Eine feine Linie aus Licht



Rund um die Reste des Ost-Tores lagen Verteidiger und Angreifer dicht an dicht. Fallende Trümmer hatten die meisten von ihnen erschlagen und Blut quoll unter Stein hervor. Ein Offizier der Reserve war gegen eine Mauer gesunken, ein kleines, kreisrundes Loch in der Stirn und eine tote weiße Taube zu seinen Füßen.

Isabell irrte durch ein Labyrinth aus Schutthaufen und beachtete die Angreifer gar nicht mehr. Das besorgten ja die Lichtsphären. Sie selbst wollte nur noch eins: vertraute Gesichter sehen, sich überzeugend, dass es ihrem Vater gut ging, dass Meleon nicht mehr hinkte, dass er die Übermacht trotz allem zurückschlagen würde…

Als sie ihrem Vater dann direkt in die Arme stolperte, war ihre Erleichterung so groß, dass sie sich nur an ihm festhalten konnte. Er hatte ein schmutziges, blutgetränktes Tuch um die linke Hand gewickelt, sah aber sonst unverletzt aus.

„Wo ist Meleon?“, brachte sie heraus.

Ihr Vater wies dorthin, wo der Ost-Turm gestanden hatte.

„Er verhandelt mit diesem Burschen, Phineas.“

„Wir müssen zu ihm! Sofort!“

Sie zog ihren Vater mit sich Richtung Tor. Sie sahen schon von weitem die weiße Fahne der Unterhändler im kalten Wind heftig hin und her flattern. Daneben standen Phineas und Meleon und sprachen miteinander. Ein Stück weit fort warteten bewaffnete Fisary, ihre Klingen zu Boden gerichtet, aber wachsam.

„Das ist ganz bestimmt eine Falle“, keuchte Isabell und begann zu rennen.

Sie war noch nicht auf fünfzig Meter herangekommen, da flimmerte plötzlich die Luft, so als sei es auf einmal sommerlich heiß über der Wiese, und im nächsten Augenblick spie dieses Flimmern eine Gestalt aus.

Meleon machte einen Satz rückwärts und fasste nach seinem Stab, doch entweder hatte er ihn für die Verhandlungen abgelegt, oder verloren: dort, wo er hin griff, war nur die leere Schlaufe.

Die weiße Fahne zuckte, ging in Flammen auf und war im nächsten Augenblick nichts als ein schwärzlicher Lappen, der jämmerlich von der Holzstange herab hing. Fisary spannten ihre Bogen. Pfeile wurden aufgelegt, Klingen aufgerichtet.

„Meleon!“, schrie Isabell.

Er drehte sich nicht zu ihr um.

Dann trommelten Hufe auf dem gefrorenen Boden. Mit gezücktem Schwert galoppierte Rochas an Isabell vorbei und auf die Kontrahenten zu. Doch bevor er sie erreichte, gab es ein kurzes Aufblitzen, das Pferd strauchelte und Rochas wurde zur Seite geschleudert. Sein Schwert fiel ins Gras.

Keuchend erreichte Isabell die Stelle und hob die Waffe auf. Rochas kam auf die Füße, stolperte auf Isabell zu und nahm das Schwert aus ihrer Hand.

Meleon jedoch schien ohne seinen Stab wie gelähmt, jedenfalls stand er reglos und sah die Gestalt nur an, die sich so unversehens vor ihm materialisiert hatte: ein hochgewachsener Mann, weit größer als Meleon, in dunkles Leder gekleidet, das mit Stacheln aus glänzendem Silber besetzt war, und einem Helm, der das Gesicht bis auf einen schmalen Schlitz für die Augen verdeckte.

„Ist das Noshar?“, keuchte Isabell.

Rochas nickte.

Obwohl sie eigentlich nicht mehr weiter konnte, rannte Isabell auf Meleon zu. Sie würde sich vor ihn werfen, Noshar würde sie angreifen und von den Sphären ganz einfach getötet werden, und dann würde plötzlich alles vorbei sein und sie würden friedlich und glücklich leben.

Das alles schien so klar, so leicht erreichbar. Meleon hatte Noshar hergelockt. Er wusste, dass die Sphären jeden Gegner bezwingen konnten, dass er gar nichts tun musste…

Noshar streckte die Hand aus und hielt einen violetten Edelstein in einer silbernen Fassung ins Licht. Klein und harmlos sah der Stein aus, wie die behandschuhte Hand ihn hielt: zwischen Daumen und Zeigefinger, fast wie ein äußerst zerbrechliches Vogelei.

Und doch war es plötzlich ganz still.

Rochas stand wie zum Sprung bereit, mit gebeugten Knien.

Meleon hatte den Kopf gesenkt, als habe er längst aufgegeben.

Die Fisary richteten ihre Klingen nach unten und viele von ihnen bewegten sich langsam rückwärts, ohne den Stein aus den Augen zu lassen, warfen nach einigen Schritten ihre Waffen fort und begannen zu rennen. Nur die beiden Axtträger blieben unbewegt neben ihrem Herrn stehen.

Ganz leise sagte Meleon etwas zu Rochas. Daraufhin wirbelte Rochas herum, traf Phineas mit der flachen Klinge an der Schläfe, packte ihn an der Kehle und zwang ihn zu Boden.

Meleon machte einen Schritt nach hinten, tastete nach Isabell, als suche er den Schutz der Sphären, und flüsterte: „Gleich wird eine Linie aus Licht erscheinen. Berührt sie nicht! Unter keinerlei Umständen!“

Isabell befeuchtete die trockenen Lippen und nickte. Ihr Vater, zuerst fasziniert von der offensichtlichen Angst der Fisary vor dem beinahe winzigen Stein, schob sich an Isabell vorbei und half Rochas, Phineas unten zu halten und ihm die Hände zu fesseln.

Dann sagte Noshar ganz leise: „Meleonda gâ urudhin!“

Meleon riss beide Fäuste nach oben.

„Alyegad nysi saris Halaîn no gamud!“, schrie er.

Die Linie aus Licht erschien: ein feines, hell gleißendes Band, das sich hinter Meleon seinen Weg durch Gras und Erde brannte.

Isabell begriff, dass die Linie sie von Meleon trennte. Sie machte einen Satz nach vorne und wollte darüber hinwegspringen, aber Rochas riss sie so heftig zurück, dass sie stürzte.

„Nicht berühren!“, befahl er.

Er ließ Isabells Arm nicht los. Vergebens versuchte sie, sich loszureißen.

Dann sah sie Meleon plötzlich auf den Knien, als sei er von einem heftigen Schlag getroffen worden und zusammengebrochen. Noshars Axtträger packten ihn am offenen Haar und schleiften ihn daran auf Noshar zu.

Isabell machte einen zweiten Versuch, sich loszureißen, aber diesmal umklammerte Phineas mit den gefesselten Händen ihren Knöchel.

„Das nutzt gar nichts“, rief er.

Isabell beachtete ihn nicht. Sie sah dorthin, wo Meleon am Boden lag und ihn der Stiefel eines Axtträgers am Kopf traf.

Doch Noshar machte eine harsche Geste und der Mann ließ von Meleon ab. Noshar zog ein langes Messer. Isabell hörte sich selbst schreien.

Meleons Haar fiel unter Noshars Klinge.

Mit einem leisen Geräusch, wie dem Ausblasen einer Kerze, erloschen die Sphären rund um Isabell.

Sie holte Atem, bekam kalte Luft in die Lungen und hustete. Ihr Vater fasste sie von hinten um die Schultern.

„Du musst jetzt stark sein!“

Ja, Isabell wäre gerne stark gewesen. Stark genug, um sich aus dem Griff zu winden, diese Linie zu bezwingen und Meleon zu erreichen.

Stattdessen musste sie zusehen, wie eiserne Fesseln um Meleons Handgelenke geschlossen wurden und man ihn davon zerrte, auf die feindlichen Truppen zu.

Meleons letzter Blick über die Schulter galt dann auch nicht ihr, sondern Phineas, der wie gebannt zurückstarrte.

Die hell glänzende Linie breitete sich unterdessen in Windeseile weiter aus und begann, die Stadt bogenförmig zu umschließen.

„So“, sagte Rochas und schob sein Schwert in die Waffenscheide. „Nun hat er es also getan.“

Phineas nickte.

„Was getan?“, fragte Isabell. „Was ist diese Linie?“

Rochas streckte den Zeigfinger aus und beschrieb einen Kreis in der Luft.

„Er hat die Stadt exterritorialisiert. Herausgetrennt.“

„Das ist große, sehr mächtige Magie“, ergänzte Phineas.

„Er hat gesagt, dass er das tun will, aber was bedeutet es? Weshalb können wir diese Linie nicht berühren? Und wo ist die Stadt jetzt, wenn sie sich nicht im Deutschen Kaiserreich befindet?“

Rochas sah zum Himmel auf.

„Ganz offen gesagt: Ich weiß nicht, wo wir sein werden, wenn sich die Linie ganz geschlossen hat. Wir werden es herausfinden müssen. Aber eins weiß ich: wer dieses feine Licht auch nur mit dem Zipfel seines Gewandes streift, den reißt es in eine Zwischenwelt, die weder hier noch dort ist, und aus der man niemals zurückkehrt.“

Isabell fuhr zu Phineas herum, der auf dem gefrorenen Boden kniete und nicht auf die Beine kam.

„Wird Noshar ihn umbringen?“

Phineas schüttelte den Kopf.

„Dazu hasst er ihn viel zu sehr.“

„Also wird er ihn dort hinbringen, wo Sie gesagt haben – in dieses Gefängnis? Mit dem Schacht und den vielen Mauern?“

Phineas wich ihrem Blick aus.

„Ja“, sagte er. „Nach Méklinchyl, das eigens gebaut wurde, um ihn dort festzuhalten und seine Zauberkraft für immer zu brechen.“

Rochas zog ihn mit einem schnellen Ruck hoch und sah ihm aus nächster Nähe in die Augen.

„Und du Hund hast das die ganze Zeit gewusst! Du hast ihn hier herausgelockt, damit Noshar ihm eine Falle stellen konnte. Du, sein ehemals bester Freund! Bah, ich weiß nicht, weshalb Meleon wollte, dass ich dich schone!“

„Meleon wusste es“, sagte Phineas. „Meleon wusste, was geplant war und als wir dort standen, hat er mir gesagt, was er tun würde: die Stadt retten. Seine künftige Frau beschützen. Den König unerreichbar machen.“

Rochas nickte.

„Ja, nur dass wir ja dich kleine Schlange nun mit in diesem scheinbar so sicheren Kreis haben! Lasst uns nicht länger hier herumstehen! Es ist kalt und Meleon sehr viel weiter fort, als es den Anschein hat.“

Dr. Fechter legte seiner Tochter den Arm um die Schultern.

„Ja, Kind. Lass uns gehen! Du hast nun Verantwortung und musst vieles regeln und ich werde deiner Mutter die freudige Botschaft bringen, dass du unverletzt bist.“