Besuch



In der folgenden Nacht träumte Isabell, Meleon habe einen falschen Sekoy gegessen und säße nun als schokoladenbraune Nachtigall in einem Vogelbauer, gezwungen, Phineas Lieder vorzusingen, die sämtlich von Revolution und Umsturz handelten. Unter dem Käfig wartete eine schwarze Katze, bereit, Meleon zu verschlingen.

Schweißgebadet erwachte Isabell und musste sich erst besinnen, dass ihr der Schlaf Bilder vorgegaukelt hatte.

Erst nach und nach kehrten die Erinnerungen an den vergangenen Abend zurück und sie errötete jäh. Dann wieder kam ihr die Ereignisse in Meleons Laden ganz unglaublich vor. Sie wusch sich mit lauwarmem Wasser und nahm gerade ein Kleid aus dem Schrank, da klopfte es und Tine, das Dienstmädchen, kam mit einer cremefarbenen Karte. In samtigem Braun stand dort:


Sehr verehrte Freundin,

bitte fragen Sie Ihre Eltern, ob es ihnen genehm wäre, heute Mittag hohen Besuch zu empfangen. Die Gäste werden gegen zwölf Uhr erwartet. Da mein bescheidenes Heim nicht geeignet erscheint, eine festliche Tafel auszurichten, wäre ich Ihrer Familie sehr verbunden, wenn wir sie heute Mittag belästigen dürften. Formelle Kleidung und ein Menü mit sechs oder mehr Gängen wären dem Anlass angemessen. Zusammen mit Ihrer Familie und Ihnen wären wir am Tisch zu sechst. Schreiben Sie mir bitte einige Zeilen und Niklas wird sie mit zurück nehmen.

Ihr, Ihnen zutiefst verbundener, Meleon


Isabell schrieb ein knappes ja und gab dem Dienstmädchen die Karte zurück. Sie hatte wenig Lust, stets Meleons Wünschen zu entsprechen, aber diesmal siegte ihre Neugier. Was verstand Meleon unter hohem Besuch? Gäste aus seiner Welt?

Eilig lief sie nach unten, um die Köchin von der Herausforderung zu benachrichtigen. Am Frühstückstisch erzählte sie ihren Eltern von der Nachricht, und wie sie erwartet hatte, sagte ihr Vater, es sei doch äußerst zuvorkommend von Herrn Meleon, sich der Familie Fechter zu erinnern, wenn er ein formelles Essen zu geben gedenke. Welch Glück, dass Sonntag sei, so brauche man keine Rücksicht auf die Praxis zu nehmen.


Eine Minute vor zwölf wurde mehrmals fordernd die Klingel gezogen. Der Hausherr hatte sich selbst in die Halle begeben, um die Gäste zu begrüßen. Er sah sich einem streng gekleideten Enddreißiger gegenüber, der einen Gehstock aus Palisanderholz führte, den Hemdkragen der Mode entsprechend unterm Kinn gebunden hatte, und dazu säuerlich dreinblickte.

Er nickte zur Begrüßung ernst und würdig, verzichtete jedoch darauf, sich vorzustellen. Dr. Fechter führte ihn ins gemütlich ausstaffierte Wohnzimmer und bot ein Gläschen Südwein an, das gnädig akzeptiert wurde.

Sechs Minuten später klopfte es an die Haustür. In Erwartung, Meleon zu sehen, öffnete Isabell. Ein Handwerksbursche zog den Hut vor ihr.

„Grüß Gott, schönes Fräulein!“, sagte er. „Dürfte ein müder Wanderer wohl auf ein Glas Wasser und einen Kanten Brot hoffen? Und ist mein Bruder schon gekommen? – Ein arroganter Mann mit Stock und der Miene eines Magenkranken?“

„Hm, das könnte sein“, sagte Isabell. „Kommen Sie doch bitte herein!“

Der Handwerksbursche hängte sein Bündel an die Garderobe, blinzelte dem Dienstmädchen vertraulich zu und ging dann hinter Isabell her ins Wohnzimmer, wo bisher keine Unterhaltung aufgekommen war. Er verneigte sich vor Dr. Fechter.

„Florindel, wenn´s genehm ist“, sagte er. „Habe die Ehre!“

„Ganz meinerseits“, beteuerte Dr. Fechter.

Florindel schlug dem ersten Gast kameradschaftlich auf die Schulter.

„Na, altes Haus!“, sagte er. „Du wirkst, als sei dir speiübel. Ganz, wie ich dich in Erinnerung hatte.“

Er erntete einen herablassenden Blick.

„Und du gefällst dir immer noch in der Rolle des jungen Herumtreibers. Ich gestehe, dass sie dir wie auf den Leib geschrieben scheint.“

Dr. Fechter zeigte sich ein wenig befremdet von dieser Konversation, doch ehe er eine höfliche Bemerkung gefunden hatte, die beiden Seiten gerecht geworden wäre, kam Meleon. Er war in dunkelbraune Gewänder mit Goldbesatz gekleidet, trug eine glänzende Kappe und verneigte sich tief vor den Besuchern.

„Da seid Ihr ja“, sagte der Ältere mit dem steifen Kragen. „Zu spät, wie ich anmerken muss.“

„Hört nicht auf ihn“, sagte Florindel. „Welch ein Glück, Euch unversehrt vorzufinden. Es gingen schon die schlimmsten Gerüchte.“

Meleon verneigte sich erneut.

„Ich bin froh, Eure Hoheiten bei bester Gesundheit und unverändert anzutreffen. Hat man sich schon miteinander bekannt gemacht? Nein? Dann darf ich vorstellen: Dr. Fechter und seine Gattin, sowie deren Tochter und meine künftige Gattin, Isabell Fechter. – Isabell: Seine königliche Hoheit Prinz Finyon und sein Bruder, Prinz Florindel, die beiden verbliebenen Söhne Seiner Majestät, des Königs.“

„Die verbliebenen?“, fragte Isabell, obwohl sie eigentlich gegen ihre Nennung als künftige Gattin protestieren wollte.

„Seine Majestät hatte sieben Kinder“, sagte Meleon. „Nur drei von ihnen haben den Umsturz überlebt. Prinzessin Meyande ist noch zu jung, um einem Treffen wie diesem beizuwohnen.“

„Gerede, nichts als Gerede, wie wir es von Euch gewohnt sind“, sagte Prinz Finyon. „Setzen wir uns endlich zu Tisch! Die Reise war strapaziös und die Eingeborenen auf der gesamten Strecke unverschämt und wenig anstellig.“

Florindel fasste Isabells Hand.

„Darf ich Euch zu Eurer Verlobung beglückwünschen? Meleon hat zwar seine schwierigen Seiten, aber es ist unzweifelhaft nützlich, einen Magier zu heiraten. Man spart sich so viel Arbeit im Haushalt!“

Isabell lachte.

Das schien Prinz Florindel auch beabsichtigt zu haben. Er grinste.

„In dieser Welt wird zu wenig gelacht“, sagte er. „Übrigens auch in jeder anderen. Die Leute sind sauertöpfisch und viel zu ernst, egal, wo man hinkommt. Im Reich der Toten ist noch Zeit genug, Trübsal zu blasen. Im Leben will ich Freude, gutes Essen, die üblichen Vergnügungen und dazu einige der weniger üblichen, um es nicht langweilig werden zu lassen.“

„Es tut mir leid, er ist so“, sagte Meleon. „Das Nesthäkchen.“

Prinz Florindel zwinkerte.

„So ist es. Ich mag diesen Ausdruck. Mein Bruder hingegen ist der Älteste von allen Geschwistern und kommt ganz nach dem Herrn Papa. Ein Langeweiler, Despot, Bürokrat und von nur mittelmäßiger Begabung.“

„Sinfrandelî!“, sagte Prinz Finyon böse und der Jüngere verstummte für wenige Augenblicke. Dann überschüttete er Isabell mit einem Schwall Anekdoten aus seiner Wanderzeit quer durch Süddeutschland, bis Meleon die Augenbrauen hob und sagte: „Verschont meine künftige Gattin mit Euren Geschichten, seid so gütig, Hoheit. Sie hat eine äußerst gediegene Erziehung genossen und vermag mit derlei Eskapaden nichts anzufangen.“

„Oh, schade“, sagte Prinz Florindel und widmete sich mit mehr Aufmerksamkeit dem ausgezeichneten Essen.

Nach der Mahlzeit zogen sich die Gäste auf die eilends zurechtgemachten Zimmer zurück und Meleon sagte zu Isabell: „Der Umgang mit Hoheiten war niemals leicht. Seit dem Umsturz sind beide noch sonderlicher geworden. Man weiß nicht, welchen man lieber als Nachfolger ihres Vaters sehen möchte. Ich persönlich zöge es vor, Prinzessin Meyande würde Teliyas auf den Thron folgen, doch die Prinzen haben ihren Vater bisher davon überzeugen können, das Erbrecht nicht auf die weibliche Linie auszudehnen.“

„Nun, es geht wohl ohnehin nur um eine Exilregierung, nicht wahr?“

„Es scheint nicht unbedingt ratsam, Regierungen mit weniger Befähigten zu besetzen, wenn die Zeiten schwierig sind“, sagte Meleon. Er seufzte. „Genießen wir ein wenig der Ruhe. Wenn beide ausgeschlafen sind, muss ich sie mit den aktuellen politischen Entwicklungen bekannt machen. Das wird die Laune nicht heben.“

Unerwartet ließ er seinen Kopf auf ihre Schulter sinken.

„Willst du in all dieser Wirrnis mein Halt und meine Stütze sein?“, fragte er.

Isabell fühlte sich ungeschützt getroffen. Sie kannte Meleon als drängend, stark und eingenommen von sich selbst, und war nun unerwartet gerührt von der Hilflosigkeit, die in seinem Ton mitschwang.

Leider war ihm zuzutrauen, dass der Effekt aufs Genauste berechnet war.

„Wie könnte ich das?“, fragte sie leise. „Ich verstehe so wenig von alldem.“

Er nahm ihre Hand.

„Indem ich dich neben mir weiß“, sagte er.

„Ich bin neben dir“, erwiderte sie schroff.

„Für immer?“, fragte er mit einem Augenaufschlag, der wirklich nicht zu ertragen war.

Isabell seufzte. Sie kam sich vor, als wolle ihr das Korsett die Luft abschnüren.

„Es ist ungebührlich, wie du deine Kräfte einsetzt“, sagte sie vorwurfsvoll.

Meleon streifte ihren Handrücken mit den Lippen.

„Diese Kräfte sind ganz und gar keine Zauberei“, behauptete er. „Sie stehen grundsätzlich allen Liebenden zur Verfügung.“

„Hast du deine erste Frau auch so umworben?“

Sie hoffte, ihn damit aus dem Konzept zu bringen, doch er lächelte.

„Ich bin froh, dass du es so formulierst, denn es lässt hoffen, dass du dich mit dem Gedanken anzufreunden beginnst, Meleons zweite Frau zu werden. Im Übrigen habe nicht ich um sie geworben, sondern sie hat es sich in den Kopf gesetzt, mich zu heiraten. Der König war davon anfangs wenig entzückt, hat dann aber sein Einverständnis gegeben, weil Lilya am Ende immer bekam, was sie wollte.“

„Und du? Du wolltest sie nicht? Eine Prinzessin?“

Er sah sie an.

„Uh, ich war nicht verliebt. Lilya war nicht die hübschere der beiden älteren Prinzessinnen, dazu von sehr bestimmendem Wesen und berühmt für ihren kostspieligen Lebenswandel. Drei Monate lang war unsere Ehe eher eine Reihe von Scharmützeln. Eines Abends standen wir am offenen Fenster, wollten uns wie üblich angiften, der Mond schien, Grillen zirpten und die Wiesen wirkten bläulich und da wurde aus dem Streit etwas anderes. Danach haben wir eine siebenjährige Ehe ohne ein böses Wort geführt, drei Kinder gehabt, und die Zukunft schien auf goldverbrämten Wolken heranzuziehen. Aber innerlich waren diese Wolken schwarz wie Ruß und Asche.“ Er hielt Isabells Hand so fest, dass es weh tat. „Ich werde nicht erzählen, wie ich in eine Halle hastete, in der alles brannte und… Lilya fand. Die Wiege…“

Er senkte den Kopf und Tränen fielen auf Isabells Hand.

Bestürzt schlang sie die Arme um ihn.

Er stand ganz still, das Gesicht gegen ihre Schulter gepresst. Nach einer Weile machte er einen Schritt rückwärts, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen fort und fragte: „Ist Schokolade im Haus?“

Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn in die Küche. Dort gab es handelsübliche Blockschokolade, die Meleon mit sichtlichem Grausen betrachtete.

„Das nennst du Schokolade?“

„Das ist eben das, was unsere Köchin vorrätig hält.“

„Erinnere mich daran, dir einige Pfund von meiner Schokolade für euren Haushalt mitzugeben! Und nun lass uns das Beste daraus machen!“

Er schmolz die Schokolade im Wasserbad und bearbeitete sie dann lange mit dem Schneebesen, jedoch ohne zu schlagen. Vielmehr bewegte er den Schneebesen sacht und gleichmäßig, zog ihn in einem Bogen nach oben, ließ ihn wieder eintauchen und wiederholte das unermüdlich, bis er endlich zufrieden war. Dann trennte er Eier, schlug Eiweiß steif, bestreute es mit ein wenig Mehl und Salz, arbeitete Zucker unter, dann die geschmolzene und nun fast erkaltete Schokolade und goss alles in Ramequinförmchen. Als sie nebeneinander in einer mit Wasser zur Hälfte gefüllten Backform im Herd standen, fragte Isabell: „Wie kommen deine Schokoladen denn nun zu ihrem Schmelz? Indem du sie rührst und rührst?“

Meleon nickte.

„Gewissermaßen. Aber die Prozedur verlangt viel Geduld, die richtigen Schaufelblätter, eine gleichmäßige Temperatur und natürlich Zeit. Schneebesen eignen sich eigentlich recht wenig dazu. Die Schokolade muss mit Luft in Berührung kommen und dabei unermüdlich bewegt werden. Keinesfalls darf die Masse schaumig werden. Geht man zu hastig vor, entstehen Bläschen. Das darf nicht geschehen.“

„Du erzählst es mir also?“

Meleon nickte. Dann küsste er sie ganz vorsichtig auf den Mund.

„Wirst du mich heiraten?“, fragte er.

Sie sah in seine dunklen Augen und hörte sich selbst seufzen.

„Ich fürchte schon.“

„Die Furcht ist berechtigt“, sagte er. „Man verfolgt mich, und neben mir gerätst auch du in Gefahr. Du hast es erlebt: jemand hat Sekoy ausgesandt, obwohl das eigentlich gar nicht möglich sein dürfte. Und sie haben dich eingekreist und attackiert. Hätte ich nicht schon vorher Maßnahmen zu deinem Schutz ergriffen, hätte diese Begegnung tödlich sein können. Aber diesmal weiß ich, dass sie auch vor Frauen und Kindern nicht Halt machen. Wir gehen gewappnet in diesen Krieg.“

Isabell schauderte.

„Ist es das? Ein Krieg? Bisher habe ich Phineas gesehen und die beiden Panther…“

Meleon nickte.

„Nennen wir es beim Namen! Die Fisary tragen den Kampf in deine Welt. Werden sie nicht zurückgeschlagen, dann bedeutet das zuerst den Tod aller Menschen hier in der Stadt und dann tatsächlich einen gewaltigen Krieg, der sich zumindest auf die deutschen Lande erstrecken wird, wenn nicht darüber hinaus. Wenn du mich unter diesen Umständen heiraten willst…“

„Unter diesen Umständen, ja!“, sagte Isabell entschlossen.

Er küsste sie, fuhr dann aber herum, zog die Herdklappe auf und sagte: „Verdammt, das war knapp! Beinah wären sie misslungen!“

Isabell musste lachen.

„Immerhin gut zu wissen, dass du im Fall eines Falles immer zuerst an die Schokolade denken wirst.“

Er grinste.

„Nichts ist schreckenerregender als verkohlte Schokoladensoufflés!“

Dann lachte er mit ihr.