. Können Sie den Zauber nicht rückgängig machen?“
„Das wäre kompliziert. Außerdem hätten Sie dann wieder Mühe, Ihre abendliche Abwesenheit plausibel zu machen. Abgesehen davon wollte ich Ihren Vater gerade bitten, uns bei Zameras Behandlung zu helfen. Hebe ich den Zauber auf, weiß man nicht, was er zu der Bitte sagen würde, ein Einhorn zu verarzten.“
Isabell nickte widerstrebend.
„Können Sie die Wunden mithilfe von Magie nicht viel wirkungsvoller behandeln?“, fragte sie.
Meleon schnalzte.
„Ich habe keine Heilkräfte übertragen bekommen. Das Wenige, das mir zur Verfügung steht, habe ich mir damals angeeignet, indem ich gegen ausdrückliches Verbot auf dem Dach kauerte und durch die Dachluke bei einigen Unterweisungen zusah, die ein anderer erhielt. Gegen einen erfahrenen Arzt bin ich damit immer noch im Nachteil. Und Zamera verdient schnelle Hilfe.“
Dagegen wusste Isabell nichts einzuwenden. Sie dachte an Zameras schmerzerfülltes Atmen. Um wieviel schlimmer mussten diese Verletzungen sein, wenn man sich in seine menschliche Gestalt zurückwünschte, sich nicht äußern konnte…
„Natürlich“, sagte sie deswegen. „Aber ganz egal, wie wirksam Ihre Zauber sind, wird mein Vater nicht schlecht erschrecken, wenn er sich plötzlich einem Einhorn gegenüber sieht.“
„Ich werde ihn auf den Anblick vorbereiten“, versprach Meleon.
Ab dem folgenden Abend nahm Isabell ihre täglichen Besuche in Meleons Laden wieder auf. Mit noch mehr Eifer widmete sie sich dem Fertigen von Cremes und Gebäck. Das Geheimnis der Schokoladenzubereitung wurde ihr jedoch immer noch vorenthalten.
„Dazu fehlt uns nun die Zeit“, sagte Meleon ernst. Er war ständig damit beschäftigt, Zameras Wunden zu waschen und die Wundränder zu pudern, ihr Wasser einzuflößen und ihr von dem Gemisch zu geben, das Isabells Vater nach vorsichtiger Absprache mit einem befreundeten Tierarzt entwickelt hatte, um Zamera bei Kräften zu halten.
Isabell brachte sich selbst bei, eine perfekte Wiener Masse aus Eiweiß und Zucker über dem Wasserbad aufzuschlagen und daraus zartes Baiser zu backen. Sie schuf auch die ersten dunklen Armagnactrüffel, die in Baiserkrümeln gewälzt waren.
Meleon probierte sichtlich skeptisch.
Dann lächelte er.
Wortlos verließ er die Küche.
Wenige Augenblicke kam etwas aus dem oberen Geschoss herab geflattert. Es war eine weiße Taube aus Papier, die magisch gelenkt auf Isabells Hand flog und sich ganz von selbst entfaltete.
Willst du mich heiraten?, stand dort in roter Tinte.
Isabell nahm den Bleistift, der immer in der zweiten Schublade von links bereit lag, schrieb ein Nein und wollte das Gebilde falten, doch das Papier nahm von allein wieder Taubengestalt an und flatterte zur Treppe.
Kurz darauf rief Meleon von oben: „Warum nicht?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Isabell wahrheitsgemäß.
Eigentlich hatte Meleon viele Eigenschaften, die ihn liebenswert machen mussten. Er war ein noch junger und zweifellos gut aussehender Mann mit undeutbaren braunen Augen und einem charmanten Lächeln. Seine Hände zu beobachten, wenn er Schokolade verarbeitete, bereitete Isabell jedes Mal Vergnügen. Sie teilten die Freude an köstlichem Konfekt und zart duftenden Schokoladen.
Aber Meleons andere Seite beunruhigte Isabell. Sie ärgerte sich über sein unerschütterliches Selbstbewusstsein, die Verzauberung ihrer Eltern und die Arroganz, die er manchmal nicht verbergen konnte, obwohl er sich offensichtlich Mühe gab.
Wenn sie seinem Drängen nachgab – welche Eigenschaften würden dann zum Vorschein kommen?
Isabell hatte oft genug erlebt, wie überrascht Freundinnen und Kusinen waren, wenn sich der holde Angetraute nach der Hochzeit als Langeweiler, herrschsüchtiger Tyrann oder gar Trinker herausstellte. Und sie alle hatten gewöhnliche Männer geheiratet. Keine Zauberer.
Meleon behauptete ja nicht einmal selbst, dem Guten zu dienen. Isabell ahnte, dass er in Wut und Rache wahrscheinlich kein Maß kannte. Wie verlief wohl ein Streit zwischen Eheleuten, wenn der Ehemann ein dunkler Magier war?
Empfing man als Gattin eines Zauberers andere Frauen zum Kaffeekränzchen? Strickte und nähte man für Wohltätigkeitsbasare? Und waren Kinder von Zauberern selbst kleine Zauberer?
Sie schüttelte den Kopf.
Für einen solchen Schritt fühlte sie sich eindeutig noch nicht reif.
Außerdem war sie sich nicht sicher, ob es ihr gefiel, dass er nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau und seiner Kinder wieder heiraten wollte.
Oder ging es ihm genau darum? Kinder?
Sie legte den Bleistift fort und schloss die Schublade.
Auf sie wartete nun erst einmal feinstes Baiser, das sie in dreierlei Konfekt verwandeln würde.
Ungewöhnlich früh war sie an diesem Abend fertig, legte die Schürze ab, wusch sich die Hände und wünschte Meleon eine gute Nacht.
„Soll ich Sie nicht nach Haus begleiten?“
„Es ist doch gerade erst acht Uhr“, sagte sie. „Vielleicht gehe ich noch bei meinem Vater in der Praxis vorbei. Er hat heute Morgen gesagt, es könne spät werden. Es ist Erkältungszeit.“
„Wie Sie meinen, Isabell. Dann bis morgen Nachmittag!“
Sie verließ den Laden durch die Vordertür, hörte Meleon abschließen, und schlenderte an den Auslagen der benachbarten Geschäfte vorbei, denn die Luft war mild und roch angenehm herbstlich, genau richtig für einen gemütlichen Abendspaziergang.
Zwei Straßen weiter betrachtete sie eben einen hübsch dekorierten Hut in der Auslage, da sah sie eine Katze im Fenster gespiegelt. Eine sehr große Katze. Sie betrachtete die Spiegelung, ohne sich umzudrehen. Ein Kachmar konnte es nicht sein, denn das helle Fell hätte auch jetzt nach Sonnenuntergang nicht so dunkel gewirkt. Also war es wohl ein Dashân. Folgte ihr Meleon? Oder ließ er ihr folgen?
Die Raubkatze trat aus dem Schatten der gegenüberliegenden Gasse ins Laternenlicht hinaus.
Isabell drehte sich um.
Das Tier war schwarz.
Ein schwarzer Panther.
Sofort zog es ihr den Magen zusammen.
Meleon hatte niemals schwarze Sekoy gemacht. Sie waren alle entweder weiß, cremefarben oder trugen eine Braunschattierung.
Gelbe Katzenaugen leuchteten auf. Der Panther schlug angriffslustig mit dem Schweif.
Isabell machte einen Schritt zur Seite.
Der Panther duckte sich.
Jetzt nicht rennen!
Raubkatzen waren schneller als Menschen.
Aber würde das Tier sie in Ruhe lassen, wenn sie einfach ganz still stehen blieb?
Isabell bezweifelte es.
Geduckt kam der Panther näher.
Dann entdeckte Isabell eine zweite schwarze Raubkatze, die sich von der anderen Seite näherte.
Ihr Mund wurde trocken.
„Wenn Meleon sie schickt, reiße ich ihm den Kopf ab“, dachte sie, und dabei war sie vollkommen sicher, dass diese Sekoy nicht von Meleon kamen.
Sie bemühte sich, so wenig wie möglich den Kopf zu drehen, während sie ihre Umgebung musterte, um einen Fluchtweg zu finden. Hinter ihr war die abweisende Ladenfront. Neben ihr mündete ein Gässchen, in dem zwei Raubkatzen sie schnell einholen und stellen würden. Auf der anderen Seite verlief die mäßig beleuchtete, gerade Straße, die nicht die geringste Deckung bot. Und sie hatte nichts bei sich, was dazu dienen konnte, die Tiere von sich abzuhalten.
Ihr wurde kalt.
Als plötzlich etwas neben ihr aufleuchtete, hätte sie beinahe geschrien. Es flirrte und surrte wie eine höllische Konstruktion, drehte sich im Flug rasend schnell um die eigene Achse und schoss unvermittelt auf die nähere der beiden Raubkatzen zu.
Das Tier maunzte und machte einen Satz in die dunkle Gasse. Dann kamen zwei weitere Lichtbälle über das Dach, sanken an der Hausfront abwärts und machten sich gemeinschaftlich auf die Jagd nach dem zweiten Panther.
Isabell bekam vor Aufregung kaum Luft.
Sie überlegte noch, ob sie in die Gasse flüchten sollte, da kam von links etwas angezischt, das ihr Herz noch heftiger pochen ließ. Im ersten Augenblick hielt sie es für einen riesenhaften Vogel, denn sie meinte, große Schwingen schlagen zu sehen. Dann begriff sie, dass es ein weites Gewand war, das vom Wind gepeitscht wurde.
Obwohl sie Meleon erkannte, drückte sich Isabell gegen die Glasscheibe der Auslage, so unheimlich war sein Anblick. Er stand aufrecht, während es ihn schnell durch die Luft bewegte. Erst als er sacht neben ihr aufsetzte, sah sie, dass er auf einer Scheibe stand, in deren Mittelpunkt ein Stab mit kugeligem Ende aufragte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er scharf.
Isabell nickte und zeigte in die Gasse gegenüber.
„Panther“, brachte sie heraus. „Zwei. Und Lichtkugeln…“
Meleon pfiff.
Darauf kam eine der Lichtkugeln zu ihm.
Er sagte etwas in seiner Sprache und die Kugel schaukelte vor Isabell in der Luft.
„Sie beschützt dich. Warte hier!“, sagte er, stieg wieder auf die metallisch glänzende Scheibe, fasste den Stab und es hob ihn in den Nachthimmel. Aufrecht stehend, aber drei Meter über dem Boden, so schoss er in die Gasse hinein.
Später, zu Hause in ihrem Bett, kam es ihr unwirklich vor. Meleon, der so zornig zurückgekehrt war, wie sie ihn nie gesehen hatte, und der gleichzeitig so sanft gefragt hatte, ob er sie nun wohl nach Hause bringen dürfe. Und dann die Fahrt – oder wie sollte sie es nennen? – auf der glänzenden Scheibe, die Hände um den Mittelstab gekrampft, während Meleon sie gehalten hatte. Der Wind auf ihrem Gesicht. Die Dächer unter ihr. Meleons wild tanzendes Gewand.
Schlaf fand Isabell nicht. Weit nach Mitternacht stand sie auf, schlich in die Küche hinunter und fachte das Feuer im Herd an. Gegen sechs Uhr morgens standen acht kleine Schokoladenpasteten auf einem Blech und Isabell schlief fest, den Kopf auf einem Küchenhandtuch und die Arme um die kupferne Rührschüssel geschlungen.
So fand sie am Morgen die Köchin und schlug bei diesem Anblick die Hände über dem Kopf zusammen.
Kurz vor Ladenschluss betrat Isabell Meleons Laden. Niklas war eben dabei, aufzuräumen.
„Das war ein Schreck“, sagte er, statt einer Begrüßung. „Die Glocke schlug dreimal. Und da kam Meleon angestürzt, blass wie Schnee, und schrie mich an, ich solle alles verriegeln, Sie seien in Gefahr, und weg war er!“
„Was waren das für Raubkatzen?“, fragte Isabell. „Wer außer Herrn Meleon kann Sekoy machen?“
„Eigentlich niemand. Aber gehen Sie hinauf. Er wartet schon auf Sie.“
Der Duft der heißen Schokolade empfing sie, doch diesmal hatte der Geruch eine Schärfe wie von Alkohol.
„Was ist es?“, fragte sie, als sie die letzte Stufe nahm. „Orangenlikör?“
„In der Tat“, sagte Meleon. „Eine feine Zutat zu guter Schokolade. Man kröne sie noch mit geschlagener Sahne und bestreue diese mit ein wenig kandierter Orangenschale.“
Er reichte ihr die Tasse auf einer ausladenden goldenen Untertasse, die dasselbe Wappen trug, wie der Teppich in ihrem Elternhaus: eine helle und eine dunkle Katze, stehend, die Tatzen nach außen gerichtet und beide mit einer flachen Krone geschmückt.
Meleon trug an diesem Abend Kleider, wie Isabell sie noch nie an ihm gesehen hatte. Eng anliegende Hosen, Stiefel und ein tailliertes Gewand, dessen spitzenverzierte Ärmel weit herabhingen. Auf seinem Haar saß ein Samtbarett.
„Ein besonderer Anlass?“, fragte sie.
Meleon stellte seine Tasse ab.
„So ist es. Diese Kleider trägt ein Mitglied des Hofes am Tage der offiziellen Brautwerbung.“
„Oh, wer ist denn die Glückliche?“, fragte Isabell abwehrend.
Meleon lächelte nur.
Er nahm von einem Bord über seinem Bett einen Kasten und öffnete ihn. Darin saßen eine helle und eine dunkle Katze auf lichtblauem Samt.
Jede war so groß wie eine Hand, im Detail liebevoll ausgestaltet und mit Augen in der Farbe ihres Gegenübers.
„Schnuppern Sie, Isabell! Und dann weisen Sie mich zurück, wenn das dann noch können!“
Er bewegte den Kasten ein wenig. Ein Geruch nach weißer Schokolade, nach Mohn, scharfem Alkohol und betörender Vanille stieg Isabell in die Nase.
„Wollten Sie in diesem Zusammenhang nicht auf Zauber verzichten?“, fragte sie.
„Das ist keine Magie außer jener der Sinnlichkeit und des guten Geschmacks. Und beides sind Zauber, die Sie ebenso anzuwenden verstehen.“
„Ich tue nichts dergleichen“, sagte Isabell indigniert.
„Sie merken es vielleicht nicht“, entgegnete Meleon und hob den Kasten höher.
Isabell konnte ihre Hand nur mit äußerster Anstrengung davon abhalten, nach dem Kachmar zu greifen. Sie machte einen Schritt rückwärts, auch wenn das einem Eingeständnis gleichkam.
„Was würde geschehen, wenn ich einen von beiden äße? Ich würde ein Sekoy, nicht wahr? Mit welchem Auftrag?“
Sie erwartete, ihn damit in Verlegenheit zu setzen, doch er lachte.
„Das sind keine Sekoy. Diese beiden bieten Verwandlung, ja, aber ohne Auftrag. Es sind Gestaltwandler. Für etwa drei Stunden verleihen sie das Äußere und das Wesen des Tieres, das sie darstellen.“
Isabell dachte an den erschreckenden Augenblick der Verwandlung, ihre Versuche, auf vier Beinen zu laufen, an das rinnende Blut… an die mühelose Kraft, die hinter ihrem Hieb gesessen hatte. Die Schärfe und Klarheit, mit der sie in der halbdunklen Küche alles gesehen hatte.
„Und Sie? Würden Sie den Dashân essen?“
Meleon nickte.
Dann würde er sich also in die geschmeidige, dunkelbraune Katze verwandeln, als die sie ihn gesehen hatte, ehe er für Tage verschwunden war.
Die Vorstellung faszinierte und erschreckte sie.
„Na, schön“, sagte Meleon. „Ich sehe schon, dass ich Ihrer Entschlossenheit ein winziges Bisschen nachhelfen muss.“ Er nahm den Dashân von seinem Platz auf dem lichtblauen Samt, stellte den Kasten auf den Tisch und brach das Schokoladentier in zwei Teile. „Ich werde also nun vollendete Schokolade genießen. Unfehlbar wird dann innerhalb von drei Minuten die Verwandlung eintreten. Was Sie tun, ist allein Ihre Entscheidung. Bis ich wieder zwei Gestaltwandler schaffen kann, vergehen in jedem Fall fast drei Monate.“
Er führte die eine Hälfte seiner dunklen Schokoladenkatze unter ihrer Nase vorbei. Scharf und süß stiegen die Aromen auf. Unwillkürlich leckte sie sich die Lippen. Dann biss er ein Stück Dashân ab. Es gab ein leises Knacken, als der Überzug brach.
Nachdem er die Schokolade gegessen hatte, nahm er den Kachmar heraus, zerbrach ihn ebenfalls in zwei Teile und bot sie Isabell auf beiden Händen.
„Essen Sie ihn, oder werfen Sie ihn weg!“
Isabell atmete entzückt den Geruch der Mohnfüllung. Eine solche seidig glänzende Schokolade, eine solche samtschwarze Füllung konnte man nicht fortwerfen. Undenkbar.
Schon bekamen Meleons Augen einen sonderbaren Ausdruck, zogen sich seine Pupillen auseinander.
Isabell nahm den Kachmar.
Die Mohnfüllung hatte eine alkoholische Komponente, die den Geschmack perfekt abrundete.
Während sie noch dem Aroma nachschmeckte, streckte sich Meleon, löste eilig die Schärpe, die sein Gewand hielt, schlüpfte aus den Stiefeln und aus seiner Kehle drang ein Grollen. Er zog sich das Gewand über den Kopf.
Isabell begriff erst jetzt, dass die Verwandlung sie praktisch zwang, sich zu entkleiden, wenn sie nicht wollte, dass ihre Sachen zerrissen wurden. Schnell brachte sie das Bett zwischen sich und Meleon, und betrachtete zweifelnd die Schnürung ihres Kleides, da sah sie aus den Augenwinkeln, wie er sich die Hose aufknöpfte.
Hastig floh sie die Treppe hinunter und hörte ihn oben maunzen wie einen gekränkten Kater.
Was hatte sie da nur angerichtet! Warum war sie nur so naiv? Aber nun hatte sie keine andere Wahl. Sie spürte schon, wie sich am Rücken Haare aufrichteten und die Finger sich zu Krallen krümmten. Das Kleid bekam sie noch heil herunter, dann merkte sie, dass es klüger gewesen wäre, mit den Stiefeletten anzufangen, durchtrennte mit den schon scharfen Krallen die Schnürung und befreite sich vom quälenden Druck des Leders.
In weiten Sätzen kam Meleon die Treppe herab. Auf der untersten Stufe verharrte er, geduckt und mit nach vorne gerichteten Ohren.
Isabell landete auf allen Vieren. Unsicher ruderte sie mit dem langen Schwanz. Meleon stieg über das zerrupfte Hemdchen hinweg. Seine Augen waren wie Bernstein. Das Fell sträubte sich, ehe es sich glatt anlegte.
Niklas kam in die Küche, musterte die beiden großen Katzen, entschuldigte sich und wollte die Tür zum Laden schließen, da drängte sich Meleon an ihm vorbei. Isabell stolperte noch über die eigenen Beine, als sie ihm folgte. Sie sah ihn mit einem Satz auf die Theke springen, sank in die Hinterhand, wollte es ihm nachtun und erschrak, als es sie viel höher trug. Sie landete auf einem Tablett mit Gebäck, fiel, drehte sich im Fallen und hörte das Tablett zu Boden poltern. Beste Butterkekse regneten herab.
Meleon schien zu grinsen.
Dann stellte er sich auf und holte mit der Tatze das nächste Tablett herunter. Niklas schlug die Hände vor den Mund.
„Nicht doch! Nein!“, rief er, da hatte sich Meleon schon das Regal vorgenommen. Seine Krallen durchtrennten eine hübsch geschlungene Seidenschleife, hoben ganz zart den Deckel an und angelten einen Sahnetrüffel darunter hervor. Mit der Schnauze warf er ihn nach oben, fing ihn und zerbiss ihn. Einen zweiten rollte er Isabell vor die Nase.
Anscheinend mochten Katzen Schokolade. Jedenfalls Gestaltwandler. Isabell leckte sich die Mundwinkel und beteiligte sich dann an Meleons rücksichtsloser Orgie der Zerstörung. Sie fegten alles von den Regalen, zerfetzten Pralinenschachteln und balgten sich schließlich in der Auslage.
Niklas raufte sich die Haare.
„Geht doch nach hinten!“, rief er.
Meleon fauchte.
„Aber die guten Sachen“, protestierte Niklas.
Meleon sah tückisch zu ihm auf und stieß ihn mit dem Kopf einfach um. Niklas saß inmitten von Buttergebäck, Pappfetzen und farbigen Schleifen und schien den Tränen nahe. Isabell schnurrte beruhigend. Sie strich an ihm entlang und seine Hand tastete über ihren Rücken, fanden ihre Ohren und kraulten sie.
Dann schien ihm etwas einzufallen. Er sprang auf, schlug die Tür zwischen sich und den beiden Raubkatzen zu, und man hörte den Riegel fallen. Isabell wunderte sich einen Augenblick, dann fiel ihr ein, dass Zamera ja in der Abstellkammer untergebracht war. Anscheinend vertraute Niklas nicht darauf, dass das Einhorn bei einer solch wilden Lustbarkeit unbeschadet bleiben würde. Mit einem wunderbar geschärften Gehör nahm sie dann auch kurz darauf das Zuklappen der Kammertür wahr. Ein Schlüssel wurde gedreht. Vielleicht sperrte sich Niklas gleich mit ein.
Der sonst so ernste Meleon schien große Freude daran zu finden, seinen eigenen Laden zu verwüsten. Vielleicht verschaffte es ihm auch nur so viel Freude, seinen Körper zu spüren. Isabell jedenfalls war begeistert von ihrer Beweglichkeit. Mit jeder Minute wuchs ihre Beherrschung von Muskeln und Sehnen, was ihr unerhörte Sprünge ebenso erlaubte, wie rasante Wendungen. Sie untersuchte jeden Winkel und war danach bereit, Niklas ein hervorragendes Zeugnis für seine Reinlichkeit auszustellen, denn nirgendwo fanden sich Staub oder Spinnweben.
Irgendwann öffnete Meleon den Drehknopf der Tür und das Spiel dehnte sich auf die restlichen Räume aus.
Nur die Kammer ließen sie ungeschoren. Mit Genuss zerriss und zerkaute Meleon das ohnehin schon ruinierte Hemdchen, das auf dem Küchenboden lag, stieß die Sahnekanne um, und gemeinsam leckten sie süßen Rahm. Isabell bemerkte, wie das Katzenhafte in ihr überhandnahm. Konventionen wurden ihr zunehmend gleichgültig. Das Interesse an Balgen und Toben steigerte sich immer mehr. Dafür nahm die Sorge um das Mobiliar ab. Schon nicht mehr ganz greifbar war der Gedanke, wie unverantwortlich es doch von Meleon war, solch einem Treiben Vorschub zu leisten. Dann hetzte sie hinter ihm die Treppe hinauf. Oben flog die Bettdecke herum. Schokoladentassen kullerten vom Bord. Die Matratze federte und gab Isabell für Sekunden das köstliche Gefühl, zu allem auch noch fliegen zu können.
Meleon maunzte, purrte, forderte sie heraus, jagte sie quer durch alle Räume. Nach und nach spürte sie ein wenig Erschöpfung, aber Meleon gab nicht nach. Er animierte sie zum Haschen, und gemeinsam warfen sie alles um, was noch gestanden hatte. Isabell spürte eine Unruhe, aus der sie selbst nicht schlau wurde, ein Drängen, das wohl von Meleon ausging, vielleicht aber auch von ihr selbst. Prachtvoll, wendig, selbstbewusst und doch zart war dieser Meleon.
Sein Duft war betörend wie herbe Schokolade, seine Stimme manchmal rau, dann wieder seidig, ja singend. Und nun jagte er sie im Ernst. Sie floh, ohrfeigte ihn, dass er den Kopf einzog, doch blieb er ihr trotz allem hartnäckig auf den Fersen. Schnell und schneller kreisten sie durchs Haus wie in einem Strudel, der sie mit sich zog. Dann kauerte sie keuchend unter dem Fenster und plötzlich war sein Gewicht auf ihr. Seine Nase stieß in ihren Nacken.
Isabell hörte sich selbst kreischen.
Herb bin ich nicht, hatte er gesagt, eher süß, oder beizeiten bittersüß.
Oh, wahnsinniger, wildsüßer, gefährlicher Meleon!
Als die Rückverwandlung einsetzte, lagen sie eng zusammen gekuschelt am Boden und schliefen. Isabell fror plötzlich. Ihre Nase streckte sich sonderbar.
Mit einem Schlag kam die Erinnerung. Sie wollte aufspringen, kam aber fürs Erste nicht mehr mit diesem anderen Körper zurecht und hätte beinahe auch noch die Gardinen herabgerissen, als sie Halt suchte. Meleon fuhr auf. Schon sah sie statt dunklem Pelz helle Haut.
Ein weiteres Mal floh sie in die Küche, raffte ihr Kleid auf und wand sich hinein. Während sie an ihrem Rücken herumtastete, beschloss sie, künftig nur noch Kleider machen zu lassen, die sich vorne schnüren ließen, und brauchte schließlich doch Meleons Hilfe.
Als sie sich jäh zu ihm umdrehte, als wolle sie ihn ohrfeigen, hob er nur die Augenbrauen und hielt ihrem Blick stand. Sekundenlang sahen sie einander an, dann fragte sie schroff: „Und was ist nun mit dem Laden?“
„Ich räume auf.“
„Das will ich hoffen! Es wäre nicht recht, Niklas büßen zu lassen, was andere angerichtet haben.“
Meleon nahm sie daraufhin an der Hand, führte sie nach vorne, machte drei wischende Bewegungen und die verstreuten Kartonfetzen erhoben sich in die Luft, ballten sich zu einer Wolke und fielen alle gemeinsam in den Papierkorb, den Meleons Fingerschnippen inzwischen aufgerichtet hatte.
„Ich merke“, sagte Isabell, „dass Sie es sich oft recht einfach machen.“
„Magie ist nicht einfach. Um sie zu beherrschen, mussten Jahre harter Mühen vorausgehen. Aber wenn Sie es lieber sehen, bediene ich mich auch gerne Mopp und Eimer.“
„Ja, ich sähe es gerne“, erwiderte Isabell. „Wir werden das gemeinsam machen. Schließlich haben wir dieses Haus auch gemeinsam verwüstet.“
Er grinste in der Erinnerung, holte dann aber brav die Putzsachen aus der Küche, rief Niklas, der die Zeit tatsächlich bei Zamera in der Kammer verbracht hatte, und trug ihm auf, ein gutes Essen für drei Personen zu machen.
Eine gute halbe Stunde später sah der Laden wieder manierlich aus, wenn auch nur wenig Ware verblieben war. Isabell ging nach oben, richtete Möbel auf und schüttelte die Bettdecke aus. Dabei fiel ein sonderbar geformter Anhänger zu Boden. Sie wollte ihn aufheben, da brüllte Meleon von der Tür her: „Finger weg!“
Sie hatte ihn noch nie brüllen hören. Vor Schreck griff sie daneben.
„Nicht anfassen!“, befahl Meleon hart. Dann schob er sich an ihr vorbei und hob das Schmuckstück auf. Er hängte es sich um den Hals. „Ich bitte um Verzeihung für meinen Ton, aber das war äußerst gefährlich. Ich weiß nicht, wie er dort hinkommen konnte.“
„Bei der Toberei ist er wohl irgendwo herab gerissen worden“, sagte sie, immer noch erschrocken.
Meleon nahm ihre Hand.
„Das ist ein magischer Gegenstand. Ihn zu berühren, ist lebensgefährlich.“ Er streichelte ihren Handrücken. „Nicht böse sein“, sagte er schmeichelnd und hob ihre Hand an seine Lippen.
Isabell seufzte.
„Ich sollte Ihnen sogar sehr böse sein. Aber anscheinend hat Phineas recht. Sie bezaubern. Und das ist nicht unbedingt schmeichelhaft gemeint.“
„Aus seinem Mund gewiss nicht. Aber wir wollen jetzt nicht ausgerechnet an Phineas denken. Niklas müsste das Essen fertig haben. Lassen Sie uns einfach friedlich beisammen sitzen, seine Kochkünste würdigen, und alles andere auf später verschieben!“