Während das Einsatzkommando seit einer Stunde an der Raststätte auf Richard Kuklinskis Rückkehr wartete, saß Barbara Kuklinski in ihrem Wohnzimmer, hatte die Augen geschlossen und eine Hand auf die Stirn gepresst. Sie fühlte sich erbärmlich, hatte Kopfschmerzen und Fieber, spürte aber, dass es keine Grippe oder Erkältung war.

Das feuchtkalte Wetter hatte vermutlich ihre Arthritis wieder aufflackern lassen, und Fieber war gewöhnlich das erste Symptom. Sie hatte bereits einen Arzt angerufen und einen Termin ausgemacht, um ihre Vermutung durch eine Blutsenkung bestätigen zu lassen.

Sie öffnete die Augen und betrachtete den geschmückten Weihnachtsbaum mit den bunten Kugeln und den Girlanden aus Lametta, die trüb im grauen Morgenlicht schimmerten. Hoffentlich wurde sie nicht ausgerechnet an Weihnachten krank. Obwohl die Kinder jetzt schon älter waren, hatten sie noch immer solche Freude an diesen Tagen, und sie selbst liebte das Fest mehr als jedes andere.

Sie stand auf und ging zum Fenster. Draußen beugte sich Richard über den Kofferraum des Calais. Er lud gerade etwas ein, aber da die offene Klappe ihre Sicht blockierte, konnte sie nichts erkennen. Sie wunderte sich, dass er so unerwartet zurückgekommen war. Er hatte das Haus heute früh verlassen und wäre normalerweise wenigstens ein paar Stunden unterwegs gewesen.

Ganz überraschend hatte er sie aus der Stadt angerufen, um zu fragen, ob sie mit ihm zum Frühstück ausgehen wolle. Als sie ihm erzählte, wie schrecklich sie sich fühle und dass sie einen Termin beim Arzt habe, hatte er angeboten, statt dessen zu Hause für sie Frühstück zu machen. Er hatte aufgelegt, ehe sie etwas einwenden konnte. Wenn Richard eine Mahlzeit zubereitete, kochte er für eine ganze Armee, und die Küche danach säubern zu müssen, war jedesmal eine Heidenarbeit. Deshalb hatte sie es sich trotz ihres Zustandes anders überlegt und beschlossen, mit ihm zum Frühstücken auszugehen. So könnte sie anschließend direkt zum Arzt, und es war auf jeden Fall besser, als sich mit dem Schlachtfeld in der Küche herumzuplagen. Manchmal war es einfach leichter, seinen Wünschen wortlos nachzugeben. Sie zog die Gardine zur Seite, um besser zu sehen, konnte aber nur seinen Kopf hinter dem offenen Kofferraum erkennen. Was immer er dort machte, nahm ihn völlig in Anspruch. Seufzend schloss sie die Augen. Fragen würde sie ihm keine stellen. Sie war nicht in der Stimmung für einen Streit.

Nicht nur Barbara Kuklinski beobachtete ihren Ehemann, sondern auch die beiden Detectives Thomas Trainor und Denny Cortez von der New Jersey State Police. Sie hatten den Auftrag erhalten, an diesem Morgen das Haus der Kuklinskis in Dumont zu überwachen. Um 9.20 Uhr waren sie in einem Zivilfahrzeug in die Sunset Street eingebogen. Detective Trainor, der auf dem Beifahrersitz saß, sah nirgends eine Spur von Richard Kuklinski oder dem roten Oldsmobile Calais. Sie durchstreiften die Nachbarschaft, um nicht aufzufallen, und kehrten 25 Minuten später zurück. Diesmal erblickten sie Kuklinski, der in der Auffahrt stand und sich über den offenen Kofferraum des roten Oldsmobile beugte, mit dem er an diesem Morgen unterwegs gewesen war. Da sie nicht entdeckt werden wollten, umkreisten sie den Block und parkten in einiger Entfernung von seinem Haus. Trainor teilte über Funk dem Einsatzkommando auf der Vince-Lombardi-Raststätte mit, dass Kuklinski wieder zu Hause sei und sich am Kofferraum des roten Wagens zu schaffen mache, aber Näheres sei nicht zu erkennen.

Nach einer Meile Fahrt in nördlicher Richtung hatte Dominick auf einem Autobahnrastplatz geparkt. Er stand an einem Münztelefon, hatte den Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt, um sich die Hände in den Taschen zu wärmen, und redete mit Deputy Chief Buccino, der immer noch an der Raststätte wartete. »Wo zur Hölle steckt er bloß, Bobby?«

»Wissen wir noch nicht, Dom. Ich warte auf eine Meldung.«

Buccino hatte das Kommando bei diesem Unternehmen. Dominick wusste von früheren gemeinsamen Aktionen mit ihm, dass Bobby Buccino zu den Einsatzleitern gehörte, die sämtliche Zügel straff in der Hand hielten und aus vorderster Reihe eine solche Festnahme organisierten.

Mit 25 Dienstjahren auf dem Buckel war er bei diesen Gelegenheiten sachlich und knallhart. Sein Ziel für den heutigen Tag war eindeutig: den Verdächtigen verhaften und dafür sorgen, dass niemand verletzt wurde.

»Wo ist Paul?«, fragte Dominick.

»Er wartet an der Autobahn, dass es endlich losgeht. Genau wie wir.«

»Glaubst du, Richie weiß was?«

»Ich hab keine Ahnung«, entgegnete Buccino knapp. Seine Stimme klang angespannt.

Dominick versuchte, das Gefühl der Frustration zu unterdrücken. Immer wieder sagte er sich, dass es überhaupt kein Problem gab, sie würden Kuklinski auf jeden Fall später erwischen, ganz klar. Trotzdem machte er sich Sorgen. Kuklinski improvisierte, und das konnte nichts Gutes bedeuten. Sicher, sie hatten bereits jede Menge Beweise, die sie gegen ihn verwenden könnten: die Tonbänder, auf denen er über Morde mit Zyankali redete und über seine Absicht, den Verräter Percy House zu töten; den illegalen Waffenhandel zusammen mit ›Tim‹ und sein Geständnis, dass er eines seiner Opfer fast zwei Jahre lang als Experiment tiefgefroren auf Eis verwahrt hatte. Dazu besaßen sie die mit einem Schalldämpfer ausgestattete Pistole, die er Dominick verkauft hatte – Beweise, um diesen Kerl zu überführen. Also spielte es eigentlich keine Rolle, ob sie ihn in Aktion mit einem »vergifteten« Sandwich erwischten oder nicht. Dass sie nicht das große Finale bekamen, so wie sie es geplant hatten, war wirklich unwichtig. Was Dominick jedoch vor allem störte, war die Tatsache, dass niemand im Moment wusste, was Kuklinski vorhatte oder gerade trieb.

»Soll ich ihn nicht mal anrufen? Ich könnte vielleicht herausfinden, was schiefgelaufen ist, und versuchen, für morgen eine …«

»Glaubst du etwa, er fällt noch mal auf die Geschichte mit dem reichen Kokser rein? Wie willst du ihm die Terminänderung erklären? Das alles macht keinen Sinn und würde völlig unlogisch klingen.«

»Ja … du hast vermutlich recht.« Dominick steckte seine freie Hand unter die Achselhöhle. In dieser Kälte konnte man glatt erfrieren.

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er erinnerte sich an das Geld, von dem Kuklinski geredet und das er für Notzeiten ins Ausland geschafft hatte. Was war, wenn er sie wirklich durchschaut hätte? Er könnte in ein Flugzeug springen, in die Schweiz flüchten und mopsfidel von seinem Notgroschen leben.

»Bobby, hast du die Flughäfen überprüft?«

»Warte mal eine Minute, Dom.«

Er hörte weitere Stimmen am anderen Ende der Leitung, konnte aber nur verstehen, dass Buccino Kommandos erteilte und befahl, zuzuschlagen.

»Bobby! Bobby! Was ist los?«

»Kuklinski ist zu Hause. Trainor und Cortez haben ihn eben gesehen und es gerade durchgegeben. Wir schnappen ihn dort.«

»Was ist mit dem blauen Kleinbus? Hat er ihn bei sich?«

»Keine Ahnung. Ich muss jetzt los, Dom.«

»Okay, ich treffe euch am Haus …«

»Nein, du fährst zum Gericht in Hackensack und wartest auf uns.«

»Aber ich kann …«

»Nein«, befahl Buccino scharf. »Wie sieht das aus, wenn du bei Kuklinski auftauchst, obwohl du angeblich nicht weißt, wo er wohnt? Dann kapiert er sofort, dass was nicht stimmt, und ich will keine Schießerei mitten auf der Straße. Du bleibst weg.«

Er legte auf, und Dominick hörte nur noch das Freizeichen. Sicher hatte Buccino recht, aber trotzdem fühlte er sich irgendwie ausgeschlossen. Nach all der Zeit, die er in diese Sache investiert hatte, würde er den krönenden Abschluss verpassen. Es ging ihm nicht darum, den Triumph auszukosten, er bedauerte nur, dass er nicht den Ausdruck auf Richies Gesicht sehen würde, wenn er herausfand, dass ›Dominick Provenzano‹ in Wirklichkeit ein Bulle war. Es musste unbezahlbar sein. Leider würde er sich mit Erzählungen aus zweiter Hand begnügen müssen.

Er blies in seine eisigen Finger und ging zurück zum Shark. In einiger Entfernung konnte er auf dem Highway die blinkenden Lichter der Polizeiwagen sehen. Das Einsatzkommando raste gerade in Richtung Dumont davon. Er stieg ein und startete den Motor, während er sich fragte, wo Richie den blauen Lieferwagen versteckt hatte. Und warum war er nicht zurückgekommen? Was um alles in der Welt ging in seinem Kopf wohl vor sich?

Als er den Rückwärtsgang einlegte und aus der Parklücke fuhr, wurde ihm klar, dass all das im Grunde egal war, weil sie ihn in einer halben Stunde verhaftet haben würden. Wirklich jammerschade, dass er in diesem Moment nicht Richies Gesicht sehen konnte, und sei es nur versteckt aus dem Hintergrund. Niemand bräuchte es je zu erfahren, dass er dabei gewesen war. Es wäre eine Schande, die Festnahme zu verpassen, nach allem, was er bei dieser Ermittlung durchgemacht hatte. Eine verfluchte Schande …

 

 

 

 

Der Iceman - Die Jagd auf Amerikas brutalsten Killer
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