Barbara Kuklinski war unsicher und verwirrt, als Richard ihr die Tür offenhielt und sie das elegante Foyer des französischen Restaurants betrat. Obwohl es Abend war, hatte er seine dunkle Brille aufgesetzt, die er schon den ganzen Tag im Haus getragen hatte, was sie stets nervös machte. Davon abgesehen war er beinah festlich gekleidet in seinem dunkelblauen Anzug, einem weißen Hemd und einer kastanienbraunen Krawatte. Sie selbst trug das taubengraue Kostüm von Dior, das er ihr vor ein paar Monaten gekauft hatte. Er hatte sie ausdrücklich gebeten, es anzuziehen. Aus den Augenwinkeln sah Barbara, dass er seine Brille abnahm und in die Tasche steckte, während er dem Oberkellner zulächelte, der sie mit Namen begrüßte. Noch immer fühlte sie sich etwas befangen. Dieses französische Restaurant war ihr Lieblingslokal, hierher kamen sie stets, wenn sie etwas zu feiern hatten. Richard schien in bester Stimmung, aber die dunkle Brille hatte ihr Misstrauen geweckt. War es wirklich der gute Richard oder eine neue Verkörperung des bösen?

Der Oberkellner nickte ihm vertraulich zu und bedeutete ihnen, einen kleinen Moment zu warten. Dann drehte er sich um und winkte der Pianistin. Auf sein Zeichen begann sie eine neue Melodie. Barbara erkannte sie sofort – Kenny Rogers ›Lady‹. Als die Schallplatte damals populär geworden war, hatte Richard es zu ›ihrem Lied‹ erklärt, und wann immer er rundum zufrieden war, rief er vorher im Restaurant an und sorgte dafür, dass es bei ihrer Ankunft gespielt wurde.

»Danke, Richard«, sagte sie, als der Kellner sie zu ihrem Tisch führte.

Er lächelte. »Das war schon längst einmal wieder nötig.«

»Wirklich lieb von dir.«

»Wen habe ich sonst, zu dem ich lieb sein könnte?«

Lächelnd drückte sie seine Hand. Doch ein Rest ihres Misstrauens blieb.

An ihrem Tisch erkundigte sich der Ober, ob sie einen Aperitif bestellen wollten. Richard machte sich nichts aus Drinks, aber er trank gern Wein zum Essen. Barbara wusste bereits, was er wählen würde, noch ehe er die Karte in Augenschein nahm – einen guten Montrachet, ihren Lieblingsrotwein. Richard bestellte stets eine Flasche, und zwar immer eine, die weit mehr als einhundert Dollar kostete.

Der Ober kehrte mit dem Montrachet zurück und zeigte ihm das Etikett. Auf sein zustimmendes Nicken entkorkte er den Wein und schenkte ihm etwas ins Glas. Richard nahm einen Schluck, senkte den Kopf, überlegte einen Moment und sagte, er sei ausgezeichnet. Der Kellner füllte zuerst Barbaras Glas, dann schenkte er Richard ein und verschwand, damit sie sich in Ruhe der Speisekarte widmen konnten.

Barbara zwang sich, nicht verstohlen zu ihm hinüber zu spähen. Sie war noch immer nicht ganz überzeugt, dass es wirklich der gute Richard war, der ihr gegenübersaß. Außerdem wusste sie aus Erfahrung, dass alles Mögliche seine Stimmung im Handumdrehen ändern konnte, obwohl sie in der Öffentlichkeit üblicherweise sicher war. Meistens hob er sich seine Ausbrüche auf, bis sie hinter verschlossenen Türen waren. Allerdings nicht immer. Sie dachte daran, wie sie einmal zu Hause gewagt hatte, ihn zurechtzuweisen. Damals hatte er nicht erst lange gebrütet, sondern war sofort explodiert.

Barbaras Vater hatte sich an diesem Morgen in Florida einer Operation unterziehen sollen, und sie wartete ängstlich auf eine Nachricht. Sie waren gerade erst aufgewacht, als der Anruf kam. Barbara nahm das Gespräch in ihrem Schlafzimmer an. Mit Erleichterung hörte sie, dass die Operation erfolgreich verlaufen war und es ihrem Vater gut ging. In diesem Moment kam Richard in Unterwäsche aus dem Bad.

»Na, ist der Bastard tot?«, fragte er mit einem Grinsen.

Betroffen von der sinnlosen Grausamkeit seiner Bemerkung fuhr sie ihn an. »Das war nicht nötig.«

Seine Miene verhärtete sich, und in seine Augen trat ein Ausdruck, den sie nur zu gut kannte. Dieser Blick versetzte sie jedesmal in Angst. Seine Lider zuckten, und die Pupillen verengten sich für einen Sekundenbruchteil genau wie bei einem Hai, kurz bevor er zubeißt.

Panik stieg in ihr auf. Sie wollte schnell zur Tür hinausgehen, aber er war mit einem Satz bei ihr.

»Du hast mir nicht zu widersprechen«, brüllte er. »Kapiert? Mir nicht.«

Sie riss sich von ihm los und rannte wie ein Wild, das von einem Grizzlybären gejagt wird, die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und durch den Flur. Obwohl sie nur Hausschuhe und den Bademantel trug, zögerte sie keine Sekunde, die Eingangstür aufzureißen und nach draußen zu laufen in der Hoffnung, dort vor ihm sicher zu sein. In der Öffentlichkeit ließ er es nie zu Wutausbrüchen kommen. Atemlos stand sie auf dem schneebedeckten Bürgersteig, zog ihren Bademantel fester um sich und hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis er sich beruhigt hatte und sie wieder hineingehen konnte.

Erschrocken schaute sie auf, als das elektrisch betriebene Garagentor sich öffnete und der rote Calais mit brüllendem Motor herausschoss, dass die Reifen quietschten. Richard saß hinter dem Steuer und bellte aus dem offenen Fenster: »Mir widersprichst du nicht!«

Barbara sah, dass er vor Wut außer sich war.

Sie begann zu laufen. Der Wagen kam immer näher. Er lenkte auf den Bürgersteig und schien offenbar entschlossen, sie zu überfahren.

Sie rannte zum Garten des nächsten Nachbarn, rutschte auf dem Schnee aus, rappelte sich wieder hoch und hastete weiter. Der große Baum dort war das Einzige, was ihr möglicherweise etwas Schutz bieten konnte.

Noch einmal stürzte sie, kurz bevor sie den Baum erreichte, kroch um den Stamm herum auf die andere Seite und umklammerte ihn so fest, dass sie kaum atmen konnte.

Als sie es endlich wagte, nach ihm zu schauen, sah Barbara, dass der Wagen schräg auf dem schneebedeckten Rasen vor dem Haus stand. Der Motor lief noch, und Richard saß hinter dem Lenkrad, aber er hatte die Verfolgung aufgegeben. Mit der geballten Faust hämmerte er sich wieder und wieder gegen den Kopf. Das machte er stets, wenn er frustriert war und seinem Zorn nicht auf andere Art Luft verschaffen konnte. Wenn er niemand anderen schlagen konnte, schlug er sich selbst.

Bei der Erinnerung an diesen schrecklichen Wintertag spürte Barbara, wie ihr Herz schneller klopfte. Hastig schaute sie auf die Speisekarte, da sie fürchtete, er würde am Ende ihre Gedanken erraten.

»Weißt du schon, was du bestellst, Rich?«

»Hm?« Richard hatte seine Karte sinken lassen und schien irgendetwas im Hintergrund des Restaurants zu fixieren.

Barbara drehte sich um und sah zwei Paare an einem Tisch. Einer der Männer erzählte gestenreich eine Geschichte, und die anderen brüllten vor Lachen. Er war stämmig, hatte ein fülliges rechteckiges Gesicht und dünnes, nach hinten gekämmtes dunkles Haar. Seine juwelenbesetzten Manschettenknöpfe glitzerten, während er mit den Händen fuchtelte. Die Frauen waren beträchtlich jünger als ihre Begleiter und machten den Eindruck von Callgirls der Luxusklasse. Die beiden Männer wirkten wie ausgesprochene Gauner.

Richard starrte mit mürrisch verzerrtem Gesicht auf den Mann, der das Wort führte.

Barbara konnte nicht verstehen, warum der Anblick dieses Fremden ihn in eine solch finstere Stimmung versetzte. Ihr Herz begann zu hämmern.

Richard Kuklinski berührte langsam die Narbe an seiner Stirn.

Sie überlegte, ob sie diesen Gast schon einmal irgendwo gesehen hatte. Nein, bestimmt nicht, dachte sie verwirrt.

Plötzlich riss er seinen Blick los und wandte sich wieder zu ihr. »Dieser Kerl erinnert mich irgendwie an Roy.«

Barbara schluckte schwer und hoffte inständig, dass er nicht hier mitten im Restaurant ausrastete.

 

 

 

 

Der Iceman - Die Jagd auf Amerikas brutalsten Killer
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