Der Unterhändler



Der folgende Tag begann mit Gewitter, obwohl doch Winter war und Weihnachten immer näher rückten. Gegen Vormittag wurde es so warm, dass Isabell auf den Mantel verzichtete, als sie zu Meleons Laden aufbrach.

Das Geschäft war voller Kunden.

Die Adventsverlosung hatte Meleons Schokoladen in der kleinen Stadt noch populärer gemacht. Er selbst musste wohl die ganze Nacht in der Küche gestanden haben, denn auf den Tabletts häuften sich frische Trüffel, Quittenbrot, Baiserküsschen und andere Köstlichkeiten. Sie wurden jedoch auch in beängstigender Geschwindigkeit in Tüten verpackt und über die Theke gereicht. Die Kasse ratterte. Meleon musste Geld abschöpfen und in eine große Dose unter der Theke füllen, sonst wären die Fächer der Geldlade übergequollen. Isabell wartete nicht, bis sie darum gebeten wurde, sondern packte mit an.

„Wo ist Niklas?“, fragte sie, während sie Gebäck abwog.

„In Geschäften unterwegs“, erwidert Meleon knapp. „Und du solltest gar nicht hier sein.“

„Mein Vater hat mich her begleitet.“

„Mag sein, aber wir bekommen nachher gleich unwillkommenen Besuch. Ich wüsste dich lieber daheim.“

„Unwillkommenen Besuch?“

Meleon nickte und band eine glänzende Satinschleife um einen Spankorb mit Fruchtkonfekt.

„Phineas“, sagte er. „Vorgeblich zu Verhandlungen.“

Er konnte nicht mehr erzählen, denn die alte Frau Wilhelm fragte ihn über die Zusammensetzung seiner Adventspastete aus. Gegen Mittag versiegte dann der Strom der Käufer und Meleon sank ungewohnt kraftlos auf einen Stuhl.

„Kannst du bitte abschließen?“, fragte er.

Isabell drehte den Schlüssel. Dann musterte sie Meleon.

„Was hast du? Du wirkst matt und blass. Ist es wegen Zamera?“

Meleon lachte böse.

„Ihr Tod geht mir nahe, ja. Aber er raubt mir nicht die Kraft. Es ist etwas anderes. Noshar muss mich schlimmer getroffen haben als mir bewusst war. Sie kesseln uns ein, legen noch einmal Verhandlungen nach und beobachten dabei nur, wie schlecht es mir schon geht, um schließlich zum letzten Schlag gegen uns auszuholen.“

Sie legte die Hände unter sein Kinn und hob seinen Kopf an.

„Meleon! Was ist das? Ich sehe deine Adern durchschimmern. Blaue Adern!“

„Nachresa“, sagte er. „Ein Blutzauber. Er raubt dem Körper den Atem und du erstickst innerlich.“

„Das sind also die Mittel der angeblich Guten?“, fragte Isabell.

„Es sind Noshars Mittel.“ Er stand auf. „Du musst mich aber nicht so besorgt anstarren. Ich bin kein hilfloses Opfer, sondern selbst ein Magier. Mein Leben ist nicht in Gefahr. Nur müde bin ich. Schrecklich müde! Kannst du uns Kaffee machen?“

Am Küchentisch wäre er dann beinahe eingeschlafen.

Erst der Kaffee brachte wieder ein wenig Glanz in seine Augen.

„Hat Phineas nicht Angst, herzukommen?“, fragte Isabell. „Oder wird er seine Unterhandlungsvorschläge von draußen herein brüllen?“

„Ein Unterhändler ist sicher, wenn er mein Haus aufsucht und das weiß Phineas. Was mir an der Sache besonders missfällt, ist die Tatsache, dass die Fisary offenbar in Erfahrung gebracht haben, wer hier ist.“

„Der König?“

Meleon nickte.

„Der König“, sagte er müde.

„Du kannst Phineas unmöglich in diesem Zustand gegenübertreten. Kann niemand anderer mit ihm reden?“

„Ich muss dabei sein“, sagte Meleon. „Bitte sei so lieb, und mach mir eine heiße Schokolade mit Zimt, Kardamom, Pfeffer, wenig Zucker und einem Schuss Armagnac. Das wird mich wieder auf die Beine bringen.“

Isabell brauchte für derlei Kleinigkeiten keine Anleitung mehr und servierte die Schokolade binnen weniger Minuten heiß und schäumend, gekrönt von einer Haube aus gesüßtem Eischnee. Meleon trank, wärmte die Hände an der hohen Tasse und richtete sich schließlich auf.

„Dann wollen wir also“, sagte er.


Phineas kam durch die Hintertür, wie jemand, der nichts und niemanden zu fürchten hat. In der Brusttasche seines tadellosen Anzugs steckte ein weißes Taschentuch.

Meleon bewegte die flache Hand vor ihm auf und ab, wie um etwas festzustellen. Dann sagte er: „Du kannst mit hinaufkommen.“

Im Schlafzimmer war der royale Prunk verschwunden. Der König saß ohne seine Kabinettsmitglieder an einem Tisch, der mit seinen Brandstellen geradezu armselig wirkte.

Phineas blieb drei Schritte vor der Tischkante stehen. Einen Augenblick lang schien er versucht, sich zu verneigen, straffte sich sichtlich, nahm die Schultern zurück und sagte: „Nevlean amôdecor no minya!“

Isabell war so sehr daran gewöhnt, dass sich die Exilanten in Deutsch unterhielten, dass sie nicht damit gerechnet hatte, aus dem Gespräch ausgeschlossen zu sein. Sie sah nur, wie der König sich erhob. Die Antwort fiel ebenso heftig wie unverständlich aus. Meleon hatte die Arme verschränkt und stand wie eine Statue. Phineas sah sich zu ihm um.

„Nyserilas minyor?“

Meleon zuckte die Achseln. Der König, wenig gelassener als sein Magier, kam um den Tisch herum und stierte wütend zu Phineas hinauf.

„Nochgôra, fâ!“

„Fisary liha!“

Meleon streckte einen Arm aus. Der Schlag des Königs ging ins Leere, als habe sich ein unsichtbares Kissen zwischen ihn und Phineas geschoben.

Phineas schien willens, den Schlag zu erwidern, doch er wusste die Barriere ebenso wenig zu durchdringen. Er richtete sich noch mehr auf, was ihm erlaubte, von oben auf den klein gewachsenen König herab zu sehen.

„Fisary kohorá!“, rief er, drehte sich um und stürmte die Treppe hinunter.

Meleon löste sich aus seiner starren Haltung.

„So kurz können Verhandlungen ausfallen“, sagte er spöttisch.

Der König überschüttete ihn daraufhin mit einem Schwall von Klagen und Vorwürfen, aber Meleon ließ ihn schnöde stehen, um sich zu überzeugen, dass Phineas das Haus verlassen hatte.

Der König sank auf den Stuhl zurück.

„Dreist sind sie“, sagte er zu Isabell. „Wie Ratten, die genau wissen, dass man ihrer nicht mehr Herr wird.“

„Was wollte er?“

„Meine Abdankung“, sagte der König. Er war weiß im Gesicht, weshalb ihm Isabell eine Schokolade zubereitete. Er trank sie wie Medizin. „Wir werden sie vernichten!“, sagte er, mehr zu sich selbst. „Wir werden sie kriegen und dann jeden einzelnen pfählen, vierteilen und rädern. In dieser Reihenfolge. Und Phineas werde ich in seinem eigenen Blut ersäufen lassen!“

Meleon kam die Treppen herauf wie ein Katze, lautlos, geschmeidig und wie bereit zum Sprung. Von seiner Müdigkeit war im Augenblick nichts zu bemerken.

„Hättet Ihr Phineas reden lassen, dann hätte er sich vielleicht ein wenig verplaudert. So war die Unterredung für beide Seiten nichts als Zeitverschwendung.“

„Ich rede nicht mit einem Aufrührer!“, zischte der König. „Und ich will, dass er seine Unverfrorenheit bitter bereut! Weshalb behext Ihr ihn nicht? Ihr schnippt doch sonst ständig mit den Fingern herum.“

Meleon seufzte.

„Ihr wisst, dass er gefeit wurde. Genau wie Euer Kabinett, was ich beinahe noch mehr bereue.“ Er bat Isabell, Platz zu nehmen und setzte sich dann dem König gegenüber. „Phineas ist nicht derjenige, der mir im Augenblick Sorgen bereitet“, sagte er. „Denn wir haben einen Verräter in unserer Mitte.“

Diese Eröffnung führte zu einer langen Unterredung, bei der Meleons Stimme immer sanfter wurde, während der König nur noch von Blut, Folter und Hinrichtungen herum brüllte. Meleon bat schließlich darum, sich zurückziehen zu dürfen, nahm Isabell an der Hand und verließ mit ihr das Schlafzimmer.

„So“, sagte er. „Und nun werden wir allein mit Phineas reden!“

„Ich dachte, er ist fort.“

„Ich habe ihn eingeholt, und gebeten, zu warten“, sagte Meleon. „Die Verhandlungsführung durch meinen Herrn und König war alles andere als geschickt und kann unseren Absichten nicht genügen.“


Phineas wurde ein weiteres Mal eingelassen, nahm nonchalant am Küchentisch Platz, und Meleon schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein.

„Komm nun also damit heraus, weshalb du eigentlich hier bist!“

Phineas runzelte leicht die Stirn.

„Eigentlich?“, fragte er gedehnt.

„Du bist nicht gekommen, um unseren Herrscher zu beleidigen. Welch nutzlose Verschwendung von Kraft und Atem! Was willst du, Phineas?“

Phineas sah sich um, senkte die Stimme und flüsterte:

„Du siehst doch selbst, dass die Zeiten des Königshauses vorüber sind. Warum hältst du ihm immer noch die Stange, Meleon? Du bist ein großer Magier und ein Mann von Einfluss. Wenn du dich von der Herrscherfamilie abwenden würdest…“

Meleon zuckte die Achseln.

„Das kann ich nicht.“

„Auch nicht, wenn man dir ein Hintertürchen öffnen würde? Eine Thronbesteigung der Prinzessin, Etablierung einer Demokratie mit gekröntem Staatsoberhaupt…“

„Du machst mir Angebote?“, fragte Meleon, offenbar belustigt.

„Genau das pflegt man bei Unterhandlungen zu tun“, erwiderte Phineas leise. „Und du könntest nach Halaîn zurückkehren…“

„Warum, Phineas? Weshalb bietest du mir eine Hand, wie zur Versöhnung? Habt ihr endlich gemerkt, mit wem ihr euch verbündet habt? Begreift ihr, dass Noshar niemals vorhatte, euch an der Herrschaft zu beteiligen? Dass unsere Heimat ein Reich des Noshar werden würde?“

Phineas senkte den Kopf, schielte nach beiden Seiten und murmelte: „Und was wäre, wenn?“

„Dann wäret ihr weiser als ich euch zutraue.“

„Meleon! Wir waren einmal Freunde…“

„Waren. Genau. Ehe du einem Mob meine Haustür geöffnet hattest. Einem Mob, der meine Frau ermordete, meine Kinder umbrachte und mich nur verschonte, weil man mit mir nicht gleichermaßen leicht fertig wurde.“

„Ich wusste es nicht, Meleon! Die Absprachen lauteten anders. Noshar hatte für das Leben deiner Familie garantiert…“

Meleon stand auf.

Phineas glitt vom Stuhl und schien auf einen Angriff gefasst.

„Dein Angebot!“, sagte Meleon.

Phineas sah zu Isabell.

„Asyl und Aufnahme in Hogadasy mitsamt deiner künftigen Frau. Konstituierung eines Oberhauses und eines Unterhauses. Inthronisierung der Prinzessin. Faire Prozesse gegen den König und seine Söhne…“

Meleon schnalzte.

„Du solltest wissen, dass ich solche Vorschläge nicht einmal mittragen könnte, wenn ich wollte.“

„Aber die Prinzessin wäre erbberechtigt…“

„Das hat der König nicht bestätigt. Und das alles weißt du, Phineas. Und daher wüsste ich zu gerne, weshalb du wirklich hier bist!“

Phineas sah ihm in die Augen.

„Um dich zu warnen. Wir stehen vor der Stadt. Die Fisary sind entschlossen, des Königs und seiner Söhne habhaft zu werden. Und deiner.“

„Weitere Morde, also?“, fragte Meleon ruhig.

Phineas senkte den Blick.

„Wir haben dir eigens ein Gefängnis gebaut“, sagte er. Dann verneigte er sich und verließ das Haus, wie er gekommen war.